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thursdaynext

Posted on 14.2.2020

2017 goes 1984 Wer viel liest, kennt das Phänomen wahrscheinlich. Lesemüdigkeit und Unlust. Der Anspruch steigt und die Lektüre kann nicht mithalten. Die Überraschung fehlt, die Entdeckungslust wird enttäuscht. Fade erscheint das immer Gleiche in neuer Variation. Olga Slawnikowa, hat meine Lesefreude mit 2017, ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman, wieder beflügelt. Sie erhielt für diese Dystopie den russischen Booker Preis. 2017 ist Lesegenuss pur. Die neue russische Literatur ist mir so unbekannt wie die „russische Seele“ fremdartig erscheint. So lockte Slawnikowas deutsches Debüt, das trotz der stattlichen Seitenzahl ein wahres Festmahl an Köstlichkeiten in Form sprachlicher und stilistischer Verwegenheit kredenzte und einen verschleierten Blick in das heutige Leben in Russland gewährt. Man darf sich nicht schrecken lassen von den grammatikalischen Schnitzern, die auf den ersten 27 Seiten in recht abschreckender Dichte vorhanden sind, obwohl beim Lesen die Vitae der Übersetzerinnen Christiane Körner und Olga Radetzkaja vielfältig und erfahren erscheinen. Sie verschwinden danach auf wundersame Weise. Entweder wurde auf den restlichen Seiten wieder ordentlich lektoriert oder der Sog des Romans nimmt einen derart gefangen, dass derartiger Kleinkram nicht mehr ins Auge fällt. Dennoch, bei der zweiten Auflage sollte der Verlag hier mehr Sorgfalt walten lassen, allein um dem Leser den Einstieg in Slawnikowas dystopisch überbordende riphäische (harte , karge Landschaft , früher wurde von den Phöniziern so der Ural bezeichnet ) Welt 2017 zu erleichtern. Wartet der Roman zu Beginn doch mit einer überbordenden Fülle an Adjektiven und Metaphern auf, die anfangs sehr gewöhnungsbedürftig ist. „Die verwitterten riphäischen Berge, von einem Dunstschleier überzogen, der Hunderte von Grautönen räumlich sichtbar macht, erinnern an die künstlichen Ruinen eines Parks. Für einen Maler gibt es in dieser fertigen steinernen Schönheit nichts zu tun: Jeder Landschaftsausschnitt, aus welchem Blickwinkel man ihn auch betrachtet, trägt seine Komposition und seine Grundfarben schon in sich – jene charakteristische Kombination von Einzelteilen, die das schlichte, leicht wiedererkennbare riphäische >>Logo<< ausmacht. Die malerische Schönheit der Riphäen wirkt durchdacht. Die horizontalen Linien der flechtengrün getupften, mit glatten, rötlichen Nadelkissen gepolsterten grauen Findlinge werden durchbrochen von Vertikalen dichter Kiefergruppen, die, wie alles in der Landschaftsmalerei, die simple Geradzahligkeit meiden; überhaupt scheint der Bau des Ganzen den Gesetzen der klassischen Opernbühne zu folgen – wuchtige Kulissen, der Chor steht frontal zum Parterre.“ Anfangs zu viel, zu „laut“ ein wenig fremdartig. Dabei ist es gerade jene pompöse erzählerische Grandezza, die mich bei 2017 immer mehr ansprach. Ein Schwelgen in Worten, Beschreibungen, Szenerien, Situationen und Gedanken, das, wenn man sich eingelesen hat, eine opulente Freude ist und die humorvolle Distanziertheit der Erzählerin zu den Protagonisten gekonnt ausgleicht. Hauptperson dieser großartigen Erzählung ist der Edelsteinschleifer Krylow, der zwischen den Welten dieser magischen Realität pendelt. Mit ihm beginnt die Geschichte. Mit seiner obsessiven Liebe zu einer Frau, die er am Bahnhof entdeckt und mit der er in die namenlose Stadt geht. Die beiden gehen immer weiter, bis sie sich inmitten der Stadt auf ungewöhnliche Weise in ein Liebespaar mit sehr eigenem Ritual verwandeln. Hinzu kommt seine enge und doch ungeklärten Beziehung zu seiner Exfrau. Das liest sich so poetisch wie spannend und distanziert. In Zeitsprüngen breitet sich Krylows Leben aus, das en passant die neuere russische Geschichte und Gesellschaft skizziert, karikiert und mit einwebt in die Geschichte. Gauner, Politiker, Neureiche, die Abgehängten der Gesellschaft, die veränderbaren Spielregeln nach denen gespielt wird. Den Aufstand der Abgehängten der sich abzeichnet. Diese dystopische Satire, so es denn eine ist, kratzt an der Transparenz. Eben jener Transparenz die Krylow liebt, verehrt und fasziniert immer wieder auf’s Neue sucht. „Alle normalen Gegenstände waren Teil der gewöhnlichen diesseitigen Welt: egal, wie raffiniert sie gebaut, wie stabil sie gelötet waren, man konnte sie aufmachen und nachsehen, was darin war. Das Transparente gehörte einer anderen Ordnung an – es aufzumachen, in sein Inneres zu gelangen war unmöglich.“ Er ist Edelsteinschleifer, Sucher und Suchender nicht nur aus Leidenschaft, sondern weil er nicht anders kann. Seine Verehrung der Transparenz ist manisch zu nennen. Diese Faszination geht auf den Leser über. Olga Slawnikowa hat mich mit diesem knallharten, realistischen und dabei fast lyrischem, dystopischem „Märchen“ be- und verzaubert und zugleich derart pointierte Beobachtungen des Zustands unserer Welt hineingeschrieben, dass es die Schmerzgrenze weit überschreitet, eben weil man weiß, ihre Beobachten sind weitsichtig und hofft sie täusche sich doch. Laut Autorin eine (gelungene) Hommage an George Orwells 1984 und ein Lesehighlight 2017

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