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anne_hahn

Posted on 4.7.2021

Im ersten Halbjahr 2021 ist ein Roman erschienen, welcher aus Notizen besteht, die zwischen dem 14. April 1945 und dem 26. April 1945 datiert sind. Das schwarze Hardcover-Buch zeigt ein großes E über dem Titel ODER DIE INSEL. Im Buchstaben E ist eine Brücke zu erkennen, ein Fluss, eine Burg - und im Vordergrund Gebüsch. Die Seiten sind weit in die Ränder hinein bedruckt, in kurz gehaltenen Absätzen, manche halbseitig leer. Sätze über einen Ist-Zustand wie hingekritzelt, Bleistiftnotizen eines Verzweifelten. Ein Mann sitzt auf einer Insel mitten in einem Fluss, eine Eisenbahnstunde von Leipzig entfernt. Im Pfarrhaus gegenüber hat er mit Marie und den drei Kindern gelebt, seit sie ausgebombt wurden in Leipzig, darüber räsoniert der Ich-Erzähler, verharrend in einem Niemandsland zwischen Krieg und Zusammenbruch (ausführliche Inhaltsangabe des Romans hier). Der Autor des Buches (1981 in einem sächsischen Dorf geboren) wählte den Namen Francis Nenik, veröffentlichte bereits mehrere Bücher und Artikel, die sich mit historischen Themen, Überschreibungen und Urkunden beschäftigen, tief in die Geschichte zurückgehen. E oder die Insel ist ein Roman, der sich behutsam entblättert, der uns einnimmt, eine Perspektive entwickelt und uns mit dem Protagonisten vor die Scherben seines Handelns führt. Für Einsicht ist es zu früh. Die nationalsozialistischen (und wie hier vermittelt, bis dahin weltweiten) Bemühungen um eine Rassenhygiene, eine Eugenik im Sinne der Erbgutverbesserung und Erlösung unwerten Lebens werden uns durch die Augen des Eremiten auf seiner Insel vorgeführt. Die Sprache Francis Neniks ist hochkonzentriert und lyrisch - zu Recht erhält der Autor den diesjährigen Anna-Seghers-Preis für dieses Buch - das Beste des deutschsprachigen Raums, was mir 2021 in die Finger geriet!

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