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Buchdoktor

Posted on 1.1.2021

Jens Thiele kritisiert die nur sporadische Wahrnehmung des Bilderbuchs ausschließlich durch die Literaturkritik wie auch Defizite im Bereich der Rezeptionsforschung. Die nostalgische Wahrnehmung von Kindheit durch erwachsene Buchkäufer und -vermittler führt laut Thiele (der Medienwissenschaftler ist selbst auch Illustrator) zu unbewiesenen Annahmen, was für Kinder geeignet sei und zu einer Vorauswahl von Büchern, die zu stark am Bekannten ausgerichtet sei. In einem Rückblick auf Illustrationen für Kinder in Büchern des 19. Jahrhunderts verknüpft Thiele die harmonisierende Darstellung eines idyllischen, kindlichen Lebensraums, wie ihn Erwachsene damals sehen wollten, und unsere Vorstellung vom schutzbedürftigen Kind der Gegenwart, auf das mit einem Bilderbuch erzieherischer Einfluss genommen werden soll. Nach einem Exkurs zu den politisch motivierten Bilderbuch-Illustrationen von Heartfield, Grosz und Nagel stellt Thiele mit Leo Lionnis "Das kleine Blau und das kleine Gelb" eine Ausnahmeerscheinung aus einer Zeit vor, in der avantgardistische Kunst von Verlegern und Kunstpädagogen nur zögernd vermittelt wurde. Die 60er Jahre sind nach Thiele durch die Abbildung absurder Gegenstände und filmischer Abläufe geprägt, die 70er mit dem "Anti-Struwwelpeter" von antiautoritären und emanzipatorischen Ideen. Bei Jörg Müller macht der Autor zu Beginn der 90er eine Wende zu raffinierter filmischer Bildsprache aus, bei Binette Schröder eine Nutzung des Bilderbuchs als Bühne. Ensikat, Spohn und Kveta Pacovská setzten dagegen Texte als bildnerische Kategorien ein. Sehr anschaulich vermittelt Thieles Grundlagenwerk, wie Bilder sich mit dem Text zu einem Zopf verflechten, also weit mehr als Illustrationen zum Text seien. Im Hauptteil des Buches analysieren fünf Autoren mit unterschiedlichem Ansatz Bilderbücher der Zeit zwischen 1993 und 1999 und belegen ihre Aussagen mit zahlreichen Abbildungen. Reinbert Tabbert erlebte die Entstehung von Binette Schröders "Laura" (1999) unmittelbar mit und wendet sich in seinem Text der Persönlichkeit der Künstlerin und ihrer Lebenswelt zu. Doris Reske führt in ihrer assoziativen Analyse von Erlbruchs "Die Menschenfresserin" (1996) zur Botschaft hinter der Geschichte und zu verstörenden Bereichen unseres Unterbewusstseins. Jens Thieles erzähldramatische Analyse zeigt, wie Briggs in seinem Zwei-Personen-Theaterstück in Comic-Form "Der Mann" (1993) gegensätzliche Welten aufeinander prallen lässt. Elisabeth Homeister stellt in Solotareffs "Du groß und ich klein" (1996) mit thematischem Analyse-Ansatz die Entwicklung des Themas Wachsen und Verändern vor und erläutert die symbolische Bedeutung der gewählten Farben. Jane Doonan hat mit 10-jährigen Kindern, Brownes "Stimmen im Park" (1998) als Kunstwerk erschlossen; ihr Text repräsentiert den rezeptionsbezogenen Analyse-Ansatz. Auch bei seinem pädagogischen Blick auf das Bilderbuch merkt der Autor deutlich kritisch an, dass Kindern stets nur das "Einfache" als angemessene Bildform und ästhetische Kategorie zugewiesen werde. Die Überzeugung von Erziehern vergangener Zeiten, kindgemäß seien in Bilderbüchern allein einfache Formen, Primärfarben, anspruchslose Perspektiven auf keinen Fall Abweichungen vom Vertrauten, wirkt nahezu unverändert bis in die Gegenwart. Die Furcht vor Reizüberflutung von Kindern richtet sich einerseits als Kritik gegen das Bilderbuchangebot, kann dem Medium Bilderbuch jedoch auch zu neuer Attraktivität verhelfen. Thieles Forderung, im Bilderbuch Raum für die "Ästhetik der Armut" zu schaffen und Kindern Themen wie Krieg, Hunger und den Holocaust zuzumuten, lässt die Fragen offen, welche Altersgruppe damit exakt angesprochen werden soll und ob Kinder sich und ihre Lebenswelt bisher ausreichend im Bilderbuch finden können. Eine vorlesende Person wird zunächst die ohnehin bei Kindern vorhandenen Ängste bearbeiten wollen, ehe sie mit einem "Problem-Buch" neue Ängste ins Gespräch bringt. Thieles Forderung, Bilderbücher in höheren Klassenstufen zum Gegenstand des Kunstunterrichts zu machen, klingt reizvoll, geht jedoch weitgehend an der Realität von Lehrplänen im Schulalltag vorbei. Thieles Auswahl der fünf Bilderbücher, die ausführlich analysiert werden, repräsentiert die Stellung des Bilderbuchs "zwischen allen Altersgruppen" auf dem deutschen Buchmarkt. Erlbruchs "Menschenfresserin" spielt mit Rollenklischees und öffnet dem Leser unerwartete Blickwinkel. Es ist jedoch zugleich ein schwer zu vermittelndes Buch, dessen Handlung und Hauptfigur Kinder fürchten oder das Eltern ungern vorlesen. Briggs "Der Mann" mit einer 13-jährigen Hauptfigur ist weder Comic noch Bilderbuch und wegen der unklaren Zielgruppe ebenso schwer vermittelbar. "Du groß und ich klein" scheint mir der einzige Titel zu sein, der Kinder spontan anspricht und so überhaupt erst die Chance erhält, seine Botschaft allmählich zu entwickeln. Auch "Stimmen im Park" wird sich in allen Details erst älteren Kindern erschließen; Buchkäufer und Ausleiher in Bibliotheken erwarten von Bilderbüchern jedoch, dass sie sich an Vorschulkinder richten. Thieles Grundlagenwerk wendet sich an Studenten und Pädagogen. Es analysiert ausgewählte Bilderbücher mit unterschiedlichen Ansätzen unter Betonung des ästhetischen Standpunkts. Das Buch zeigt anschaulich, wie Erwachsene bei der Auswahl eines Bilderbuchs ihre persönliche Vorstellung von Kindheit und von für Kinder geeigneten Themen als Filter zuschalten. Wie stark die eigene moralische Messlatte von vorhergehenden Generationen übernommen wird und wie wenig aktuelle Erkenntnisse diese Messlatte begründen, muss in der Erziehrausbildung und in der Elternarbeit unbedingt stärkere Beachtung finden. Die engagierte Forderung des Autors nach Förderung der kunstpädagogischen Kompetenzen von Grundschullehrern wird an dieser Stelle vermutlich ungehört verhallen. Die Krise des Bilderbuchs lässt sich meiner Meinung nach weniger auf seine zu seltene Behandlung im Schulunterricht zurückführen, sondern zunächst darauf, dass Bilderbücher in der Erzieherausbildung, in der Elternbildung und bei der finanziellen Ausstattung von Kindergärten zu wenig Beachtung finden. Das Bilderbuch wird erst dann aus seiner abgelegenen Nische hervorgeholt werden, wenn auch ein Grundlagenwerk Bezug zum Alltag in Kindergarten und Familie herstellt, den Orten, an denen Kinder Bilderbücher ansehen.

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