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Bris Buchstoff

Posted on 15.2.2020

Schwebezustände Ein Vater verliert seinen Sohn: Willie Lincoln ist 11 Jahre alt als er stirbt. Zeitgleich mit seinem Tod wütet der Bürgerkrieg der Nord- gegen die Südstaaten Amerikas und Willies Vater steht in der Pflicht, denn er ist der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten, die sich in der Frage der Abschaffung der Sklaverei zu spalten drohen. Ein Staatsmann hat Würde zu wahren – zumindest zu Lincolns Zeiten war das so – er hat Verpflichtungen und nimmt diese wahr. Doch gleichzeitig hat er Angst. Angst um das Leben seines Sohnes. Obwohl der behandelnde Arzt eine Genesung in Aussicht stellt, steigt das Fieber und Willie wird immer schwächer. Auch Willies Bruder ist krank, fiebert, doch Willie ist dem Vater aufgrund seines ihm ähnelnden Wesens näher. Natürlich sorgt sich Abraham Lincoln auch um den zweiten kranken Sohn, auch ihn liebt er, aber irgendwie spürt er, dass Willie schon nicht mehr so ganz zu seiner Welt gehört, sich bereits jetzt, fiebernd, im Schwebezustand befindet. Was es heißt, einen oder mehrere geliebte Menschen zu verlieren, kann man tatsächlich erst nachempfinden, wenn ein solches Ereignis eintritt. Aber wenn es um die eigenen Kinder geht, dann sprechen wir noch einmal über eine ganz andere Situation. Joan Didion spricht in ihrem klugen, um das Kernthema des eigenen Sterbens mäandernden Buch Blaue Stunden über den Tod ihrer Tochter (der schrecklicherweise auch noch gerade mal 20 Monate nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes eintrat) und macht klar, was wir meinen, wenn wir über Sterblichkeit sprechen: den Tod unserer Kinder. Darüber will man prinzipiell nicht nachdenken und genauso wenig es erleben und trotzdem passiert es. Auf den Tod gefasst ist man nie, egal, ob er plötzlich eintritt oder man schon länger am Bett des Sterbenden gesessen war, um den letzten Weg zumindest soweit zu begleiten, wie es möglich ist. Ist er dann eingetreten und bekommt man die Nachricht überbracht, mag man es trotzdem nicht glauben. Es kann einfach nicht sein. Auch wenn man den Leichnam des Verstorbenen gesehen hat, könnte es doch sein, dass das alles nur ein Irrtum ist. So ging es Joan Didion, als ihr Mann plötzlich einen Herzinfarkt erlag, so geht es Hans Vollmann im Bardo, der von einem Holzbalken erschlagen wurde und denkt, er wäre nur krank oder Roger Bevins III, Weggefährte Vollmanns, der Selbstmord aus verschmähter und nicht zu lebender Liebe beging, der denkt er würde noch gerettet werden. Einzig der dritte der Hauptgeister im Bardo, der Geistliche Reverend Everly Tomas weiß um die Wahrheit, kann aber nicht loslassen und verweilt deshalb trotzdem weiterhin im Bardo, diesem buddhistischen Ort zwischen Diesseits und Jenseits, der wegen seiner Dämonen nicht eben gemütlich anmutet. Während die Welt Lincoln zum Vorwurf gemacht hatte, er habe Feierlichkeiten abgehalten – die Saunders durch kurz gehaltene, widersprüchliche Augenzeugenberichte von Wegbegleitern und Freunden Lincolns beschreibt – und keinen Gedanken an den Bürgerkrieg oder den mit dem Tod ringenden Sohn verschenkt, stellt Saunders das historisch verbriefte Ereignis, das die Trauer Lincolns bezeugt, in den Mittelpunkt: Der Präsident verbringt eine Nacht auf dem Friedhof, um Abschied von seinem geliebten Sohn zu nehmen. Saunders lässt ihn dabei Willies Sarg öffnen, den Sohn noch ein letztes Mal in den Armen halten – was da bei der Lektüre vor das geistige Auge tritt ist natürlich eine andere Fassung von Michelangelos Pietà – und schlussendlich begreifen, dass er Willie los lassen muss. Und genau das muss er, damit Willie dem Bardo – und damit den dort ansässigen Dämonen – entkommen kann. Doch Willie selbst muss erst begreifen, dass sein Vater nicht gekommen ist, um ihn wieder mit nachhause zu holen. Was sich George Saunders hat einfallen lassen, um die Trauer eines Vaters um seinen kleinen Sohn glaubhaft zu zeigen und eine ungeheure Vielstimmigkeit dabei einzuarbeiten, ist durchaus sehr klug. Doch einen Sog, wie es die meisten – und vor allem die professionellen, feuilletonistischen Leser – empfunden haben, hat das bei mir nicht ausgelöst. Ich habe diesen Kniff als sehr intelligent erkannt, dafür dass Saunders sein Problem so smart gelöst hat, zolle ich ihm Respekt, aber ich bezweifle, dass ein Romandebüt dieser Form, stammte es nicht aus der Feder eines so arrivierten Kurzgeschichtenautors wie George Saunders, einen Verleger gefunden, geschweige denn den Man Booker Prize gewonnen hätte. Mich hat die sich immer wieder gleichmäßig wiederholende Struktur eingelullt, um nicht zu sagen ermüdet. Ich habe mich ertappt, nicht mehr richtig zu lesen, zu springen, gar Seiten zu überfliegen und mich dabei gefragt, was an diesem Werk die Lobeshymnen rechtfertigt, die allerorten darauf gesungen werden. Wie gesagt, die Idee ist famos, der Stil wunderbar, aber diese ständigen kurzen Textabschnitte, nicht meins und für mich kein Roman. Auch wenn der Inhalt – dieser überall vorhandene Schwebezustand – sich in der Struktur widerspiegelt, ist es einfach nur eine, zwar innovativ anmutende, Weise zu vermeiden, sich mit zu vielen Strängen in ein unüberschaubares Gewirr von Fäden zu begeben, die am Ende nur noch lose durch die Gegend flattern. Macht man sich ein wenig schlau darüber, wie lange Saunders bereits mit dem Problem gekämpft hat, nach einer für ihn geeigneten Form suchte, das in den Fokus zu stellen, was ihm vorschwebte, dann hat er sicher für sich das adäquateste Mittel gefunden. Roman würde ich seinen Text dennoch nicht nennen wollen, was natürlich rein literaturwissenschaftlich betrachtet nicht stichhaltig ist. Vielleicht bin ich zu abgebrüht oder vielleicht kann ich mir im Gegenteil zu gut vorstellen, wie schrecklich es sein muss, wenn das eigene Kind vor einem geht. Ich würde es nicht ertragen, wäre es bei meinem Sohn so, das weiß ich einfach. Es wäre ein Schmerz, der nie verginge, den niemand fühlen müssen sollte. Das müssen mir auch keine Geister klar machen, die noch halb im Jenseits weilen, weil sie nicht loslassen können. Oder vielleicht haben es mir andere Autoren schon vorher klar gemacht. Joan Didion zum Beispiel. Oder J.R.R. Tolkien. Es mag auch sein, dass ich zu viele Geschichten über sterbende oder todkranke Kinder und Jugendliche im wahren Leben erfahren habe. Denn im Prinzip ist es immer gleichgültig, wer die Eltern des Kindes sind: Politiker, Prominente oder Könige oder Menschen wie Du und ich. Denn der Tod macht uns alle gleich. Wie J.R.R. Tolkien König Theoden am Grab seines Sohnes Theodred sagen lässt: "Kein Vater sollte sein eigenes Kind zu Grabe tragen" Und natürlich auch keine Mutter.

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