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Lenislesestunden

Posted on 18.10.2020

"Trotz dieses ungewohnten Anblicks fiel es unseren Mitbürgern offensichtlich schwer zu verstehen, was mit ihnen geschah. Es gab die gemeinsamen Gefühle wie Trennung oder Angst, aber die persönlichen Sorgen standen auch weiterhin im Vordergrund. Noch niemand hatte die Krankheit wirklich akzeptiert. Die meisten waren vor allem empfindlich für das, was ihre Gewohnheiten störte oder ihren Interessen schadete. Darüber waren sie gereizt oder verärgert, und das sind keine Gefühle, die man der Pest entgegensetzen konnte." - S. 89 "Die Pest" von Albert Camus war nicht ohne Grund zu Beginn der Corona-Pandemie vergriffen und musste nachgedruckt werden. In seinem erfolgreichsten Roman beschreibt der Philosoph eine Stadt im Ausnahmezustand: In Oran wütet die Pest - mit der Konsequenz, dass die Stadt komplett von der Außenwelt abgeschnitten wird. Ein namenloser Erzähler beschreibt die Auswirkungen der Katastrophe, in erster Linie aus der Perspektive mehrerer, sehr unterschiedlicher Hauptcharaktere, von denen der Arzt Rieux im Vordergrund steht. Doch auch der generelle Umgang der Gesellschaft mit der Bedrohung sowie das Handeln der Verwaltung und der Politik kommen zur Sprache. Es ist kaum möglich, dieses 1947 erschienene Buch zu lesen, ohne Parallelen zur gegenwärtigen Situation zu ziehen und sich mit den Figuren zu identifizieren. Ich fand es insbesondere spannend, die Sicht eines Arztes kennenzulernen. Die Verhaltensweisen und Denkmuster der Charaktere enthalten viele hochinteressante philosophische Ansätze, der Schreibstil ist etwas altertümlich, aber dennoch spannend, das Buch hat ich emotional total erreicht und ich habe beim Lesen mehr als einmal schlucken müssen. Mein Textmarker hat förmlich geglüht. Ich kann euch diesen Klassiker nur uneingeschränkt empfehlen und ans Herz legen. "Unsere Mitbürger waren mit der Zeit gegangen, sie hatten sich angepasst, wie man so sagt, weil es anders nicht ging. Natürlich bewahrten sie noch die Haltung des Unglücks und des Leids, aber sie fühlten deren Stachel nicht mehr. Im Übrigen meinte Doktor Rieux zum Beispiel, eben das sei das Unglück und die Gewöhnung an die Verzweiflung sei schlimmer als die Verzweiflung selbst." - S. 206

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