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gwyn

Posted on 6.1.2021

Der Anfang: «Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben.» Der erste Satz ist hervorragend, deutet gleich das folgende Unheil an; der glorifizierte Vater wird entthront. Der Roman ist gut, doch letztendlich erreicht er für mich nicht Stärke der Neapolitanischen Saga. Auch diese Geschichte spielt in Neapel, dieses Mal in den 90-Ern. Insgesamt ist der Ort aber unwichtig, die Story könnte in jeder Großstadt spielen. Die Stärke der Saga hatte für mich das politisch-gesellschaftliche Panorama, das hier völlig ausgeklammert ist. In dieser Geschichte berichtet eine pubertierende Ich-Erzählerin aus ihrer Sicht von ihrem verstörenden Weg ins Erwachsenenleben, glaubhaft in den Charakteren, ohne Frage. Doch irgendwie ließ mich das Gefühl nicht los, das alles hatte ich bei Ferrante schon einmal gelesen. Ohne die Saga hätte ich diesen Roman mit Sicherheit besser bewertet – indessen mir fehlte der Sog, weil alles so bekannt war, ich wartete auf die feinen Wendungen und das Allumfassende. «Von meinem Zimmer aus hörte ich nur, dass sie ihm kurz von den Klagen der Lehrer berichtete und zu meiner Rechtfertigung meine beginnende Pubertät ins Feld führte. Doch er unterbrach sie, und in einem Ton, den er mir gegenüber nie verwendete – noch dazu im Dialekt, der bei uns zu Hause tabu war –, entfuhr ihm das, was er garantiert nicht hatte laut sagen wollen: ‹Mit Pubertät hat das nichts zu tun. Sie kommt nun ganz nach Vittoria.» Giovanna ist 13 Jahre alt, lustlos, der einst guten Schülerin fällt das Lernen schwer, sie sieht keinen Sinn darin. Sie meint, sie wäre dumm und hässlich; die Brüste wachsen, sie bekommt ihre Menstruation, Schweißgeruch verunsichert sie. Stabilität zieht sie aus ihren Eltern, die Mutter Lehrerin an einem Gymnasium, der Vater, Andrea, Lehrer für Geschichte und Philosophie am namhaftesten Gymnasium Neapels. Doch dann die Aussage ihres Vaters: sie gleiche ihrer hässlichen, boshaften Tante. Eine Tante, von deren Existenz sie nichts weiß – zu allem Übel verlässt kurz darauf der Vater die Familie, zieht zur besten Freundin der Mutter – zu Giovannas besten Freundinnen, wird nun deren «Vater». Die Mutter versinkt in Depression, beschäftigt sich in der Trauer nur noch mit sich selbst, hält den Vater weiter hoch, liebt ihn noch immer. Giovanna muss die Klasse wiederholen – Seile gekappt nach allen Seiten. Sie spuckt auf das Foto des Vaters, verachtet beide Elternteile. «Über die Eltern meines Vaters wusste ich dagegen so gut wie nichts. Sie waren nur bei seltenen Anlässen – einer Hochzeit, einer Beerdigung – in meinem Leben aufgetaucht und jedes Mal in einem Klima so unechter Herzlichkeit, dass ich nichts daraus mitnahm als das Unbehagen, das solche Pflichtbesuche verursachen: Sag deinem Großvater guten Tag, gib der Tante einen Kuss. Für diese Verwandtschaft hatte ich mich also nie groß interessiert, auch deshalb nicht, weil meine Eltern nach diesen Treffen gereizt waren und sie einmütig wieder vergaßen, als wären sie in ein billiges Schauspiel geraten.» Über die Verwandten ihrer Mutter weiß sie viel, kennt sie alle, sie wohnen im oberen Teil der Stadt wie sie selbst, auf den Hügeln des Vomero. Verstorben die «Großeltern vom Museum» (sie wohnten gleich beim Museum), zu denen man guten Kontakt pflegte. Die Eltern und Verwandten des Vaters blieben für Giovanna namenlos, man begegnete sich nur, wenn die Pflicht dazu zwang. Wer ist diese Vittoria, die in keinem Fotoalbum zu finden ist, fragt sich Giovanna. Wem soll sie ähnlich sein? Heimlich nimmt sie Kontakt zur Tante auf. Eine bissige grantige Frau, die mit Wut im Bauch durch die Welt geht. «Die Tür ging auf, eine ganz in Hellblau gekleidete, hochgewachsene Frau erschien, die dichte Mähne pechschwarzer Haare im Nacken zusammengebunden, dünn wie eine gesalzene Sardelle und trotzdem mit breiten Schultern und großem Busen. Sie hielt eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, hustete, sagte, zwischen Italienisch und Dialekt schwankend. ‹Was ist denn, ist dir schlecht, musst du pissen?› ‹Nein.› ‹Und wieso klingelst du dann zweimal?› Ich murmelte. ‹Ich bin Giovanna, Tante Vittoria.› ‹Weiß ich, dass du Giovanna bist, aber wenn du nochmal Tante zu mir sagst, mach lieber auf der Stelle kehrt und hau ab.» Giovannas Vater Andrea sei an ihrem Unglück schuld, mitschuldig am Tod ihres Geliebten, Enzo, den Vittoria bis heute abgöttisch liebt, wie sie immer wieder beschwört. Man muss dazusagen, Vittoria hatte damals ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann – was ihr Bruder Andrea als höchst unmoralisch verurteilte. Verstörend für Giovanna – er, Andrea, der jahrelang ein Verhältnis mit der besten Freundin der Mutter unterhielt, nun sogar ausgezogen ist! Noch verstörender – Vittoria lebt mit der Witwe von Enzo und deren Kindern zusammen. Jeder will Giovanna auf seine Seite ziehen, manipulieren, erzählt alte Geschichten. Doch was ist die Wahrheit? Zumindest, so stellt Giovanna fest, was gesagt wird, wird nicht unbedingt auch gelebt. Die glorifizierte Vorstellung von ihrer Kernfamilie bekommt Risse, die Idealisierung zerbricht. Das Leben der Erwachsenen ist verlogen! Und dann ist da noch dieses Armband der Großmutter, das Vittoria, so behauptet sie, der Nichte zur Geburt geschenkt habe, das Andrea aber seiner neuen Lebensgefährtin geschenkt hat. Die bürgerliche Giovanna ist fasziniert von der «Prollseite» der Verwandtschaft und tingelt zwischen beiden Seiten hin und her, beginnt ihr eignes Lüenspiel. «Ihre Fähigkeit zu lieben hatte sie wohl schon lange eingebüßt, wahrscheinlich bei Enzos Tod, aber ihre Fähigkeit zu hassen war scheinbar grenzenlos.» Eine Coming-of-Age-Geschichte, die sich mit der Schwierigkeit des Erwachsenwerdens befasst. Körperliche Veränderungen, die Suche nach dem ersten Sex, die nach einer reinen Liebe. Als Kind bekommt man eingebläut, dass die Lüge die schlimmste Verfehlung ist – und dann lernt man, wenn man älter wird, dass das ganze Leben aus Lüge besteht. Selbsthass in der Pubertät, Selbstzweifel, die Suche nach der Identität bis hin zum Hineingleiten ins Erwachsenenleben – ein Findungsprozess, einer des Ausprobierens. «Warum reicht ein einziges Adjektiv nicht aus, um zu definieren, was Sex ist, man braucht viele – peinlich, geistlos, tragisch, komisch, angenehm, abstoßend –, und nie nur eines, sondern alle gleichzeitig.» Ferrante hat hier wundervolle Figuren erfunden, glaubhaft, authentisch. Giovanna, die Icherzählerin blickt als Erwachsene zurück auf ihre Jugend, der Blick von damals vermischt sich mit dem der reifen Giovanna. Es geht hier nicht nur um Heuchelei und doppelte Wahrheiten, natürlich geht es wieder um Frauenfiguren, um Chauvinismus. Andrea, der in einer besseren Wohnung wohnt, mit noch mehr Bequemlichkeit, mit Haushälterin, drei Frauen, die ihn bewundern – von Giovana wird das auch verlangt, sie wäre die Vierte. Dagegen die Mutter zuhause bei Givanna, die in Depression verfällt, den Vater weiter anbetet, stell das Mädchen fest: «Wie viel Macht Männer doch haben, sogar die erbärmlichsten». Ebenso erlebt sie die jungen Männer im Pascone, die sie um den Finger wickeln kann, die nur Sex im Kopf haben, dann kopflos werden. Und dann verliebt sie sich in einen charismatischen jungen Mann aus dem Pascone, unerreichbar, denn der ist verlobt mit ihrer neuen Freundin, ein intellektueller Aufsteiger aus dem Pascone, der in Mailand studiert – genau der Typ, der früher einmal ihr Vater war. Eine reiner Charakter, einer, zu dem man aufsehen kann. Doch auch der entpuppt sich als Lüge. Der Roman ist gut, ohne Frage. Kann man ihn mit der Neapolitanischen Saga vergleichen? Nein – darum sage ich gut. Aber der Sound, die Figuren, das Setting, schwingen natürlich mit und hier stellt sich Gleichklang ein. Dann bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als zu vergleichen. Und an dieser Stelle fehlt eben das politisch-gesellschaftliche Panorama – was mich als Leserin enttäuscht zurücklässt. Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga – bestehend aus «Meine geniale Freundin», «Die Geschichte eines neuen Namens», «Die Geschichte der getrennten Wege» und «Die Geschichte des verlorenen Kindes» – ist ein weltweiter Bestseller.

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