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Buchdoktor

Posted on 9.1.2021

Adriaan van Dis‘ Mutter hat niemals etwas aus ihrem Leben erzählt. Ihre Erinnerungen lagerten in einer Truhe, die sie als einzigen Besitz aus dem Übergangsheim für Repatriierte in die eigene Wohnung brachte und deren Schlüssel sie stets an einer Kette um den Hals trug. Obwohl ihre Kräfte sie allmählich verlassen, verschließt und verbirgt sie noch immer jedes Stück Papier, als wollte sie ihrem Sohn etwas verheimlichen. Nun ist die körperlich hinfällige alte Dame fast 100 Jahre alt und ihrem Sohn fällt es zusehends schwerer, sie in ihrer Altenwohnung zu betreuen. Das Verhältnis zu seiner Mutter war stets ein Kampf, der längst nicht zu Ende ist; denn noch hält sie alle Schlüssel in der Hand. Gesprochen wurde in der Familie nicht über die Kindheit der drei älteren Halbschwestern in Indonesien und nicht über die psychische Krankheit von Adrians leiblichem Vater, der in japanischer Gefangenschaft Furchtbares mitgemacht haben musste. Wegen dieses Wahnsinns in der Familie war der Autor Jahre in Psychotherapie. Van Dis‘ Mutter will ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende bereiten und trotzt ihm das Versprechen ab, dass sie nur um den Preis von früher erzählt, dass ihr Sohn ihr zum Tod verhilft. Zum Ende ihres Lebens kehrt lange Verdrängtes wieder zurück. Sie spricht wieder Malaysisch, telefoniert, erzählt ihre Schwebegeschichten, bei denen die Gedanken in alle Richtungen schweben. Aus Fragmenten kann der Sohn die Familiengeschichte zusammenfügen von der Landpomeranze, die sich in den Niederlanden in einen schneidigen Indonesier verliebt und ihm ans andere Ende der Welt folgt. Er erfährt von den Zumutungen des Tropenklimas, vom Alleinsein als Frau in einer reinen Männerwelt und der Internierung selbst der Frauen durch die Japaner. Der Kampf mit den Erinnerungen führt auch zur Versöhnung mit der Scham des Sohns über seine verrückte Mutter, die seiner ersten Freundin ihr Schicksal aus der Hand las, während er sich dafür in Grund und Boden schämte. Am Ende taucht der Brief eines befreundeten deutschen Arztes auf, der aus dem Lager-Lazarett beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn berichtet. Für van Dis kann dieses Zeitzeugnis das letzte Tüpfelchen zum Verständnis gewesen sein, warum seine Mutter ihr Leben lang unter allen Umständen hartnäckig ihre Gefühle verbergen musste – auch gegenüber ihren Kindern. Adriaan van Dis veröffentlicht die beeindruckende Geschichte seiner Mutter als Roman, dessen biografischer Anteil deutlich zu erkennen ist.

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