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DasIgno

Posted on 28.9.2019

Berlin, Sommer 1934. Ein SA-Mann wird brutal ermordet. Aus dem Fall wird sofort einer für die Gestapo. Deren Sonderkommission, der Gereon Rath zugeteilt und die von seinem ehemaligen Partner Reinhold Gräf geleitet wird, sieht die Täter in einer kommunistischen Untergrundgruppe. Es bleibt nicht bei dem einen Mord, weitere SA-Männer folgen. Rath erkennt in der Opferwahl Zusammenhänge zum früheren Ringervereinsmilieu, doch die Gestapo will davon nichts wissen. Einmal mehr ermittelt Rath auf eigene Faust und begibt sich damit nicht nur seitens der Gestapo in gefährliches Fahrwasser, auch Doktor Marlow, der frühere Untergrundkönig Berlins, tritt wieder in sein Leben. ›Lunapark‹ ist der sechste Fall in Volker Kutschers Zyklus ›Gereon Rath‹. Das Buch erschien 2016 bei Kiepenheuer & Witsch. Es umfasst insgesamt 97 recht kurze Kapitel auf 556 Seiten. ›Lunapark‹ spielt zwischen Mai und August 1934, historisch also ab Goebbels’ sog. ›Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster‹ bis zum Tode Hindenburgs und der damit bevorstehenden Vereinigung der obersten Staatsämter in Adolf Hitler. In den Zeitraum fallen die Säuberungsaktion gegen die SA – verklärt als ›Nacht der langen Messer‹ – und die Marburger Rede Franz von Papens. Sämtliche Ereignisse finden Raum in der Handlung, die Säuberungsaktion gegen die SA sogar erheblichen. Kutscher folgt damit seiner Strategie, die fiktive Handlung so stark wie möglich in die realhistorische Entwicklung einzubetten. Wie schon ›Märzgefallene‹ simuliert auch ›Lunapark‹ den zunehmenden Druck innerhalb der Gesellschaft erschreckend gut. Die Bruchstelle, die sich speziell innerhalb der Familie Rath bildet, wird größer. Gereon ist nach wie vor politisch weitgehend gleichgültig, solange die Auswirkungen der Politik nicht polizeilich relevant werden. Und auch da kommt es ein Stück weit immer noch drauf an, wen es trifft. Die Kommunisten beispielsweise seien ja auch keine Kinder von Traurigkeit. Die Juden scheint er weitgehend auszublenden. Charly hingegen kann sich weiterhin nicht mit dem neuen Deutschland arrangieren. Ihre Anwärterschaft bei der Kriminalpolizei hat sie gekündigt und ihr Rechtsreferendariat bei ihrem Studienfreund Guido wieder aufgenommen. In diesem Zuge lernt sie das neue Deutschland am eigenen Leib kennen. Zuhause bleiben die Probleme mit Gereons Gleichgültigkeit. Und dann ist da noch Fritze, der Pflegesohn der beiden, der zunehmend Sympathien zur HJ entwickelt. Konfliktpotenzial ist also zur Genüge vorhanden und es tut auch diesem Band gut, dass sich die familiären Konflikte nicht mehr auf ständige Streitereien zwischen Charly und Gereon beschränken. Kriminalistisch ist der Raths sechster Fall wieder ein komplexes Schmankerl. Wie schon in ›Märzgefallene‹ ermittelt Rath an der Gestapo vorbei, die die Taten erneut rein politisch verortet sieht. Das Eis wird für ihn dabei jedoch erheblich dünner, denn sein Ermittlungsansatz führt ihn in kriminelle Kreise innerhalb der SA, die mittlerweile ebenfalls polizeiliche Aufgaben erfüllt und als Parteiorgan in der politischen Gunst grundsätzlich über der Kriminalpolizei steht. Zudem tritt Dr. Marlow wieder auf den Plan und spannt Rath für seine Zwecke ein. All das trägt nicht dazu bei, dass Rath in einer Form unter dem Radar von Politik und Vorgesetzten bleibt, in der es bei den herrschenden Verhältnissen gesund wäre. Erwähnenswert ist möglicherweise, dass ›Lunapark‹ hinsichtlich expliziter Sprache etwas grausamer als seine Vorgänger ist. Empfehlen möchte ich ›Lunapark‹ allemal. Als Teil der Reihe sowieso, aber auch für sich stehend. Kutscher hält sein mittlerweile erreichtes Niveau, das Buch vermittelt, wie schon seine Vorgänger, tiefe Einblicke in die gesellschaftlichen Entwicklungen des frühen Dritten Reiches. Der Fall ist spannend und komplex. Einfache Unterhaltung ist auch dieser Band nicht.

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