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gwyn

Posted on 6.1.2021

«In diesem Buch will ich aus meinem Leben als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche berichten. Es sind Geschichten, die anschaulich machen, an welchen Störungen Kinder erkranken können und wie Eltern an ihnen teilhaben können. Sie lassen aber auch deutlich werden, wie verschlungen und wie tragisch menschliche Schicksale mitunter sind.» Leider konnte ich mit diesem Buch nicht viel anfangen. Der Titel ist reißerisch und wird dem Inhalt nicht gerecht. Mit Abgründen hat das Buch rein gar nichts zu tun, es handelt sich um durchschnittliche Fälle, meist aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich hätte aus meiner Berufspraxis der Sozialarbeit echte Abgründe aus diesem Bereich zu bieten. Zu meiner Entschuldigung muss ich gestehen, dass ich den Freudianern ganz allgemein kritisch gegenüberstehe, die alles sexualisieren, und von der Traumdeutung halte ich wenig, halte beides für abstrus. Für mich ist es eine Simpel-Konstruktion, die die Psyche in ein «Es», ein «Ich» und ein «Überich» einzuteilen, um die komplexen Vorgänge im Gehirn zu erklären. Traumforscher konnten bei Experimenten in ausgeklügelten Schlaflaboren keine Beweise für die psychoanalytische Annahme finden. «Gleichzeitig möchte ich ein Loblied auf die heutzutage vielgeschmähte Psychoanalyse singen, die nicht nur Grundlage meines therapeutischen Handelns ist. Sie ist zu einem Teil meines Lebens und meiner Seele geworden.» Es beginnt mit einer Geschichte, in der Hopf spät abends zu einem Sterbenden gerufen wird, den Besuch aber auf den nächsten Morgen verschiebt. Ein ehemaliger Patient möchte seinen Psychotherapeuten ein letztes Mal sehen. Bei Ankunft sieht er vor dem Haus Blaulicht, ein Sarg wird herausgetragen. Hopf bekommt ein schlechtes Gewissen. Doch es ist die Ehefrau, die plötzlich verstorbenen ist, mit der er telefonierte, gesund bis zum Tod. Sie konnte beruhigt gehen, weil sie den letzten Wunsch ihres Mannes erfüllt hat, sagt Hopf, der mit ihm sprechen konnte, kurz bevor auch dieser verstarb. Hier geht es um das Phänomen, dass lang verheiratete Paare in kurzen Abständen voneinander die Welt verlassen. Hopf war Zeuge einer «Liebes- und Lebensbeziehung», sagt er, beide Partner waren frei, nachdem die Frau den Wunsch des Mannes erfüllt hatte – sie konnte nun beruhigt gehen. Das ist Hopfs Quintessenz … Im zweiten Kapitel geht es um Migration. Ein türkisches Mädchen, weigert sich, weiterhin bei den Eltern zu wohnen, weil es sich nicht den traditionellen Werten anpassen möchte. Auch nichts Spektakuläres – täglich Brot der Sozialarbeit. Das Sachbuch ist gut verständlich für Laien geschrieben, mir persönlich zu allerdings zu verallgemeinernd. Am Ende finden wir kurze Geschichten, wie Täter zu Opfern werden, für mich zu kurz gehalten, nicht sehr differenziert, zu pauschal. Hierüber gibt es weitaus bessere Literatur. Nein, ich hatte keine voyeuristische Abhandlung erwartet, aber doch interessante Fälle, nicht den allgemeinen Alltag der Psychoanalyse und Traumdeutung. Letztere halte ich persönlich für meist unseriös. Mein Problem mit den Freudianern ist, dass sie immer alles auf die kindliche Sexualität fokussieren. In «Mein Zimmer gehört mir!» wird erklärt, dass Mädchen in der Pubertät ihr Zimmer mit ihrer Vagina gleich setzen – hier darf niemand rein. Aha? Ich frage mich, was ist denn mit den Jungen – die in dieser Phase ebenso auf Privatsphäre pochen? «Es entwickelte sich ein Bild, wie ich es von vielen Jungen kannte, die vaterlos aufgewachsen waren. Harry versuchte sich während des Gesprächs übertrieben großartig darzustellen: Er musste seine Männlichkeit immerzu, wahrscheinlich nicht nur mit Worten, sondern auch in Taten überbetonen, fachlich wird das ‹hyperphallisch› genannt. Er beschrieb eine Jugend zwischen überheblicher Grandiosität und Orientierungslosigkeit.» Es geht in dem Band auch oft um toxische Mutterverbindungen und Vaterentbehrung, was bei Kindern psychische Störungen verursacht. Da geht einem wirklich der Hut hoch! Wahrscheinlich allen alleinerziehenden Eltern. Und immer ist die Frau Schuld! Männer ziehen sich aus der Familie heraus und verlassen sie, weil Frau und Kind in Symbiose leben? Die alleinerziehenden Mütter sind auch für extrem aggressive Jungs verantwortlich? (siehe oben) «Ein Vater in der Familie verhindert beim Sohn irreale Vorstellungen von männlicher Größe und Überlegenheit. Er begrenzt die aggressiven Tendenzen und Fantasien, ein Gewissen bildet sich, das künftig Regeln und Gesetze beachtet.» Als Krönung kann ich den aggressiven Rocker bieten, der mit seinem Gehabe eine «Abwehr homosexueller Wünsche» zeigt. Und damit man Bescheid weiß, eine Regierung, die Alleinerziehende fördert, muss gleichzeitig vertuschen, wie wichtig Väter für die Entwicklung von Kindern sind. Der Ödipuskonflikt, klar doch. Freuds Trauma, vom Kindermädchen, nicht von der eigenen Mutter großgezogen. Vom Elektrakomplex nach C. G. Jung, die überstarke Bindung einer weiblichen Person an den Vater, wird nicht erwähnt. Klar, Freud hielt davon nichts, es gibt nur die Mutter-Sohn-Bindung, meinte er. Und klar, auch für Mädchen ist der Papa wichtig: Sie lernen, sich zu verlieben, «denn nur mithilfe des Vaters kann sich eine Tochter aus einer zu großen Nähe zur Mutter befreien». Welche Entwicklung Kinder machen, die brutalen Vätern ausgesetzt sind, wird nur kurz angerissen. Da ist das Mädchen, das mit der Mutter in toxischer Beziehung lebt, um «wieder eins zu sein mit ihrer Mutter», nachdem der gewalttätige Vater ausgezogen war. Der Psychotherapeut hat sich als «Dritter» dazwischen platziert. Auch wird von einer Mutter berichtet, die sich sexuell ihrem Sohn nähert, ihn missbraucht. Gibt es – aber viel häufiger sind es die männlichen Familienmitglieder, die sich Mädchen nähern! Nachtrag: Die Mutter ist Schuld, weil eben genau dieser Mann später seine Tochter missbraucht. Soll man lachen oder weinen, wenn man dieses Buch liest? Ich empfehle, es zu ignorieren. Ich war schockiert über die Abgründe – die des Psychotherapeuten. Mein Rat: Machen Sie einen Bogen um die doktrinäre psychoanalytische Theorie, die der heutigen Wissenschaft nicht standhält. Dr. rer. biol. hum. Hans Hopf ist analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut. Bis 1995 war er in eigener Praxis tätig, danach therapeutischer Leiter im Therapiezentrum „Osterhof“, Baiersbronn. Er ist Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart, Freiburg und Würzburg.

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