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Posted on 19.3.2020

Der Trickle-Up Effekt oder Wer wählt denn die Populisten und Faschisten „Die Wurzeln des Zorns“ brachte dem 1973 in Nantes geborenen Vincent Jarrousseau den Prix France Info ein. Er erzählt „Aus dem Alltag von Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht mehr zählen.“ Für diesen Fotoroman lebte er zwei Jahre lang in der kleinen nordfranzösischen Stadt Denain, die noch in den Siebzigerjahren einer der Hauptsitze der Stahlproduktion in Frankreich war. Bis die Stahlwerke und Hochöfen geschlossen wurden, die Maschinen nach China verkauft wurden und 1985 trotz Kämpfen und Protesten mit der Walzstraße auch die letzten Arbeitsplätze des Stahlstandorts von Usin-Denain in Denain stillgelegt wurden. Ein gesellschaftskritisches Buch in Form eines Fotoromans, geht das? Mais oui! Bereits das Vorwort von Kathrin Hartmann erläutert den Leserinnen (Männer wie immer herzlich mitgemeint) Inhalt und Absicht des Autors. Jarrrousseau selbst merkt abschließend in seinen Vorbemerkungen an: „Die Hoffnung erhält am Leben, heißt es, in Denain lebt man, das ist alles.“ Der im Anhang zu findende Text der Soziologin Leslie Berton- Chevallier über Immobilität ist aufschlussreich und sollte es denkenden Leserinnen unmöglich machen, die Schuld an der im Roman dargestellten Misere, die übrigens nicht auf Frankreich und die kleine Stadt Denain begrenzt ist, zu verdeutlichen. Diese Anmerkungen und Texte erweitern den Fotoroman, der allerdings bereits alleine gut für sich selbst spricht. Der Einstieg beginnt in Comicform, Frankreich hat eine deutlich reichere Comicszene als Deutschland, die schlichten in schwarz, weiß, blau und rot gehaltenen Panels, erzählen von den guten alten Zeiten, als es in Denain noch vier Kinos und alles was es zum Leben braucht, gab. Eine schöne Welt zeigte sich hier, bis es zum Niedergang kam. Die folgenden Fotografien auch in Panelform mit Sprechblasen geben den interviewten, in Denain lebenden Menschen das Wort. Kurze, sehr informativ gehaltene Steckbriefe beschreiben die Personen, deren Lebensumstände, Wünsche, Gedanken, Sorgen und Ziele dann nüchtern in stimmigen Bildern, die ihr Leben und ihre Gefühle bravourös transportieren. Jarrousseau stellt die Fragen, ohne dass man sie lesen kann, die Antworten werden durch die Bilder und Sprechblasen gegeben. Das hat eine Kraft, die ohne die Visualität nicht zu erreichen wäre. Vincent Jarrousseau fängt künstlerisch, aber auch pragmatisch die Welt der Menschen von Denain ein, weckt Verständnis für seine Protagonisten mittels Hineinwachsen und mitfühlenden Verstehens bei den Betrachterinnen und Leserinnen, deren Lebenswelt, so sie sich dieses Buch leisten können, doch eine ganz andere ist. Mich hat „Die Wurzeln des Zorns“ durch seine künstlerische und handwerkliche Qualität direkt abgeholt und mir einen tieferen, respektvollen Einblick in Lebenswelten weitab der meinen ermöglicht. Der Erfolg des Rassemblement (ehemals Front) National erklärt sich hier wie auch bei den Gelbwestenprotesten, denen sich viele Bewohner Denains angeschlossen haben, wobei sie die Gewalt verurteilen. Es ist die Hoffnungslosigkeit von Menschen, die nicht mehr gebraucht werden und das sehr deutlich spüren. Immer wieder, jeden Tag aufs Neue. Aktuell leben wir in noch schwierigeren Zeiten. Zusätzlich zur weltweiten Umverteilung des Vermögens nach oben (nennt man das dann den Trickle-up-Effekt) wird es für viele kleine Unternehmen, Kulturschaffende, Start-Ups und Selbständige jetzt ans Eingemachte gehen. Auch Arbeitnehmerinnen in vermeintlich sicheren Positionen leben im Ungewissen um die Zukunft und klar ist, dass die Steuerzahler den Staat, der die Hilfen auf den Weg schickt, finanzieren. Hier sollten alle Demokratinnen spitzfindig darauf achten, wie sich diese Hilfe gestaltet und wem sie zugute kommt. Eine dringliche Leseempfehlung für „ Les racines de la colère“ so der Originaltitel des von Tobias Scheffel aus dem Französischen übersetzten, wichtigen und nachdenklich stimmenden Werkes zur Lage in Europa.

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