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miss_mesmerized

Posted on 1.11.2021

Michael und Francis wachsen mit ihrer Mutter in einem heruntergekommenen Stadtteil von Toronto auf. Den Vater haben die Brüder quasi nicht kennengelernt und die Heimat der Eltern auf einer der West Indies ist ihnen ebenfalls fremd. Dafür kennen sie jede Ecke von Scarborough – auch Scarbistan, Scarbirien oder Scarlem genannt wegen der bunt zusammengewürfelten Bewohner aus aller Herren Länder. Die Mutter bemüht sich, arbeitet als Putzfrau gleich in mehreren Jobs, um ihre zwei Söhne ordentlich großzuziehen. Zehn Jahre sind vergangen seit jenem unheilvollen Tag und plötzlich meldet sich Aisha wieder, die Michael seither nicht mehr gesehen hat. Er bittet sie zu kommen, damit sie über das reden können, worüber sie so lange geschwiegen haben. Der Besuch seiner ersten Liebe führt ihn gedanklich zurück in jene Zeit, als plötzlich alles kippte und aus seinem fürsorglichen großen Bruder ein wütender junger Mann wurde. David Chariandy unterrichtet Literatur an der Simon Fraser University, auch als Autor ist er in seiner Heimat bekannt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch sein Roman „Francis“ wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Zentrum der Handlung steht das Aufwachsen in finanziell und sozial prekärem Umfeld gepaart mit Erfahrung von Rassismus. Es ist ein Umfeld, das literarisch nicht unbekannt ist, für europäische Leser man jedoch ausgerechnet Toronto, Kanada, unerwartet sein. Ein Land, das üblicherweise als Musterland für Immigration und das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen bei relativ hohem Lebensstandard gilt, ist für ein solches Setting nicht gerade typisch. Der Autor öffnet mit seinem Roman damit eine bislang verschlossene Tür. „(...) je erwachsener Francis wurde, desto unzufriedener wurde er mit der Welt und dem ihm zugedachten Platz.“ Michael und Francis trennt gerade einmal ein Jahr und so wachsen sie zusammen auf. Obwohl kaum älter übernimmt Francis die Rolle des Beschützers, nicht nur die wenigen Monate Altersvorsprung, sondern vor allem sein untrügliches Gespür für Emotionen und eine brenzlige Atmosphäre schützen die beiden Jungs vor ernstzunehmenden Schwierigkeiten. Früh schon machen sie Bekanntschaft mit der Polizei, kommen jedoch unbeschadet aus den Konfrontationen heraus. In der Schule haben sie Chancen, die sie jedoch nicht nutzen und so rinnt ihnen die Zukunft, die vielleicht ein Entkommen ermöglicht hätte, durch die Finger. Francis erkennt schneller als Michael, dass die Welt ihm nichts zu bieten hat und entwickelt eine Wut, die immer weniger kontrollierbar wird. Es beginnt eine Spirale, die sich unweigerlich dreht und in eine Richtung bewegt. Man ahnt, wie es ausgehen muss, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zur Eskalation kommt. Die Handlung springt zwischen der Gegenwart und der Jugend der Protagonisten in den 80er Jahren. Die Elterngeneration hat mit der Emigration zwar nicht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, jedoch ihre eigenen Berufschancen aufgegeben. Für ihre Kinder arbeiten sie hart und kommen doch nicht weit. Obwohl die Mutter erschöpft und verzweifelt ist, kümmert sie sich engagiert und liebevoll um ihre Kinder, erzieht sie, versucht ihnen mitzugeben, was sie im Leben brauchen. Von außen wird sie jedoch wahrgenommen als alleinerziehende Mutter, die es zu nicht mehr als Putzfrau gebracht hat und irgendwann den Lebensmut verliert, dement und wohl auch alkoholabhängig wird. Ein dichter Roman, der trotz der Kürze die Dramatik gleich zweier Generationen ausbreitet und verschiedene Facetten von Leid und Enttäuschung sprachlich unaufdringlich, aber pointiert ins Licht rückt. Eine für mich bis dato weitgehend unbekannte Seite des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse, das offenkundig noch einige Überraschungen bereithält.

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