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anne_hahn

Posted on 23.3.2020

Mein kleiner Buchladen – frische Bücher: Der König der Vagabunden Deutschland ist das klassische Land des Kleinbürgers und Spießers. Wer das Land regiert, ist ihm gleichgültig, wenn er nur nicht in seinen Geschäften und in seiner Verdauung gestört wird. Schäbig und charakterlos, wie er ist, steht er immer 'auf dem Boden der Tatsachen', mag auch die Welt zugrunde gehn. Vor einem guten Monat saß ich in meinem Buchladen und verpackte Bücher, es lief der Kompressor im Deutschlandfunk Kultur und ich horchte auf. Comicautor Patrick Spät und die Zeichnerin Bea Davies stellten ihre bei Avant frisch erschienene Graphic Novel vor. „Generalstreik, das Leben lang“, auf diese Parole Gregor Gogs stieß der Autor 2013 während einer Recherche, es wurde Motto der Vagabunden, die Gog ihren „König“ nannten. Von Geburt an Anarchist, Rebell, Irrenhäusler, Obdachloser, Herausgeber der ersten Straßenzeitung Europas. Einige Tage später lag das Buch in meinem Briefkasten und ich krabbelte flugs in diese einhundertfünfzig schwarzweißen Seiten eines Anarchistenlebens hinein. Mit sparsamen Strichen schuf Bea Davies, welche selbst anderthalb Jahre in einer Obdachlosenunterkunft in Berlin arbeitete, realistische Figuren. Tuschbilder in starken Kontrasten nehmen halbe bis Doppelseiten ein, zeigen das Meer, den Himmel, Eis- und Schneeflächen. Viele Hintergründe sind frei, oder hauchzart angedeutet, lassen Platz für eigene Bilder. Der Comic erzählt Gogs Geschichte versetzt, begonnen wird mit der Flucht zweier Männer in die rettende Schweiz, über den gefrorenen Bodensee, weg aus Nazideutschland in einer Nacht 1933. Als Gog dabei stürzt und sein Spiegelbild im Eis erblickt – Rückblende in die Jugend, anheuern auf einem Schiff, Kanonier im Ersten Weltkrieg, Rebellion, Gefängnis und Novemberrevolution. Nach dem Knast wird er südlich von Stuttgart Kommunarde und Anarchist. Gregor Gog und seine Lebensgefährtin Anni Geiger-Gog, als Kinderbuchautorin Haupternährerin, ziehen Gogs Sohn aus erster Ehe und zahlreiche Stuttgarter Waisenkinder auf. In ihrer Kommune am grünen Weg leben unter anderem Theodor Plevier und Karl Raichle, häufig zu Gast sind Erich Mühsam und Johannes R. Becher. Plevier, Mühsam und Gog erschrecken Sonntagsspaziergänger, als sie nackt im Fluss baden – diese Szene ist zeichnerisch herrlich eingefangen. Beinahe fotorealistisch jedoch sprang mir auf der nächsten Seite ein Mann mit langen Haaren, Wanderstock, Rock und freiem Oberkörper ins Auge – mein Gustav Nagel! (hier zu sehen). Gustav Nagel, in Werben/Altmark geboren, kaufte Anfang des letzten Jahrhunderts ein Grundstück in Arendsee und lebte dort als Freidenker, Rechtschreibreformer, Barfussgeher, Most- und Ansichts-Kartenverkäufer. Wenn er nicht durch Europa pilgerte, wie hier auf Besuch in der Kommune am grünen Weg. Ich habe mich für einen Roman intensiv mit Nagel beschäftigt gehabt und freue mich, dass sein Grundstück in Arendsee restauriert und gehegt wird. Und er durch diesen Comic spaziert. Mitte der 1920er Jahre waren rund 70.000 Obdachlose auf den Straßen Deutschlands unterwegs. Schätzungsweise 20 Prozent von ihnen hatten sich bewusst für dieses Leben entschieden und ihre Arbeit gekündigt, um mit der bürgerlichen Gesellschaft zu brechen. Die Mehrzahl der Obdachlosen lebte von Almosen und verdingte sich als Tagelöhner, nur selten konnten sie ihrem Schicksal entrinnen: Wer in einer der Wärmehallen Zuflucht fand – allein in Berlin gab es 1927 mehr als 60 dieser Unterkünfte – durfte sich dort nur fünf Tage aufhalten. Im Anschluss wurden die Betroffenen oft wegen Obdachlosigkeit verhaftet und in Arbeitshäuser eingesperrt, wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten. Dieses Zitat stammt wie obiges aus dem Nachwort des Comics. Der Autor beschreibt hier ausführlich, wie sich die von Gregor Gog gegründete "Bruderschaft der Vagabunden" zur Wehr setzte. Sie wollte den kapitalistischen Staat unterwandern – oder gleich abschaffen, das gesellschaftspolitische System sollte lahmgelegt werden, indem man keine Lohnarbeit verrichtet und den Kirchen fernbleibt. Die erste Straßenzeitung Europas Der Kunde erschien 1927, eine Kunstausstellung der Vagabunden und schließlich der erste Vagabundenkongress in Stuttgart mit 600 Teilnehmern krönten 1929 den König. All das ist in diesem Buch künstlerisch genial verknappt erzählt und illustriert, die wilde Freude des Tippelns, Kampf des Anarchisten Gog um politische Unabhängigkeit, Hoffnungen und Zweifel am sowjetischen Sozialismus, KZ und Lager... Autor und Zeichnerin weisen im eingangs erwähnten Interview darauf hin, dass der Sozialstaat sich heute auch wieder im Abschmelzen befinde und die Botschaft Gogs sein könne, dass Menschen sich selbst zusammentun können, um etwas zu erreichen. Der Berliner Verein "Unter Druck" versucht derzeit nach dem Beispiel Gogs, 2020 einen Vagabunden-Kongress in Berlin zu organisieren.

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