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Babscha

Posted on 15.9.2020

Das Ausgangsszenario: Startpunkt sind die 30er-Jahre, kurz vor Hitlers Machtergreifung. Aber einiges ist anders in Deutschland. Fernsehen ist seit Jahren Normalität, ebenso die Nutzung von tragbaren „Volkstelephonen“, der gesamte Globus korrespondiert über das „Weltnetz“, die Menschen besitzen private „Komputer“, sind in verschiedensten Foren aktiv und schicken sich „Elektropost“. Bargeld ist komplett abgeschafft, man zahlt nur noch unbar mittels Karte. Medial und technisch also alles auf heutigem Stand. Und im Hintergrund agiert das in Weimar ansässige NSA, das Nationale Sicherheits-Amt, eine streng geheime Behörde, die schon seit Kaisers Zeiten sämtliche über die sozialen Medien laufenden Informationen und Daten aus dem Weltnetz lückenlos abschöpft, speichert, und in Deutschland wie anderswo den „gläsernen“ Menschen bereits realisiert hat, ohne dass die Bevölkerung hiervon irgendetwas ahnt. Mit der Erstarkung der NSDAP sind deren Vertreter selbstredend brennend daran interessiert, diese wertvollen Daten für ihre eigenen perfiden Zwecke zu nutzen und setzen den ganzen Laden entsprechend unter Druck. Die beiden Hauptprotagonisten: Da ist zum einen Helene Bodenkamp, Baujahr 1921, ein zunächst noch naives, unscheinbares Mädchen ohne Selbstbewusstsein und mit depressiver Veranlagung, aus einer dem Nationalsozialismus völlig ergebenen „edlen“ Familie stammend, auf der Suche nach der großen Liebe, aber weitgehend ohne Freunde, dabei allerdings gesegnet mit einer genialen Fähigkeit zum Schreiben von Komputerprogrammen. Dann Eugen Lettke, der etwas ältere, bei seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsene clevere Einzelgänger und Nerd, bereits in Jugendjahren kriminell und manipulativ, der nichts lieber mag, als Informationen über andere Menschen zu sammeln und für seine Zwecke zu nutzen, ein rundum abstoßender, gestörter Zeitgenosse. Das Schicksal will es, dass beide den Weg ins NSA finden, Helene als „Programmstrickerin“, Eugen als Mann fürs Grobe im Dienste seiner Vorgesetzten. Meinung: Eschbach legt mit seiner faktenmäßig sorgfältig recherchierten Vision eines Deutschland in den damaligen dunklen Zeiten mit der Technik von heute einen wie immer gekonnt, ideensprudelnd und routiniert mit der richtigen Portion sarkastischen Humors geschriebenen spannenden Roman vor, der trotz seines gewaltigen Umfangs mit einigen technischen Längen und sonstigen Verzettelungen im Mittelteil insgesamt zu überzeugen vermag. Die von Angst, Terror und Rassenwahn bestimmte düstere Atmosphäre eines in den Kriegsabgrund schlitternden Deutschlands als Unterbau der verschlungenen Geschichten seiner Figuren ist brillant eingefangen. Dies gilt genauso für die fremdgesteuerte, von Zwängen beherrschte und allmählich ausweglose Transformation der einzelnen Personen. Insbesondere die sich im letzten Drittel des Buches immer mehr beschleunigenden Entwicklungen sind wirklich rasant und wendungsreich mit permanenten Überraschungseffekten. Und wie Eschbach die aus der heutigen Zeit rekrutierten Fakten und technischen Möglichkeiten eines Überwachungsstaates in seine Geschichte einbaut und den dortigen Machthabern in die Hände legt, ist wirklich erschreckend und macht durchaus nachdenklich. Toll geschrieben, echte Leseempfehlung.

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