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Wordworld

Posted on 16.12.2020

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch eine Empfehlung auf Bookstagram (Danke @theawyler, du hast mir ein Jahreshighlight beschert) und ganz in meinem Missionstrieb gefangen muss ich meine Begeisterung jetzt weitertragen. Denn "The Grace Year" vereint sowohl schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf als auch die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört... "Deshalb schicken sie uns her." "Damit ihr euch von eurer Magie befreit"; sagt er. "Nein", flüstere ich, während ich in den Schlaf weggleite. "Um unseren Willen zu brechen." Das Cover ist mit dem weißen Grund und den zarten Dornranken weitaus lieblicher als die Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Auch wenn also nur die ausgestreckte, lavendelfarbene Hand mit dem Blutstropfen und der roten Blume einen dezenten Hinweis geben, bin ich verliebt in die wunderschöne und ans Originalcover angelehnte Gestaltung. Die Ranken und Blumen sind Motive, die sich auch innerhalb der Buchdeckel fortsetzen und Titelseiten, Abschnitte und Vorwort zieren. Besonders ist außerdem, dass die Geschichte in fünf große Abschnitte "Herbst", "Winter", "Frühling", "Sommer" und "Rückkehr" eingeteilt ist, ansonsten aber statt aus Kapiteln aus einer Aneinanderreihung kürzerer Absätze besteht. Zu Beginn war ich davon ein wenig irritiert, mit zunehmendem Handlungsverlauf wird jedoch klarer, warum Kim Liggett diese Aufteilungsform gewählt hat: da für die Mädchen bald jede andere Form der zeitlichen Einteilung abseits der offensichtlichen Jahreszeiten keine Rolle mehr spielt und die Zeit während des Gnadenjahres gnadenlos verrinnt... "Das ist das Problem, wenn du das Licht hereinlässt - nachdem es dir wieder genommen wird, ist es noch viel dunkler als zuvor." Während der 416 Seiten begleiten wir die 16jährige Tierney James durch ihr Gnadenjahr - eine rätselhafte Zeitspanne im Leben eines jeden Mädchens in Garner County, während jener ihnen in der Wildnis ihre Magie ausgetrieben werden soll. Tierney sieht ihrem Gnadenjahr sowohl mit Angst als auch mit Trotz entgegen. Angst, weil keiner der Mädchen so genau weiß, was eigentlich passiert und warum immer wieder Mädchen nicht oder versehrt aus der zwölfmonatigen Verbannung zurückkehren, und Trotz, weil sie in der angeblichen Magie der Mädchen ein Unterdrückungsinstrument der Männer sieht. Als sie dann jedoch zusammen mit den anderen Mädchen auf der Insel ankommt, auf der sie ein Jahr verbringen soll, wird sie immer unsicherer, was diese Einschätzung anbelangt. Denn nicht die blutrünstigen Wilderer, die die Mädchen aus dem Lager locken, um ihre magischen Körperteile zu verkaufen, sind die größte Gefahr - weitaus gefährlicher geht es innerhalb der Mauern des Lagers zu... "Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich gefühlt habe. Sollen sie es Magie nennen. Ich nenne es Wahnsinn. Eins ist auf jeden Fall sicher. Hier gibt es keine Gnade." Der Einstieg in die Geschichte fällt zwar leicht, weckt jedoch schon die ersten Ressentiments. Denn was Kim Liggett hier mit wenigen Worten beschreibt ist ein frauenverachtendes Patriarchat erster Güte, in dem Mädchen bei der Geburt das Siegel ihres Vaters in die Fußsohle gebrannt wird, sie durch ein Band in ihren immer zu einem Zopf gebundenen Haaren ihren Status (Kind, Gnadenjahrmädchen, Ehefrau) zeigen müssen und die kaum mehr Rechte besitzen als Haus-/ oder Arbeitstiere. Die Autorin zeichnet dabei jedoch kein großflächiges Gesellschaftsporträt, sondern fokussiert sich einzig und allein auf die Kleinstadt Garner County. Hintergrundinformationen zum weiteren Setting, also umliegenden Städten oder einen größeren Rahmen der Geschichte, erhalten wir kaum und blicken auch nicht weiter über den Tellerrand der kleinen Gemeinde als in die Außenbezirke. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn im engen Raum spielt sich eine so brutale, intensive und fesselnde Geschichte ab, dass jeder Blick nach außen nur Zeit stehlen würde. "Ich dachte, wenn sie uns aufschneiden könnten, fänden sie wahrscheinlich ein riesiges Labyrinth aus Schlössern und Riegel, Dämmen und zugemauerten Einbahnstraßen. Ein Herz mit so hohen Mauern darum, dass ihm nach und nach der Sauerstoff wegblieb, während es an unseren eigenen Geheimnissen erstickte." Nachdem uns ein grober Überblick über die gesellschaftlichen Strukturen und das Leben Tierneys im County gegeben wurde, geht es auch schon ins Gnadenjahr. Dadurch dass wir genau wie unsere Protagonistin keinerlei Ahnung haben, was auf uns zukommt, steigt die Spannung bei jedem Schritt raus aus der gewohnten Umgebung weiter an und wir fragen uns, was sich hinter diesem wohlgehüteten Mythos verbirgt. Als die Mädchen dann in ihrem Lager ankommen, ist die Ernüchterung erstmal groß: sich einfach nur ein Jahr lang selbst versorgen - das müsste doch zu schaffen sein. Doch dann beginnen die Mädchen ihre Magie zu entdecken - oder ihren Wahnsinn... Und dann.... wird es krass. Die Autorin spielt geschickt mit ihren Figuren und auch dem Leser, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, was hinter allem steckt. Immer wieder werden wir gezielt auf eine falsche Fährte geleitet und muss Theorien immer wieder verwerfen, weil man nicht mehr genau weiß, was nun Traum und Realität ist. "Der Winter, der wie ein Löwe hereingebrochen war, verabschiedet sich wie ein Lamm. Der Schnee ist unter einer hellen, sanften Sonne geschmolzen. Die Vögel singen und der Duft nach frischem Grün erfüllt die Luft. Bald haben wir Vollmond. Jede Nacht beobachte ich durch die Dachluke, wie der Mond zunimmt, und es erscheint mir wie ein Spiegelbild meiner Gefühle für Ryker. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, kommt es mir vor, als öffnete sich mein Brustkorb ganz weit, um mehr Luft zu bekommen. Es schmerzt, aber trotzdem will ich dieses Gefühl nicht loslassen." Spätestens jetzt entwickelt sich "The Grace Year" zu einem wahren Pageturner. Die atmosphärisch-dichte Erzählweise und die Vermischung von Magie und Wahnsinn, Realität und Rausch, Gewalt und Liebe sorgen für fast überkochende Spannung. Da es hier auch immer wieder brutal und blutig zugeht, ist die Geschichte definitiv nicht für zarte Gemüter empfehlenswert. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, verbannt, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Wer es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann (mindestens "Panem"-Stil, eher etwas deftiger), sollte eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch kein eindeutiges Jugendbuch, auch wenn die Protagonistin mit ihren 16 Jahren etwas jünger ist, als die Zielgruppe. Denn auch die psychologische Seite der Geschichte ist dank des emotionsgeladenen, feinfühligen Schreibstil der Autorin ziemlich heftig, weshalb ich die Geschichte einige Male beiseitelegen musste. Dafür trifft sie aber auch die zwischenmenschlichen Nuancen der Gruppendynamik zwischen den Mädchen im Lager und die Entwicklung der einzelnen Beziehungen sehr gut und zeichnet demnach nicht nur eine dystopische Gesellschaft, sondern liefert zeitgleich auch eine Charakterstudie einer Generation Mädchen ab. "Als ich dich gesehen habe ... auf dem Eis ... da schienst du so..." "Hilflos", flüstere ich, angewidert von dem Gedanken, dass es das war, was mich gerettet hat. "Nein", antwortet er, und seine Augen funkeln im Feuerschein. "Entschlossen. Als du die Axt ins Eis schlugst, ... das war das Mutigste, was ich je gesehen habe." Dadurch dass Kim Liggett mehrere Zeitsprünge einbaut, fließen die einzelnen Szenen ineinander, die Gefühle werden eine undefinierbare Suppe aus Schmerz und Sehnsucht und Traum und Realität verschwimmen immer mehr. Auch wenn das ein Stilmittel ist, um die Befindlichkeiten der Mädchen auszudrücken, macht es das etwas schwer, am Ball zu bleiben und Vieles verändert sich innerhalb weniger Seiten. Eine wichtige Konstante ist dabei die Protagonistin Tierney, an deren Seite wir immer bleiben, da sie aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählt und die sich in dem Jahr der Erzählung von einem Mädchen zu einer Frau entwickelt. Unter den widrigsten Bedingungen lernt sie, richtig hinzusehen, erfährt wahre Güte und erkennt, dass aus Leid manchmal auch ein Band entstehen kann, anstatt eines Bruchs. "Was wären wir schon ohne all das?" Ich blicke zum Baum der Bestrafung hinüber. "Wir verletzen einander, weil es dir einzige Möglichkeit ist, unsere Wut zu zeigen. Wenn wir keine Wahl haben, dann schlagen die Flammen in unserem Inneren höher. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten die Welt bis auf die Grundmauern niederbrennen mit unserem Zorn - aber auch mit unserer Liebe und allem, was dazwischenliegt." Gut gefallen an ihr hat mir, dass sie keine typische Dystopie-Heldin ist. Sie ist zwar stark, mutig, rebellisch und einfallsreich, hat aber keine großen Ambitionen, die Welt zu verändern. "The Grace Year" ist nämlich keine der altbekannten "Auserwählte-rebelliert-und-verändert-Welt-Geschichte", die in diesem Genre den Markt überschwemmen. Stattdessen hat Kim Liggett den Zeitpunkt ihrer Geschichte ein bisschen früher angesetzt. Von einer Rebellion kann hier noch lange keine Rede sein, hier wird erst der fruchtbare Boden bereitet, auf dem die ersten kritischen Gedanken im verborgenen keimen können. Dabei nutzt sie auch subtile Symbolik, wie zum Beispiel die "Sprache der Blumen", bei der vor allem eine besondere Blume eine wichtige Rolle spielt... Die Idee, die langsame Herleitung einer Veränderung in den Fokus zu nehmen ist deutlich unspektakulärer als eine große Rebellion darzustellen, aber dafür auch reichlich gewitzter und unverbrauchter. Und ganz im Ernst: noch mehr Action, Kampf und Leid hätte ich wohl sowieso nicht mehr ertragen können. "Nur Mond und Sterne sind unsere Zeugen, als er zu mir kommt. Wir pressen unsere Handflächen aneinander, verschränken unsere Finger und atmen im Gleichtakt. Genau hier gehöre ich hin. Ohne Wenn und Aber. Und als sich unsere Lippen treffen, verschwindet mit einem Mal die Welt. Als wäre es Magie." Kritisieren könnte man am Mittelteil, dass hier auch eine zarte Liebesgeschichte aufkommt, die aber nur im Hintergrund einen schönen Kontrast zu all den düsteren Seiten der Geschichte bildet. Die dargestellte Liebesbeziehung unterstützt jedoch nur die Emanzipation der Protagonistin und könnte als solche nicht vollwertig alleinstehen. Ich denke, dass die Autorin Tierneys aufblühende Liebe dazu genutzt hat, um als Teil ihrer Rebellion aber auch ihres Selbstvertrauensgewinns zu dienen und als solches funktioniert es auch wunderbar. Als Liebesgeschichte an sich ist dieser Teil der Geschichte aber zu knapp und flach für meinen Geschmack. Dafür wird aber viel Platz für klar feministisch geprägte Sichtweisen und Botschaften gelassen, die sich jedoch nicht nur "gegen Männer" richten (wie das feministischer Literatur oftmals vorgeworfen wird), sondern auch gegen festgefahrene Systeme allgemein und vor allem auch gegen die Grausamkeiten, die Frauen sich gegenseitig antun können. Die Geschichte erzählt also nicht nur von einem leisen Widerstand gegen das gezielte Kleinhalten von Frauen und einem blutigen Überlebenskampf, sondern verbreitet auch die Botschaft von Zusammenhalt und Güte. "Als du weggingst... dachte ich... Es ist, als wärst du ... von den Toten auferstanden." "Vielleicht bin ich das ja", murmele ich und ziehe ihre Decke hoch. "Dann erzähl mir vom Himmel ... wie ist es da oben?", fragt sie, während ihr die Augen endgültig zufallen. "Der Himmel"; antworte ich beim letzten Flackern der Kerzenflamme leise, "ist ein Junge in einem Baumhaus mit harter Schale und weichem Kern." Das eigentliche Ende wartet dann mit allerlei Wendungen und Offenbarungen auf, die ich so niemals erwartet hätte. Was sich Kim Liggett hier überlegt hat, ist gewagt, mutig und geht in eine ganz andere Richtung als erwartet oder erhofft. Auch wenn grundlegende Fragen beantwortet werden, hat die Geschichte einen beinahe schmerzhaften Interpretationsspielraum, der es dem Leser ermöglicht, vom Schlimmsten auszugehen, oder das Beste auszumalen. "Meine Augen sind weit offen und ich sehe jetzt alles." Fazit: "The Grace Year" ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt. Die Geschichte vereint schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf, die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...

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