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gwyn

Posted on 3.5.2021

«Er hat ein Verständnis für mich. Ich weiß was er denkt, was jeder denken würde – dass ich ihn verteidige und dadurch weiteren Missbrauch ermögliche –, aber ich nehme hier nicht nur Strane in Schutz, sondern auch mich selbst. Denn obwohl ich mitunter den Begriff ‹Missbrauch› verwende, um gewisse Dinge zu beschreiben, die mit mir angestellt wurden, nimmt das Wort, wenn es ein anderer ausspricht, einen so hässlichen, absoluten Klang an. Es schluckt alles, was geschehen ist. Schluckt mich und die vielen Gelegenheiten, als ich es selbst wollte, darum gebettelt habe.» Vanessa, heute über 30 Jahre alt, erinnert sich: Mit 15 kehrt sie im zweiten Jahr ins Internat zurück, doch mit ihrer besten Freundin und Zimmergenossin hat sie sich zerstritten und freut sich nun auf ihr Einzelzimmer. Sie ist eine Einzelgängerin, hat keine Freunde, und sie liebt Literatur. Ihr neuer Englischlehrer, Jacob Strane, schenkt ihr Aufmerksamkeit. Er lobt ihren Fleiß, ihre Arbeiten und sogar ihr hübsches Kleid. Ein kurzer Griff auf ihr nacktes Knie, Blicke, schöne Worte, er gibt ihr erotische Bücher zu lesen, wie Lolita. Auf einem Fest sagt er ihr draußen unter den Bäumen, dass er sie gern küssen würde, aber nicht darf, dass er noch nie so fasziniert war von einer Frau wie von ihr. Der Lehrer, 27 Jahre älter, hat sie am Haken. Er lässt sie glauben, dass sie ihn verführt. Es entwickelt sich ein sexuelles Verhältnis, von dem Vanessa annimmt, es wäre Liebe. Vor jeder Handlung fragt Strane: Darf ich das? Natürlich darf er, so rücksichtsvoll, wie er immer fragt – so, wie es sein soll. Letztendlich macht Strane mit Vanessa, was er will, und ihr macht des Sex keinen Spaß. Ständig macht er Fotos von der nackten Vanessa. Sie merkt nicht, dass diesem Sex die Zärtlichkeit fehlt, die innige Verbindung zwischen zwei Menschen. Und genau das wird später ihr Problem sein: Sie ist nicht beziehungsfähig. Liebe und Sexualität werden verwechselt, weil sie lernte, dass sexuelles Verhalten belohnt wird. So wird bei Missbrauchten im Erwachsenenalter Sexualität als Mittel eingesetzt, um Zärtlichkeit und Zuwendung zu bekommen. Und Vanessa hängt zusätzlich immer noch an den Fäden von Jacob Strane, der sie zu einer Marionette machte. «Wer es selbst will, kann nicht vergewaltigt werden, oder?» Missbrauch mit Abhängigen, Verführung Minderjähriger ... Alles geschieht mit ihrem Einverständnis, so glauben die Jugendlichen. Sie sind die Verführer, sie sind schuld; und sie sind einzigartig, sie sind das Juwel des Verführers, so wird ihnen suggeriert. 17 Jahre später, ein Mädchen namens Taylor nimmt mit Vanessa Kontakt auf und bittet sie um Beistand. Auch sie ist ein Opfer von Jacob Strane und sie hat den Missbrauch erkannt, die Sache öffentlich gemacht. Strane ist zunächst suspendiert. Vanessa telefoniert mit ihm, sie treffen sich und sie verspricht, ihr gemeinsames Geheimnis zu hüten. Die ganze Zeit stand sie mit ihm in Verbindung, sie führten ihre Beziehung über Jahre weiter. Je älter sie wurde, um so weniger Interesse hatte Jacob an ihr. Gleichwohl sie springt wie ein Hündchen, wenn er pfeift. Sie ist seine einzige Liebe! Mit Taylor war nicht wirklich etwas, nur Harmloses, sagt er. Taylor versucht weiter, zu Vanessa Kontakt zu bekommen, doch die blockt ab, genauso eine Journalistin, die sie kontaktiert. Jacob hat sie nicht verführt, alles lief mit ihrem Einverständnis – sie war diejenige, die diese Beziehung wollte. Sie kann ihn nicht ausliefern, verraten. «Das sind echte Raubtiere. Mit einem Gespür dafür, welches Tier der Herde am schwächsten ist.» Dieser Roman ist wichtig, denn er zeigt auf, wie Jugendliche manipuliert werden und missbraucht. Menschen wie Jacob Strane haben einen Jagdinstinkt. Sie suchen ihre Opfer sorgsam aus. Vanessa wohnt im Einzelzimmer, in einem Haus auf dem Campus, das ihr die Möglichkeit gibt, nachts unerkannt zu entwischen. Sie hat keine Freundinnen, keinen Freund. Sie ist bereits isoliert und darum wird sie nichts verraten, stolz sein auf das Geheimnis zwischen Strane und ihr. Er suggeriert ihr sogar, dass sie Macht über ihn besäße, weil sie die Einzige sei, die er liebe, sie es in Hand habe, ob sie beide in den Abgrund stürzen oder nicht. Sie könne ihn vernichten. Und als der Verdacht aufkommt, es laufe etwas zwischen ihnen, nimmt sie es auf sich, vor versammelter Lehrer- und Schülerschaft zu sagen, sie habe gelogen. Sie muss die Schule verlassen, das Opfer wird abermals zum Opfer gemacht. Doch die Liebschaft geht weiter, über Jahre ... er hat sie in der Hand, lässt das Band nie zerreißen. Immer wieder wird Vanessa von Taylor und der Journalistin kontaktiert. Die Icherzählerin weigert sich hartnäckig, Strane zu belasten, auch als immer mehr Mädchen sich melden, die von ihm missbraucht wurden. Die Icherzählerin wechselt zwischen dem Jetzt und ihren Gedanken an die Jahre zurück. Sie wollte die Beziehung. Sie hat ihn verführt. War es wirklich so?, fragt sie sich. Waren da noch andere? Was lief mit denen, hat er ihnen das Gleiche erzählt? Oder ist sie wahrhaftig seine einzige Liebe? Wenn Sie gegen Stane aussagen würde, müsste sie offen erzählen, was damals geschah. Auch dazu ist sie nicht bereit. Der Roman greift die Rolle des Opfers auf. Die Beute, die sich selbst als Jäger sieht, erst langsam versteht, dass es sich umgekehrt verhält. Stück für Stück erkennt Vanessa, was diese Beziehung aus ihr gemacht hat. Eine Art vom Missbrauch, über den wenig Literatur existiert. Und es ist wichtig, dass Kate Elizabeth Russell dem eine Stimme gibt. Literarisch ist das kein großer Wurf – doch anständig geschrieben. Die Story hat einige Längen, verknappt wäre die Wirkung sicher noch eindringlicher gewesen. Aber summa summarum ist diese ein lesenswertes Buch, das ein bedeutsames Thema aufnimmt. Solange die Opfer schweigen, hat die Schulbehörde keine Handhabe – und wenn sie reden, werden sie oft ein weiteres Mal zum Opfer gemacht, weil man sie der Lüge bezichtigt. Der liebende Lehrer wird seinen Moralstandpunkt, ihm nicht seine Karriere zu zerstören, gegen das Opfer einsetzen, es psychisch unter Druck setzen – so zumindest sieht meist die Realität aus. Es gilt leider heute noch als Kavaliersdelikt in der Lehrerschaft, auch hier wird das Opfer kaum Unterstützung finden, das ja als Schutzbefohlene gilt. Kate Elizabeth Russell wurde in Maine geboren und hat an der University of Kansas promoviert. Sie schreibt für verschiedene Magazine, und eine ihrer Erzählungen wurde für den renommierten Pushcart Preis nominiert. Ihr Debütroman «Meine dunkle Vanessa» stieg direkt nach Erscheinen in die Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste ein. Kate Elizabeth Russell lebt in Madison, Wisconsin.

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