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hermunduh

Posted on 26.10.2020

Glück und Glas Bisher kannten wir Christoph Nußbaumeder als Dramatiker, der in seinen zahlreichen Stücken den Finger auf deutsche Wunden legte. Er setzte mit seinen gesellschaftskritischen Stücken, in denen er immer wieder das Schicksal kleiner Leute im Kampf gegen die unerbittlichen Mühlen der Macht beschreibt, Markierungen im Theaterbetrieb. Im gegenwärtigen Literaturkanon, der gern aus der Nabelschauperspektive angesagte gesellschaftliche Themen beschnuppert, ist Nußbaumeder eine Ausnahmeerscheinung. In Die Unverhofften spannt er den großen Bogen über ein Jahrhundert deutscher Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Der Roman beginnt im Bayrischen Wald und endet in München. „In diesem Gebiet, auf halber Strecke zwischen München und Prag, am Rand der Welt, liegt die Ortschaft Eisenstein. Dort. Am Fuße des Großen Arber, überwiegen die Westwinde, der klirrende Böhmwind aber, der oft tagelang aus nordöstlicher Richtung ins Tal zieht, bestimmt die Witterung. Der Wind macht die Stängel der Gräser krautig bis zur Durchsichtigkeit, und der Winter dauert hier so lange, wie ein Mensch ausgetragen wird. Seinen Namen schuldet das Dorf dem Eisenabbau im Mittelalter. Doch nicht nur das Metall, vor allem die Glasfabrikation und die Forstwirtschaft bestimmen das Geschehen entlag der bayrisch-böhmischen Grenze.“ Er ist eine ausgreifende Erzählung über Deutschland, Nußbaumeder gelingt es perfekt, die ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in die Handlung einzuweben, einschließlich der Verteilungskämpfe und Teilhabebemühungen. Er besuchte zu Recherche oft den Bayerischen Wald und ließ die Landschaft auf sich wirken, er fand alte Industriebauten wie Glashütten oder ein Sägewerk, die noch fast so wirtschafteten wie in den 60er Jahren. Die Arbeit in der Landwirtschaft, auf Baustellen oder am Fließband in der Fabrik kennt Nußbaumeder aus eigener Erfahrung, die Beschreibung von Arbeit war ihm nicht weniger wichtig als die Schilderung seelischer Erschütterungen. Nußbaumeder schafft es, politische Geschichte ins Sinnliche zu übertragen, die Erkenntnisse in Erfahrung zu tauchen. Die Geschichte beginnt 1900, als die junge Arbeiterin Maria wegen einer ungesühnten Vergewaltigung eine Glasfabrik in Brand setzt. „In der Bibel steht, die Sanftmütigen werden die Erde in Besitz nehmen. Was glaubst du? Ich glaub, das ist ein Druckfehler, sonst wär`s schon längst passiert“ Liebe, Verrat, die Sehnsucht nach Glück und die Rache für erlittenes Leid sind die Antriebsfedern der vier Genrationen Menschlein, denen wir im Verlauf dieser bayrischen Familiensaga begegnen. Daneben die scheinbar urdeutsche und schier zwanghafte Fixierung auf wirtschaftliche Dominanz, die Deutschland am Laufen hält Nußbaumeder berührt die Anfänge der Arbeiterbewegung und lässt uns teilhaben am Aufstieg des Familienunternehmens bis zur Nazidiktatur. Ein Bruder wütet bis 1945 im Konzentrationslager, der andere zieht in den Krieg, kehrt mit nur einem Bein heim und macht in der jungen BRD eine Karriere als Fabrikant und CSU-Politiker. Marshall-Plan, Neue Heimat- Skandal, die Goldgräberzeit der politischen Wende, bis ins Jahr 2019 hinein folgen wir den Irrungen und Wirrungen der Familienmitglieder auf ihrer Suche nach dem Glück, der Erlösung, dem Tod. Nußbaumeder hat sich nie als reinen Dramatiker gesehen, er merkte irgendwann, dass seine Geschichten mehr Raum einfordern. Drei Jahre schrieb er an seinem Roman. Sein Drama „Eisenstein“ diente ihm zunächst als eine Art Fahrplan für den Roman. Nußbaumeder: „Das Stück verhält sich zum Buch ungefähr so, wie eine Skizze zum Gemälde, gleichwohl ist der Roman keine Nacherzählung des Stücks. In ihm gibt es neue Figuren und somit neue Konstellationen, wodurch die Fabel einen zum Teil völlig anderen Spin kriegt, auch der Handlungsrahmen ist wesentlich weiter gefasst und erstreckt sich jetzt von 1899 bis 2019. Die entstandene Prosa hat sich ihren eigenen Weg durchs Dickicht der Geschichte geschlagen – mit für mich unvorhergesehenen Wendungen, die erst beim Schreiben passiert sind.“ Ist er ein Moralist? Zumindest glaubt er, „mit Aristoteles gesprochen, dass der ethische Bereich immer das Material von Dichtung oder Fiktion ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Handlung ethische Zwecke verfolgen sollte, im Sinne von den Sieg des Gerechten und den Untergang des Bösen. Es wäre die reinste Gesinnungsbarbarei. An gesellschaftlichen Tabus zu rütteln oder an moralischen Wertevorstellungen zu kratzen, ist jedoch der Humus guter Geschichten. Als Erzähler werde ich aber einen Teufel tun, zu richten. Interessant wird es immer erst, wenn es keine Eindeutigkeit im Urteil gibt.“ Den Titel „Die Unverhofften“ wählte er, weil er sich für den Fokus auf die Menschen entschied und nicht für eine programmatische Idee. Durch diesen Titel bleibt die Fabel bei den Figuren. „Ich denke, jeder Mensch ist erlösungsbedürftig, und letzten Endes hat sich diese Grundhaltung bei mir durchgesetzt.“ Er braucht am Anfang seines Romans nur wenige Sätze, um uns sofort in den Sog der Ereignisse zu ziehen. Das Buch bleibt spannend bis zum Schluss und überrascht mit zahlreichen Wendungen. Christoph Nußbaumeders erster Roman Die Unverhofften ist Dynamit für‘s Gemüt.

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