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anne_hahn

Posted on 6.3.2021

Ein ganz normales Leben "William Stoner begann 1910, im Alter von neunzehn Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, machte er seinen Doktor der Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1956 unterrichten sollte. Er brachte es nicht weiter als bis zum Assistenzprofessor, und nur wenige Studenten, die an seinen Kursen teilnahmen, erinnern sich überhaupt mit einiger Deutlichkeit an ihn." Drei Sätze, die ein ganzes Leben enthalten und am Beginn des 350 Seiten starken Romans stehen. Ich fand mein Exemplar von Stoner letztes Jahr in einer Bücherbox, es war einer der ersten Lockdown-Spaziergänge mit meiner Freundin U., welche mir immer wunderbare Lesetipps gibt. Sie zeigte auf das an einen Krimi gemahnende Cover mit dem Schattenriss eines Mannes und meinte, das musst du lesen! Es ist so toll, weil eigentlich nichts passiert. Bereits 1965 in den USA veröffentlicht, wurde dieser dritte von vier Romanen des Radiosprechers, Hörspielautors und Assitenzprofessoren John Williams erst nach seiner Neuauflage 2006 gefeiert. Meine fünfte Auflage des DTV-Taschenbuches von 2015 wurde von Bernhard Robben aus dem Amerikanischen übertragen, der über die Magie von Stoner schreibt: "...ehe John Williams selbst Professor an der University von Missouri wurde, hat er in Texas lange fürs Radio gearbeitet. Seine Zuhörer waren überwiegend Farmer, die meist abends, müde von der Arbeit, das Gerät einschalteten, und wenn er dann nicht mit den allerersten Sätzen ihr Interesse weckte, waren sie vermutlich bald eingeschlafen. Und eben dies ist John Williams’ genialer Streich zu Beginn des Buches. Er hält das Schild ›ein ganz normales Leben‹ dem Leser so direkt vor die Nase, dass der sich sofort fragt: Stimmt das? Gibt es das überhaupt? Ein ganz normales Leben? Und schon hat uns der Text in seinen Bann gezogen, sind wir noch am Anfang und doch bereits mitten im Buch." Mich hat Stoner in seiner Lakonie begeistert. Wir folgen den Schritten eines stillen Farmersohnes in die Welt der Gelehrsamkeit - in der er als mittelmäßiger Lehrer verharrt. Mit einem Alltag voller Wiederholungen, kleinen Siegen, Kämpfen und: Glücksmomenten. Nach siebzig Seiten nähert sich Stoner seiner zukünftigen Frau: "Erst Jahre später ging ihm auf, dass sie ihm in den anderthalb Stunden ... mehr über sich erzählt hatte, als sie es je wieder tun sollte. Kaum war es vorbei, spürte er, dass sie einander auf eine Weise fremd waren, die er nicht erwartet hätte; und er wusste, er hatte sich verliebt." Leise verläuft das Leben Stoners. Er nimmt hin, was er nicht ändern kann, er nimmt an, was sich ihm darbietet. Und findet erfüllte Stunden mit seiner Tochter Grace, die malend in seinem Arbeitszimmer sitzt, während die Mutter lange fort ist. Er wird gequält, lässt sich quälen und wir sind bei allem hautnah dabei. Sogar in seinen letzten Stunden, die er friedlich sinnierend verbringt, sind wir bei ihm und ich hoffe, es war für Autor selbst so, wie FAZ schrieb, "er hatte seinen Frieden mit der Welt geschlossen, als er 1994, zweiundsiebzig Jahre alt, starb – einig mit sich selbst wie Stoner." "Er hatte ein Lehrer sein wollen und war einer geworden, doch wusste er, dass er über weite Strecken seines Lebens nur ein mittelmäßiger Lehrer gewesen war. Er hatte von einer Art Integrität geträumt, einer Art allumfassenden Reinheit, aber Kompromisse und die grellen Zerstreuungen des Trivialen gefunden. Er hatte Weisheit erstrebt und am Ende langer Jahre Unwissenheit erlangt. Und was noch?, dachte er. Was noch?"

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