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Simone Scamander

Posted on 31.1.2020

Worum geht's? Kaia ist erstarrt. Seit ihr Bruder gestorben ist, ist sie festgefroren. Festgefroren in der Vergangenheit, die sie niemals vergessen wird. Weder ihre Freunde noch ihre Mutter, die ihre eigenen Sorgen durch Alkohol zu verdrängen versucht, können Kaia helfen. Aber dann kommt plötzlich ein wilder Junge an Kaias Schule. Er redet nicht, ist durch und durch unbezähmbar und niemand weiß, woher er kommt – und doch ist er der Einzige, der Kaia zu verstehen scheinen. Durch ihn löst sich Kaias Starre. Durch ihn fasst sie den Mut, sich wieder dem Leben zu stellen. Eine Freundschaft voller lauter Fragen beginnt, auf die es nur stille Antworten zu geben scheint. Meine Meinung: Man muss genau hinschauen, damit man sie nicht übersieht: die kleinen, feinen Büchlein, die sich bescheiden im Hintergrund halten. Die sich in den Buchhandlungen schüchtern zwischen den dicken Schmökern verstecken. Die nicht mit den ganz Großen um Platzierungen auf Bestsellerlisten kämpfen wollen. Sie haben wunderschöne Geschichten zu erzählen, die berühren und bewegen, nachdenklich stimmen und im Kopf bleiben. Aber sie sind zurückhaltend, scheu, leise. Sie kommen nicht auf dich zu, umgarnen dich nicht mit Witz und Charme, die beste Unterhaltung versprechen. Sie wollen dir von sich erzählen, dir allein eine Geschichte zuflüstern, die du nicht mehr vergessen wirst. Aber es liegt an dir, sie zu entdecken. Tom Averys Debüt „Der Schatten meines Bruders“ ist ein solches Buch. Es ist ein zierlicher Roman, den man mit seinen knapp 150 Seiten in einer Buchhandlung schnell einmal übersehen kann. Dabei steckt auf den wenigen Seiten eine Geschichte, die viel mehr zu bieten hat als so mancher Bestseller. Es ist ein kleines Meisterwerk, das es verdient hat, beachtet und gelesen zu werden. „Der Schatten meines Bruder“ erzählt von der Schwere, die einen überfällt, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Von der Trauer, die einen erstarren und verrückt werden lässt. Aber es erzählt zugleich auch von dem Mut, etwas Neues anzufangen. Den Verlust nicht zu vergessen, aber hinter sich zu lassen. Wieder zu lächeln und zu leben. „Der Schatten meines Bruders“ erzählt die Geschichte von dem jungen Mädchen Kaia – oder vielmehr: Die Geschichte wird von ihr niedergeschrieben. In dem Roman bekommt man Kaias Aufzeichnungen zu lesen, die sie für sich selbst aufgeschrieben hat. Auf intensive und eindringliche Art und Weise nimmt man an Kaias Leben teil, das man seit des Todes ihres Bruders schon gar nicht mehr als Leben bezeichnen kann. Sie hat all ihre Freunde verloren, findet in der Schule keinen Anschluss mehr und ihre Mutter ertränkt ihre eigenen Sorgen mit Alkohol. Als ein seltsamer Junge an Kaias Schule kommt, ändert sich alles, ganz plötzlich und schleichend zugleich. Der mysteriöse Junge ist wild und stumm. Er redet nicht, hört dafür aber ganz genau zu, und nimmt die Welt durch seine wilden Augen ganz anders wahr. Auf stille Art werden er und Kaia zu Freunden, besten Freunden, und durch ihn beginnt das Mädchen langsam, aber sicher wieder zu leben. „Der Schatten meines Bruders“ zeigt, wie wichtig Freundschaft ist und was sie bewirken kann. Ihn und Kaia verbindet eine ganz besondere, innige Beziehung, die man nur schwer beschreiben kann. Man muss sie lesen, selbst erleben, um verstehen zu können, warum und wieso ausgerechnet ein wilder Junge und ein festgefrorenes Mädchen ein unbezwingbares Duo abgeben, das einen tief in der Seele berührt. „Der Schatten meines Bruders“ behandelt mit Themen wie dem Tod, der Trauer und der Flucht in eine Sucht ohnehin sehr schwerwiegende und schwierige Aspekte. Tom Avery geht jedoch noch einen Schritt weiter und stellt diese auf eine unverblümte, erschreckend realistische und zugleich tief bewegende Weise dar, die einem eine Gänsehaut beschert. Auch als erwachsene Leserin, die nicht mehr in die angesprochene Leserschaft von 12-15 Jahren passt (obwohl ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen möchte, dass „Der Schatten meines Bruders“ alles andere als bloß ein Jugendbuch ist und keinesfalls an Altersgrenzen gebunden ist!), war ich von einigen expliziten Szenen sehr geschockt. Tom Avery erzählt die Geschichte durch die Augen eines jungen Mädchens, authentisch, realitätsnah und glaubhaft, aber eben auch knallhart. „Der Schatten meines Bruders“ ist ein Buch, das nicht nur Jugendliche ein wenig an ihre Grenzen treibt. Sanfte Gemüter sollten Averys Roman daher vielleicht nicht alleine lesen. Tom Avery konzentriert sich in seinem Roman auf das, was wirklich zählt: die Momente, in denen die Trauer am größten ist, und jene, in denen sich alles ändert. Avery holt nicht weit aus und erzählt in „Der Schatten meines Bruders“ nicht die komplette Lebensgeschichte seiner Protagonistin Kaia. Man darf sie nur für eine kurze Zeit durch ihr Leben begleiten und nimmt nur an den wichtigsten Sequenzen teil. Viele Dinge, wie etwa ihre früheres Leben oder das ihres Bruders, werden nur angeschnitten und nicht ausführlich behandelt. Avery lässt seine Leser über viele Fakten und Geschehnisse im Unklaren, er lässt viele Fragen unbeantwortet. Was einen in vielen Büchern tatsächlich nervt, ist in „Der Schatten meines Bruders“ allerdings genau richtig. Alles andere hätte gar nicht in das Buch gepasst und vom Eigentlichen abgelenkt: Von dem, worauf es ankommt. Tom Avery unterteilt Kaias Geschichte nicht in klassisch durchnummerierte Kapitel, sondern in 10 bewusste gesetzte Abschnitte, die sowohl Fortschritte als auch Rückschritte für das Mädchen bedeuten können. Jeder dieser Abschnitte wird durch eine von Kaias Lebensregeln („6. Lebensregel: Pass gut aus – du könntest etwas verpassen“, S. 85) eingeleitet, die sich mitsamt ihrer Bedeutung in das eigene Gedächtnis brennen. Die Worte, die Avery für Kaia gewählt hat, erscheinen im ersten Moment vielleicht gar nicht so bedeutsam, doch je intensiver man in die Welt des verletzten Mädchens abtaucht, desto deutlicher und schwerer lastet jedes einzelne von ihnen auf dem eigenen Herzen – und desto prägender ist das, was nach der letzten Seite mit einem selbst geschieht. Fazit: „Der Schatten meines Bruders“ von Tom Avery ist ein kleines Meisterwerk, das jeder gelesen haben sollte. Es ist eine berührende und bewegende Geschichte über den Tod und die Trauer, aber auch über den Mut, etwas hinter sich zu lassen und wieder zu leben. Kaia und der wilde, stumme Junge sind ein Duo, das einen tief im Herzen, aber auch im Kopf bewegt. Tom Averys Debüt ist unbeschreiblich traurig und schön zugleich, ein Buch, über das man viel reden, dem man aber mit keinem Wort gerecht werden kann. Für mich ein absolutes Must-Read! Für „Der Schatten meines Bruders“ vergebe ich 5 Lurche.

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