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stricki

Posted on 21.8.2022

Wunsch und Wirklichkeit "Auf See" ist eine raffinierte, sehr kluge Zukunftsvision, die, ohne dass ein Datum genannt wird, in nicht allzu ferner Zeit genau so stattfinden könnte. Die Geschichte ist anspruchsvoll. Es ist eine intellektuelle Auseinandersetzung darüber, wie Gesellschaften funktionieren. Wobei der Roman eine wunderbare Handlung hat, die in einer schönen, klaren Sprache daher kommt. Allerdings tauchen wir nicht tief in die jeweiligen Figuren ein. Es ist eher ein Beobachten. Wir haben zwei Handlungsstränge, einmal das Leben in der Seestatt Vineta, einer Sonderwirtschaftszone in der Ostsee vor Deutschland, aus Sicht der 17-jährigen Yada, der Tochter des Gründers Nicholas Verney. Eine in die Jahre gekommene Utopie, bei der im wahrsten Sinne der Lack ab ist. Mit großen Ideen gestartet, krankt das Projekt, an zwischenmenschlichen Befindlichkeiten ebenso wie an biologischen Problemen wie Blaualgen, die der Selbstversorgung durch eine Algenfarm einen Strick durch die Rechnung machten. Hier herrscht ein stark reglementiertes Eliteleben, in dem Körper und Geist auf das effektivste getrimmt werden, und das durch ein estrem mieses Billiglohnsystem am Laufen gehalten wird. Die Illusion eines Paradieses. Und dann ist da das Festland, das durch die Künstlerin Helena und ihre Entourage präsentiert wird. Eine Welt, die lange nicht so kaputt ist, wie der dominante Gründer Nick seiner Tochter gern weis macht, die aber definitiv desolater ist als jetzt. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft hier nochmal weiter auseinander, Slums neben Hochglanz. Dekadenz und bittere Armut, es fällt nicht schwer sich das vorzustellen. Viele haben ihre Wohnung verloren, andere jetten von Wohnung zu Wohnung, irgendwie logisch, wenn vieles sich verändert. Die exzentrische Helena ist durch Zufall berühmt geworden, wurde quasi über Nacht zum Sektenguru und sieht sich plötzlich mit Verantwortlichkeiten konfrontiert, die ihr nicht zusagen. Es gibt noch Regierungen, aber es riecht doch stark nach Anarchie an allen Ecken. Die beiden Welten vermischen sich, als Yada aufs Festland flüchtet und feststellen muss, dass sie jahrelang den Lügen ihres Vaters aufgesessen ist. Im Berliner Tiergarten findet sie ein neues Zuhause und neue Freunde - vom elitären, abgeschotteten Inselstaat in den Slum. Was zählt wirklich im Leben? Die Kapitel sind den einzelnen Personen gewidmet, dazwischen immer wieder "Archiv-Kapitel" in denen Wissen zum Thema Neue Gesellschaftsformen, Neoliberalismus, Anarchismus, Eroberungen von Inseln und die fatalen Folgen der durch Menschenhand veränderten Natur erörtert werden. Zuerst war ich irritiert, fand aber zunehmend Gefallen an diesen Einsprengseln. Mir hat das Buch sehr gut gefallen, vielleicht auch gerade weil es nicht den großen Weltuntergang propagiert, sondern ziemlich realistisch daher kommt. Weil keine der Personen etwas besonderes ist. Ich würde sagen, das Buch hat ein gewisses Understatement. So wie ich das Cover erstmal gar nicht wahr genommen hatte, und es jetzt genial finde, in seinem Retro-Style. Ein Buch das aus der Reihe fällt.

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