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Buchdoktor

Posted on 9.9.2022

Anna Kims Icherzählerin Franziska verbringt einen harten Winter als Writer in Residence in Green Bay/Wisconsin. Um mehr Ruhe zum Schreiben zu haben, zieht sie aus dem Stipendiaten-Appartment in ein Privatquartier bei Joan Truttman. Die Vermieterin spricht in plumper Art Franziskas asiatische Züge an, als wolle sie ihr förmlich aufzwingen, sie müsse mit ihrer „Gemischtheit“ ein Problem haben. Die pensionierte Lehrerin wird der jungen Autorin die Geschichte einer Kindheit anvertrauen, die unzweifelhaft die von Joans Ehemann Danny ist. Im Prolog verpflichtet die Erzählerin sich selbst, mit dem Geschenk respektvoll umzugehen, die Vorgänge aber auch nicht durch Beschönigung zu zensieren. Dieser Vorsatz könnte der wichtigste Teil des Buches sein, denn Franziskas Erzählung wechselt ab mit Aktennotizen zum Fall Danny T., die nicht nur das N-Wort enthalten, sondern die rassistische Einstellung, die Rasse einer Person könnte durch exakte Messverfahren festgestellt werden. Als 1953 in Green Bay die ledige Telefonistin Carol T. einen Jungen zur Welt bringt und zur Adoption freigeben will, wird klar, dass die Frau mittellos ist und nicht vorhat, den Namen des Vaters preiszugeben. Der kleine Junge muss bis zur Klärung seines Falls im Krankenhaus bleiben (wo inzwischen eine ansehnliche Rechnung für den Aufenthalt aufläuft); für seine Geburtsurkunde ist seine Rassenzugehörigkeit zu ermitteln. An ihm werden „negroide“ oder „indianische“ Merkmale festgestellt, die sich ohne Vaterschaftstest natürlich nicht verifizieren lassen. Eine Adoption rückt mit dieser Behauptung in weite Ferne. Carol Truttman bestreitet steif und fest, mit einem Schwarzen oder Ureinwohner geschlafen zu haben, wirkt allerdings nicht sehr glaubwürdig. Nach langem, bürokratischen Hin und Her kommt Danny schließlich in eine Familie, die ihn in Pflege nimmt, weil sie sich seinen Lebensunterhalt als Adoptivkind schlicht nicht leisten kann. Da die Case Workerin Marlene, die damals so emsig Dannys Herkunft ermitteln wollte, inzwischen wieder in Österreich lebt, bittet Carol ihre Mieterin, nach ihrer Rückkehr Kontakt zu der Frau aufzunehmen. Joan ist überzeugt, Marlene müsse mehr über Danny wissen, als in der Fallakte verzeichnet ist. Es stellt sich heraus, dass Marlenes Tochter in dem Wiener Bezirk lebt, in dem Franziska aufgewachsen ist. Beinahe interessanter als das, was Silvia über ihre Mutter und den Fall Danny T. zu erzählen hat, ist allerdings Franziskas Konfrontation als nunmehr Erwachsene mit ihrer eigenen abwesenden Mutter Ha. Fazit Die beinahe manische Suche nach Dannys Herkunft zu einer Zeit, als (in Deutschland) schon Vaterschaftstests üblich waren, wirkt auf mich als Europäerin befremdlich. Die Fallakte Danny H. gibt tiefen Einblick in Einstellungen der 50er Jahre und deren Wirkung auf Adoptionsverfahren. Anna Kim will mit ihrer Dokumentation die Kehrseite von Sprache sichtbar machen – und das gelingt ihr in taktvoller, liebenswürdiger Weise. Wer sich für die Geschichte der Adoption und rassistische Einstellungen der 50er Jahre interessiert, sollte hier zugreifen.

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