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stefanie aus frei

Posted on 15.9.2020

Absolute Leseempfehlung: Ein einzigartiges Buch wie ein Schlag, voller Herzblut Ich kann Fußball nicht leiden, mag keine Drogen, Hooligans noch weniger – dieses Buch geht um genau dieses Milieu und doch um viel mehr. Es geht um Familie und Freundschaft, um Leidenschaft und Alltagstrott, Treue, Pflicht, Liebe – Versagen, Angst, Hoffnungslosigkeit. Man könnte jetzt sagen, Fußball und die Hooligans seien nur Vehikel für die Themen, aber das trifft es auch nicht – das Buch hätte weder über einen Golfer noch über einen Boxer geschrieben worden sein können. Ich habe es wie im Rausch verschlungen. Grandios. Mutig – auch vom Verlag, weil man natürlich erst einmal die Hemmschwelle der Leser (Leserinnen!) durchbrechen muss. Einzigartig, oder, um die Werbung zu bemühen: einzig, nicht artig. Hooligans schlagen sich oder vielmehr (bevorzugt, nach Regeln) einander – die Sprache ist (nicht im ganzen Buch) rau. Keine Sprache, die ich (sonst) lesen will – hier passt es. Genau so. Trägt das die Geschichte? Ich hatte Angst vor zu viel Wiederholung rein über die „Matches“, aber: das trägt. Autor Philipp Winkler kann das, kann viel viel mehr: Wer zweifelt, bitte unbedingt bis, sagen wir, S. 118 durchhalten – spätestens da zeigt sich, WAS er alles kann. Poetische Ansätze, Rückblicke, die langsame Entfaltung der GANZEN Geschichte(n) hinter der Geschichte. Ich-Erzähler Heiko erinnert sich an seine erste Begegnung mit Yvonne, die seine Freundin wurde: “Aber es ging auch mehr um ihr Gesicht. So fucking schön! Ihre Wangen waren richtig glatt, so dass man fürchten müsste abzurutschen, wenn man sie streichelte. Sie liefen zum Mund hin schmaler zu. Ein niedlicher, kurzer Mund. Nicht so breitmaulfroschmäßig wie bei so vielen anderen. Ihre Nase ganz schmal und zart. Kaum Nasenlöcher. Sowieso ist alles an ihr so schmal. Wirkt so zerbrechlich.“ S. 118 Heiko hat Zeit, viel Zeit neben seinem Job im Gym seines Onkels, der ihn in die Szene brachte, neben Hilfsarbeiten beim Füttern spezieller Tiere von Arnim, bei dem er dafür wohnt, und neben seinen Kumpels und gelegentlich auch seiner Familie. Alles ändert sich gerade. „Dann steige ich in den Polo und fahre zur Midas-Spielo [Spielothek], die erst um sechs Uhr morgens für eine Stunde schließt, um durchgesaugt zu werden. Ich setze mich an den Tresen, bestelle mir einen Kaffee nach dem anderen, spiele kein einziges Mal, und wenn ich zwischendurch auf meinen Unterarmen einnicke, fühlt es sich danach an, als wäre ein Jahrzehnt vergangen und wir wären alle alt und grau und könnten endlich auf unser Leben zurückblicken und sagen: Wir bereuen nichts.“ S. 147 Es gibt viel Hoffnungslosigkeit – und es gibt die Kumpels. Die Hooligans verabreden sich mit denen anderer Clubs zu „Matches“, außerhalb vom eigentlichen Spiel, ein Schlagabtausch im engeren Sinn nach festen Regeln, gleiche Personenzahl, es wird dokumentiert, ohne „Zivilisten“ – wer am Boden liegt und nicht aufsteht, wird nicht mehr geschlagen, ist aber raus. „Es war so ein affengeiles Gefühl, weiß ich noch ganz genau, wie der Pulk an Hools hinter mir herlief. Ich sah mich die ganze Zeit um und fühlte mich wie der Anführer einer verdammten Horde von Nashörnern oder sowas.“ S. 154 Die anderen, das sind die Polizisten und die Spießer – aber auch die Rechten („Natzen“), die Veranstalter von Tierkämpfen oder die Ultras (etwas gelernt, für mich war das „alles eins“). Aber es läuft einiges schief – manche Familien sind gebeutelt von Schicksalsschlägen, andere geben einfach auf. „Hätten wir. Oder. Hätte ich das Ganze nicht so versaut,…“ S. 193 Es wird geschlagen in dem Buch, aber darum geht es nicht. Die Geschichte selbst landet mit einem harten Einschlag beim Leser, es fließt Blut, aber immer geht es um das Herzblut der Protagonisten, die meist eher niemandes Hauptperson sind, aber doch ehrlicherweise nicht so weit weg sind – außer mir mögen die meisten Deutschen Fußball, die beschriebenen Schicksalsschläge würden jeden aus der Bahn werfen. Vielleicht wirkt das Buch gerade deshalb, weil man das zumindest im Hinterkopf weiß. Unbedingt selbst lesen.

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