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Buchdoktor

Posted on 22.3.2021

Alec MacGillis Aufruf zum Innehalten ist sehr viel mehr als die Kritik an einem Monopolisten, der gemeinsam mit drei weiteren Riesenkonzernen (Google, Facebook und Microsoft) in den letzten 10 Jahren die Weltherrschaft übernommen zu haben scheint. Der Autor verbindet Einzelschicksale, die wohl kaum einen Leser unberührt lassen werden, mit der Wirtschafts-und Sozialgeschichte ausgewählter Regionen, in denen der Amazon-Konzern sich niedergelassen hat und einer kritischen, höchst aktuellen Bestandsaufnahme, wie die Corona-Pandemie die Macht der vier Konzerne weiter gefestigt hat. Wie der Niedergang der amerikanischen Provinz, der Aufstieg weniger wohlhabender Speckgürtel, der boomende Onlinehandel und das Zerbrechen des Landes in Arm und Reich sich in den letzten 10 Jahren weiter vertiefen konnte, das sind komplexe Zusammenhänge, die der amerikanische Journalist äußerst spannend schildert. Am Beispiel der Region Seattle zeigt McGillis zunächst, wie in der Folge von Strukturwandel ganze Regionen kippten, weil in wenigen Metropolen Fachkräfte in großer Zahl auf den Wohnungsmarkt drängten, in der Folge Miet- und Grundstückspreise sich in schwindelnde Höhen schraubten und sich normale Arbeitnehmer die Mieten nicht mehr leisten konnten. Im Gegensatz zur häufig vertretenen Annahme, dass Wirtschaftswachstum der gesamten Bevölkerung nützt, zeigt MacGillis, das hochqualifizierte Jobs selten weitere gut bezahlte Jobs generieren, sondern zumeist unsichere Jobs im Niedriglohnsektor, die kaum für den Lebensunterhalt ausreichen. Hoch interessant fand ich die Wirtschaftsgeschichte Baltimores, wo der Niedergang der Stahlindustrie dem Amazon-Konzern praktisch den Weg bereitete, auf den Trümmern eines ganzen Stadtteils ein gigantisches Logistikzentrum zu errichten. Hochinteressant deshalb, weil ich mich angesichts dramatischer Einzelschicksale fragte, wie es die amerikanische Nation eigentlich mit dem Respekt vor ihren Stahlwerkern und Soldaten hält, deren Berufskrankheiten und traumatische Kriegserlebnisse samt dafür zu bezahlenden Arztrechnungen offenbar zum privaten Risiko erklärt wurden. Auf Managerebene von Beth Steel konnten kurz vor dem Bankrott noch flink fette Gewinne gebunkert werden, während die Arbeiter ihre sauer verdiente Altersversorgung einbüßten und die Umweltschäden der Allgemeinheit überlassen blieben. Ein weiteres eindringliches Beispiel bringt MacGillis mit einer Entscheidung für die Region El Paso. Hier zeigten sich die politisch Verantwortlichen unfähig zu erkennen, dass es bei der Materialbeschaffung für Schulen und Behörden nicht zuerst um den Preis geht, sondern Groß- und Einzelhandel über Fachkenntnisse verfügen, die mit dem Sterben des lokalen Handels für immer verloren sind. An anderer Stelle vermittelt MacGillis ebenso eindringlich, wie der Niedergang des Einzelhandels in der amerikanischen Provinz zum Zeitungssterben (durch fehlende Anzeigenkunden) und weiter direkt zur Wahl Donald Trumps führte, weil die auf Washington zentrierte Berichterstattung offenbar ein schiefes Bild erzeugte. Hochaktuell (mit Hinweis auf Stellungnahmen von Khan 2017 und Mitchell 2020) weist MacGillis nach, wie die amerikanische Kartellbehörde versagte, indem sie sich allein auf das Thema Preisabsprachen konzentrierte und die gesellschaftlichen Auswirkungen von Megakonzernen ignorierte. Im Jahr, das auf den Ausbruch der Corona-Pandemie folgt, wirkt seine Darstellung des „Winner-Takes-All“-Effekts auf ausgewählte Personen natürlich besonders makaber. Berechtigte Kritik an Amazons Monopolstellung, die der Autor überzeugend begründet, sollte nicht aus dem Blick verlieren, dass erst die Überzeugung, der freie Markt würde es schon richten, dem rücksichtslosen Raubtierkapitalismus die Loipe spurte, der er nur zu folgen brauchte. Nicht glücklich bin ich mit dem deutschen Titel des Buches, der der Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Fulfillment“ nicht gerecht wird und m. A. die psychologische Seite der Macht des Olinehandels außeracht lässt. Meine Erwartungen an amerikanische Sachbuchautoren ist eher gering, weil mir bei ihnen oft der Blick über den nationalen Tellerrand fehlt. Alec MacGillis hat mich positiv überrascht, weil seine Dramaturgie aus Einzelschicksalen, Wirtschaftsgeschichte und sein Bogen in die unmittelbare Gegenwart sich ausgesprochen spannend wegliest.

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