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gwyn

Posted on 6.5.2022

Der Anfang: «Sein Herz hatte die Form einer Nuraghe. Er war ein sardopatico, ein Sarde durch und durch.» War es ein Autounfall, ein Selbstmord oder gar Mord? Ohne ersichtliches Motiv, ohne ein ersichtliches Anzeichen von Manipulation stürzt eine unbekannte Frau mit dem Auto in die Schlucht – keine gefährliche Stelle. Wer ist diese Frau? Ein Busfahrer, der diese Strecke zweimal am Tag fährt, will den Wagen noch nie gesehen haben; es gibt keine andere Zufahrt in das abgelegene sardische Bergdorf Telévras. Irgendetwas verschweigt er, meint Inspektor Marzio Boccinu. Sein Geheimnis wird der Mann mit ins Grab nehmen, denn er erschießt sich kurz darauf. Zwei Todesfälle, die nach Mord riechen. Boccinu muss für ein Plappermaul aus seinen Reihen büßen und wird zunächst vom Dienst freigestellt. Er hat die Nase voll und kündigt seinen Job. «Ihr habt die höchste Arbeitslosenquote von ganz Italien. ... und in den letzten zwanzig Jahren sind mehr als zweitausend Einwohner abgewandert. ... Die Regionsverwaltung von Sardinien ist informiert, wir können das Ganze auch ohne eure Zustimmung durchziehen ...» Der Sarde hat allerdings sein Herz für Telévras geöffnet. Hierher verirrt sich kaum ein Tourist. Er mietet sich ein kleines, heruntergekommenes Haus und versucht, sich an die Einheimischen heranzutasten. Es sind misstrausche Menschen vom eignen Schlag; sie haben so manches vor der Polizei zu verbergen. Hier leben nur noch wenige Verbliebene, die Jungen sind fortgezogen; denn Arbeit findet man hier oben nicht. Ein Heimatverein namens «Pro Loco», ist bemüht, in irgendeiner Form Touristen ins Dorf zu locken, um der Entvölkerung des Ortes etwas entgegenzusetzen. Sie heben bereits alles ausprobiert ... Doch nun kommt ein Mann daher, der ein interessantes staatliches Angebot macht. Nicht jeder hält das für eine gute Idee. Zu den Mitgliedern des Vereins Italiens zählen Donamìnu Stracciu, ein «staatenloser und apokrypher» Dorfdichter, die überaus gottesfürchtige Titina Inganìa, die man noch nie allein mit einem Mann gesehen hat, und Michelangelo Ambéssi, der jedem mit einer Körpergröße über 1,60 m grundsätzlich misstraut. Um sich für das Projekt bewerben zu können, fehlt ein Mitglied im Vorstand des Vereins. Marzio Boccinu sieht seine Chance, sich in seiner neuen selbstgewählten Heimat integrieren zu können. «Einer mit einer festen Arbeit ist in dieser Gegend doch begehrter als George Cloony.» Schrullige Dorfcharaktere aus den Bergen, an denen ein wenig die moderne Zeit vorbeigegangen ist. Intelligent und verschlagen, mit überlieferten Gesetzen, die an die alten Stammesgesetze erinnern, wird hier die Moral hochgehalten – die eigene Moral. Was würde passieren, wenn hier einer eine Frau vergewaltigt? Er würde es nicht überleben ... sein Tod wäre qualvoll. Ehre und Respekt, der Stolz der Sarden, eine tiefsitzende Kultur. Matteo Locci hat hier eine wundervolle Charakterstudie präsentiert, Typen, die man beim Lesen liebgewinnt, zusammen mit Marzio Boccinu, der langsam von den Dorfbewohnern akzeptiert wird. Dazu muss er aber tief in den Mikrokosmos auf den «Tacchi d’Ogliastra» eintauchen. «Bald verlegte er auch seine Malzeiten in die Bar. Genaugenommen hätte die Lizenz, die hinter dem Tresen gut sichtbar aufgehängt war, das Servieren der wenigen Speisen nicht erlaubt. Es handelte sich um ein paar Stückchen Pecorino, ein bisschen Wurst und Salami, die die Stammgäste mitbrachten.» Boccinu erfährt Dinge, die nichts für Polizistenohren sind. Er hat gekündigt, sich von seinem alten Leben verabschiedet. Doch dann steckt ihm jemand, er würde in Gefahr sein, er solle abhauen. Ist der Sarde aus Versehen auf ein Geheimnis gestoßen? Matteo Locci lässt viele Fragen offen, der Leser stochert im Nebel – und plötzlich gibt es wieder eine Spur, worauf sich neue Nebelwände auftürmen. «Auch wenn du mal Polizist warst, du hast keine Ahnung, wie sie wirklich sind. Die meisten hier haben mehr als eine Leiche im Keller, und manche von denen, denen du in der Bar großzügig Runden spendierst, haben einen Keller, der einem Friedhof gleicht.» Eine Überraschung folgt der nächsten ... Die Handlung schafft es, uns in so viele verschiedene Richtungen zu führen, dass der Leser vergisst, einen Krimi in der Hand zu halten. Die Auflösung des Falls ist Nebensache – hier geht es um das Dorfkonstrukt, um die Menschen, ums Überleben in abgelegenen Bergregionen. Ein literarischer Krimi, nicht nur, weil die Sprache und der Stil erstklassig sind, sondern weil Tempo und Spannung stimmen, es ein Genuss ist, in die sardische Kultur einzutauchen, ein Volk mit Tradition und widersprüchlichen Regeln. Ein sardischer Krimi. Eben nicht ein flacher Regiokrimi, der touristisch aus dem Reiseführer abschreibt, sondern Literatur, die mit einer Portion Humor ins Herz der Menschen führt. Empfehlung! Gesuino Némus (der mit richtigem Namen Matteo Locci heißt) wurde 1958 in Jerzu geboren, einem kleinen Dorf auf Sardinien. Heute lebt er in Mailand. Seit frühester Jugend hielt er sich mit verschiedensten Tätigkeiten über Wasser. Für seine mittlerweile fünf Teile umfassende Krimireihe um das sardische Dorf Telévras wurde er in Italien mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Campiello und dem John-Fante-Preis. Nach «Die Theologie des Wildschweins» ist dies der zweite Sardinien-Krimi, der auf Deutsch erscheint.

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