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Buchdoktor

Posted on 3.12.2020

Claire Farel hat als Kind die Erfahrung gemacht, dass Familien wegen eines einzigen Moments zerbrechen können und die Beteiligten alles verlieren - Ruf, Vermögen und Familie. Nach einem unsteten Leben ist sie inzwischen erfolgreiche Autorin und karrieretechnisch klug mit einem erheblich älteren Fernsehjournalisten verheiratet. Eine Trennung von Jean Farel würde die Ängste ihrer Kindheit zurückbringen, dass ihre Gönner Partei für ihren Mann ergreifen und sie allein zurückbleibt. Jean sieht sich nüchtern als Mentor, der sehr jungen Frauen Karrieretüren öffnet und sich durch deren Anwesenheit verjüngt. Zur Imagepflege benötigt eine TV-Ikone in erster Linie die Fassade von Familie. Claire hat das Spiel bisher mitgespielt und beide Partner haben davon profitiert. Mit inzwischen über 70 hat Jean den passenden Moment verpasst, seine Karriere zu beenden. Er wäre zu allem bereit, um seine Sendung zu behalten. Auch er fürchtet, fallengelassen zu werden, wenn andere keinen Nutzen mehr in ihm sehen. Als Claire den Lehrer Adam kennenlernt, konfrontiert sie das mit Frankreichs konservativem jüdischen Milieu, in dem die Ehe als heilig und die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau als unverrückbar gelten. Adam hat als Sohn von Einwanderern aus Nordafrika mit seinem Aufstieg die Träume seiner Eltern verwirklicht. Claire und Adam wollen formal an ihren Ehen und Familien festhalten. Sie sehen eine Ehe als Vertrag, den man einhält und von Gefühlen trennt. Schließlich muss sich doch die Patchwork-Familie mit Claires Sohn Alexandre und Adams Töchtern zusammenraufen. Alexandre, hochintelligent und hochsensibel, interessiert sich allein dafür, wer ihn versorgen wird. Als die bisher behütet aufgewachsene Mila mit ihrem Patchwork-Bruder ausgehen darf, erwarten alle, dass Alexandre sich wie ein Bruder verhalten wird. Der Abend endet mit Alkohol, Drogen und einvernehmlichem Sex, wie Alexandre vor Gericht aussagen wird, nachdem Mila ihn wegen Vergewaltigung angezeigt hat. Wenige Monate nach dem Weinstein-Skandal stehen sich vor Gericht Mitglieder zweier Familien gegenüber mit höchst gegensätzlichen Startchancen. Mila vertritt entschieden die Position, Alexandre hätte wissen müssen, dass sie keinen Sex wollte. Der wiederum sieht sich selbst als Opfer und entlarvt sich als völlig unfähig zur Empathie. Dass andere Menschen andere Wünsche haben als er, ist in seinem Universum nicht vorgesehen. Auch wenn die Vorgeschichten Claires und Jeans sehr breiten Raum einnehmen, läuft Tuils hochaktueller Roman direkt auf die Frage zu, wie eine Familie und eine Gesellschaft einen Mann wie Alexandre als Opfer stilisieren kann. Deutlich angelehnt an den Stanford-Fall (2016) mit seiner Vorverurteilung des Opfers zeichnet Karine Tuil in präzisem Stil eine Gesellschaft hinter bürgerlicher Fassade, in der Menschen instrumentalisiert werden und junge Männer sich das nehmen, von dem sie meinen, es stünde ihnen aufgrund ihrer Herkunft zu. In Folge der MeToo-Bewegung wurde der Konsens gekündigt, dass Frauen sich dem zu fügen haben. Eingebunden u. a. in die Lebensrealität jüdischer Franzosen steht hier das hochaktuelle Thema des Falscher-Konsens-Effekts im Mittelpunkt, der Annahme Alexandres, selbstverständlich würden alle so denken und handeln wie er und ein Austausch über persönliche Wünsche wäre quasi überflüssig.

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