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mrstrikehardt

Posted on 21.11.2020

Annie Ernauxs autobiografische Bücher, die gleichzeitig Einblicke in die französische Gesellschaft ihrer Generation bieten, werden seit geraumer Zeit hierzulande stark rezipiert. Seit dem Erfolg von „Die Jahre“ veröffentlicht der Suhrkamp Verlag jedes Jahr ein Buch von ihr. „Eine Frau“ ist mein Einstieg. Es handelt sich um das schlichte wie aufwühlende Porträt der Mutter sowie der nicht einfachen Mutter-Tochter-Beziehung. Ernaux erzählt vom Aufstiegswillen ihrer Mutter, ihren Wunsch, die bäuerliche und proletarische Herkunft hinter sich zu lassen. Es ist weder eine Erfolgsgeschichte noch ein aussichtsloses Unterfangen. Sie eröffnet einen Einkaufsladen mit angeschlossener Kneipe und verbessert dadurch ganz klar ihre Stellung und die ihrer Familie. Gleichzeitig hält sie fest bzw. verharrt sie in alten Rollenmustern, trägt ihren Arbeiterstolz vor sich her und vergleicht sich permanent mit den Nachbarn, mit den Damen in den Modezeitschriften. Ernaux spürt den Ambivalenzen und Widersprüchen nach, den „feinen Unterschieden“ (um Pierre Bourdieus soziologischen Klassiker zu zitieren). Diese Unterschiede werden umso offensichtlicher als es ihr, der Tochter gelingt, aufzusteigen. Sie wird eine Intellektuelle. Es kommt zur Entfremdung, dann wieder Annäherung (die vor allem auf Schuldgefühlen beruht). So schwingt das Pendel hin und her, bis die Alzheimer-Erkrankung und der Tod alles entscheidet. Interessant ist, dass dieses Buch vor 33 Jahren geschrieben wurde und nun erst in deutscher Sprache verfügbar ist. Anscheinend ist die Sehnsucht hierzulande stark durch Ernauxs persönlichen Blick über unser eigenes Verhalten und Verhältnis zur Elterngeneration zu erfahren. Mein Blick wird ein ganz anderer sein, aber nicht weniger widersprüchlich.

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