Hyperintegrative Auswüchse – Ein Gespräch mit Paul Bokowski über seinen Roman "Schlesenburg"

Nach drei Kurzgeschichtenbänden und einer langen Karriere auf Lesebühnen hat Paul Bokowski mit "Schlesenburg" sein Romandebüt vorgelegt. Aus Sicht eines Jungen, dessen Eltern Anfang der 80er aus dem polnischen Schlesien nach Westdeutschland geflohen sind, beschreibt er autofiktional das Aufwachsen in einem ganz eigenen Kosmos. Der feinfühlige, subtil witzige und immer wieder opulent fabulierende Text thematisiert die besondere Situation derjenigen, die ohne Option auf Wiederkehr ihr Land verlassen – und was es mit der nachfolgenden Generation macht, wenn Wurzeln so sauber gekappt werden. Schmerz und Witz, Freundschaft und Ausgrenzung liegen in diesem Text nah beieinander. Neben den Schwierigkeiten des Ankommens und Hierbleibens erzählt Schlesenburg auf berührende Art, wie Familien sich an ihre Geschichte erinnern und miteinander kommunizieren.

Olivia Kuderewski hat mit Paul Bokowski über die Hintergründe seines Romans, über Hyperintegration, transzendentale Obdachlosigkeit und polnischen Humor gesprochen. Der nachfolgende Text ist die verschriftlichte Bearbeitung davon.

Olivia Kuderewski: Lieber Paul, was ist die Schlesenburg?

Paul Bokowski: Das ist die titelgebende Sozialbau-Siedlung in meinem Roman, der in der alten BRD im Sommer 1989 spielt. In der literarischen Vorlage dieser Siedlung lebten damals fast ausschließlich schlesische Familien, etwa 60 Parteien. „Schlesenburg“ ist ein leicht abwertender Begriff der deutschen Mehrheitsgesellschaft, den die Bewohner aber übernommen haben – nicht ohne Stolz und Würde.

Der Rassismus, der den Bewohnern von der Mehrheitsgesellschaft entgegengebracht wird, ist in vielen Szenen eher nebenbei spürbar, er wird durch die kindliche Perspektive des Erzählers abgemildert. Zu Deutschen besteht ohnehin wenig Kontakt, die Schlesenburg ist ein geschlossener Kosmos, der sich oft nachbarschaftlich und behütet anfühlt. Wieso hast du dich dafür entschieden, diese Siedlung so zu gestalten?

Ich habe das an meinen eigenen Erinnerungen angelehnt und muss sagen, dass wir im Grunde sehr wohlbehütet aufgewachsen sind. Eine Burg hat ja eine doppelte Bedeutung: Sie ist einerseits ein Bollwerk, das von außen massiv, vielleicht sogar bedrohlich aussieht. Andererseits ist sie für diejenigen, die in ihr leben, ein Schutzraum. Und so war das für uns Kinder. Ich glaube, ich habe damals gar nicht gemerkt, wie rassistisch durchsetzt die Impulse waren, die von außen zu uns durchdrangen. Erst später als Teenager oder junger Erwachsener habe ich mich an Krasses oder Absurdes erinnert. Es gibt auch im Buch diese Szene, in der der Postbote jeden Morgen ein Hakenkreuz in der Klingelzeile nachzieht, in diesem weichen Aluminium – ich habe das oft beobachtet, er hat das häufig ganz offen und mit so einer Frechheit uns Kindern gegenüber getan. Aber weil es kein böses Momentum gab, habe ich das gar nicht als Rassismus wahrgenommen.

Und die Älteren? Du hast beim Schreiben ja viel mit deinen Eltern über ihre Erinnerungen an die Schlesenburg geredet. Ich kenne es von meinen Eltern, die bei ihrer Ankunft in Deutschland in einer ähnlichen Situation waren, dass sie sich nie über Rassismus beschwert haben. Da muss man schon ganz konkret nachhaken.

Das war bei meinen Eltern ähnlich, ich kenne aber auch Erzählungen von Leuten, die ein paar Jahre älter waren, die hatten schon ein wachsames Auge dafür. Ich glaube, bei unserer Elterngeneration hat das mit der Vorstellung von Rassismus zu tun. Wenn man nach Deutschland immigriert, kennt man die Geschichte dieses Landes und weiß, dass es sehr schlimme Formen von Rassismus gegeben hat. Und auch das, was im Umfeld dieser Jahre passiert ist, zum Beispiel Rostock-Lichtenhagen, haben sie mitbekommen. Da hat man das, was einem selbst widerfahren ist, als viel schwächer wahrgenommen. Aber der zweite, fast noch wichtigere Aspekt war: Man wollte auf keinen Fall Opfer sein und hat es sich in der Selbstreflexion gar nicht eingestanden, etwas Rassistisches erlebt zu haben. Auch weil es bedeutet hätte, seinen eigenen praktizierten Rassismus zu erkennen. Ich glaube, die Angehörigen dieser Generation weisen das stark von sich.

Dieser Rassismus, der dann von den Bewohnern der Schlesenburg gegenüber Rumänen oder Russlanddeutschen, die nach ihnen in diesen Kosmos kommen, praktiziert wird: Ist das die Angst, dass einem weggenommen wird, was man sich schon so hart erarbeitet hat? Viele der Schlesenburg-Bewohner arbeiten in der nahegelegenen Papierfabrik in Schichten. Sie kommen mit nichts nach Deutschland und ackern sich dann mühsam hoch.

Ich denke, diese Angst ist die Wurzel einer Art von Ablehnung. Aber Rassismus geht noch einen Schritt weiter, da gibt man jemandem die Schuld für tatsächliche Geschehnisse oder auch für das, was noch passieren könnte. Angst ist völlig normal, Neid ist völlig normal, aber Rassismus ist, zu denken und zu sagen: Aus meiner Angst kann Wahrheit werden und daran sind folgende Gruppen schuld. Es steckt viel mehr aktive böse Energie dahinter.

Die Eltern kommen mir allerdings im Buch sehr warm und menschlich vor, verhalten sich auch weniger rassistisch als andere.

Es gibt eine Szene mit einem Baby mit Hasenscharte, bei dessen Anblick Frau Mazurka, die selbst gerade schwanger ist, panisch die Straßenseite wechselt. Ihre Reaktion ist geprägt von dem dörflichen Aberglauben und Rassismus, den die Leute ja schon aus Polen mitgebracht haben. Der Vater des Erzählers reagiert ganz anders und schärft dem Jungen fast wütend ein, sich niemals so zu verhalten, er sagt: Wir leben jetzt woanders und müssen anfangen, offen und vorurteilsfrei anderen Leuten zu begegnen. Insgesamt würde ich auch sagen, dass ich ein positives Bild dieser Eltern-Generation gezeichnet habe.

Ich hatte das Gefühl, dass sich die Eltern ständig sehr gründlich häuten. Mit jedem Umzug, nicht nur von Polen nach Deutschland, sondern auch vom Ankunftslager in die Schlesenburg, lassen sie alles zurück, woraus ihr Leben vorher bestand. Ich habe mich gefragt, was sie eigentlich noch aus Polen und dem realsozialistischen System mitbringen? Nicht einmal die Sprache wird dem Erzähler als Kind beigebracht und dadurch entsteht eine tiefe Empfindung von Wurzellosigkeit.

Es gibt eine Szene, in der der Vater sich, als er zum allerersten Mal die neue Wohnung in der Schlesenburg betritt, splitterfasernackt auszieht – das ist ein symbolischer Akt. Da ist immer das Bedürfnis, alles abzustreifen und nur die Essenz ins nächste Leben mitzunehmen. Ich glaube, der eigentliche Grund dahinter ist, dass es damals gar nicht anders ging. So eine Flucht kann heute gar nicht mehr gemacht werden, weil es dieses bilaterale System nicht mehr gibt: vom Kommunismus in den Kapitalismus ohne Option auf Wiederkehr. Die sind ja wirklich abgehauen in der Vermutung, dass sie niemals zurückkehren werden, außer vielleicht eines fernen Tages, um ihre Eltern zu beerdigen. Zu dem Zeitpunkt existierte die Mauer schon seit über 25 Jahren und alle haben gedacht, dass das so weitergeht. Es gab also plötzlich keine Notwendigkeit mehr, Polnisch zu sein – es war eher schädlich. Man hätte in einem familiären Notfall in die Volksrepublik Polen zurückfahren können, aber die wiederkehrenden männlichen Republik-Flüchtlinge wurden dann in die Volksarmee eingezogen und zu einem erweiterten Wehrdienst genötigt – die sollten dann selber schauen, ob die Frau und das Kleinkind in Deutschland alleine überleben. Man konnte seine polnische Staatsbürgerschaft auch abgeben, damit Polen dann bei einem Besuch keine Verfügungsgewalt mehr hatte, aber das war sehr teuer. Meine Eltern haben das damals gemacht und das Abgeben der Pässe hat auch die deutsche Einbürgerung beschleunigt.

Und das Abstreifen der Sprache? Wieso hat man sie nicht einmal den eigenen Kindern beigebracht?

Bei meinen Eltern ist es auch noch so, dass sie einen schlesischen Dialekt sprechen, der in Polen selbst schon ein geringes Standing hat. Das ist ein bäuerliches Polnisch, etwa wie Sächsisch oder Bayerisch, man macht sich in vielen Comedy-Sketchen über Schlesier lustig. Und auch das hat dazu geführt, dass sie sich gedacht haben: Warum sollen wir unseren Kindern dieses verwaschene Dialektpolnisch mitgeben – dann lassen wir sie doch besser direkt Deutsch lernen, und zwar richtig.

Das, was die Eltern machen, also dieses Abstreifen der alten Identität, hast du woanders einmal als Teil einer Hyperintegration bezeichnet. Dazu gehört auch, dass man am liebsten nicht auffallen will, weder im positiven noch im negativen Sinn und in der Mehrheitsgesellschaft mehr oder weniger verschwinden möchte. Würdest du sagen, die „Hyperintegration“ deiner Eltern hat geklappt?

Ich würde sagen, die Integration meiner Eltern hat geklappt, und die hatte ein paar hyperintegrative Auswüchse – zum Beispiel waren sie oft bei solchen Schlager-Geschichten, im ZDF-Fernsehgarten oder bei Sat.1-Aufzeichnungen und ich dachte oft: Das hätte jetzt auch nicht sein müssen. Sie sind gut integriert, allerdings habe ich auch das Gefühl, sie haben es nie geschafft, sich regional richtig zu verwurzeln. Meine Eltern sind relativ verpflanzbar. Man könnte sie von dort, wo sie jetzt wohnen, in Rheinhessen, nehmen und woanders hintun – als Einheit kämen sie gut klar und würden nichts großartig vermissen. Sie haben ihr soziales Gefüge also ein bisschen flach gehalten. Aber ich weiß nicht, ob das eine schlesische Eigenart oder eine generell migrantische Sache ist.

Ich glaube, es kommt auch immer ein bisschen auf die Größe der Communities an, in den einzelnen Gebieten. Hier in Berlin ist es zum Beispiel einfach dichter.

Man darf auch nicht vergessen, dass diese Generation an Einwanderern erschöpfend viel gearbeitet hat. Meine Eltern hätten die ersten Jahre wahrscheinlich gar keine Zeit für irgendeine aktive Rolle in einer Gemeinde oder einem Verein gehabt. Und in der damaligen Zeit hat man sich mit einer Fluchtgeschichte in die selbst gewählte Isolation begeben. Ich erzähle ja immer ganz gerne, wie das ist, wenn man eine Familie hat, mit der man nicht in ihrer Muttersprache reden kann – dass man quasi in die Einsamkeit hineingeboren wird. Aber im Endeffekt ist das nicht nur mein Schicksal, sondern auch das meiner Eltern-Generation. Die haben etwa zehn Jahre lang mit niemandem von ihrer Familie von Angesicht zu Angesicht gesprochen.

Der Ich-Erzähler im Buch hat sehr zu kämpfen, weil er die Wurzeln seiner Familie nicht kennt, auch sprachlich. Du beschreibst an einer zentralen Stelle ein merkwürdiges Gefühl: „so sauber abgekapselt, dass jedes Vermissen nur ein Theoretikum sein konnte“. Also, eine Art diffuse und leere Sehnsucht und das Wissen, dass einem etwas fehlt. Ein Rezensent deines Buches hat das als „transzendentale Obdachlosigkeit“ beschrieben.

Ja, das ist so ein Gefühl davon, dass es eine Lücke gibt. Ein Kind spürt das deutlich, aber reflektiert es nicht richtig. Man kann ja nicht den Finger drauflegen, auf eine Leerstelle, das ist das Problem. Und „transzendentale Obdachlosigkeit“ ist tatsächlich der perfekte Begriff für dieses Gefühl – man ist so ein diffuses Mischwesen, das nirgendwo richtig dazu gehört. Aber man muss sich klarmachen, dass es sehr viele von diesen Leuten gibt.

Wie oft warst du in Polen seit deiner Kindheit?

Viele Jahre lang fast jeden Sommer, weil der Sommerurlaub dort einfach billig war. Entweder war ich zu Besuch bei den Großeltern oder wir sind ans Meer gefahren.

Hast du mal versucht, Polnisch zu lernen?

Ich habe einen Kurs gemacht an der Volkshochschule, mit Mitte Zwanzig. Aber da hat sich schnell herausgestellt, dass ich für die ersten zwei oder drei Levels zu gut bin, weil ich eben doch einen gewissen Wortschatz und eine Aussprache habe, aber keine ordentliche Grammatik. Die Grundlagen hätte ich mir erst einmal autodidaktisch beibringen müssen, man wusste dann überhaupt nicht, wo ich überhaupt einsteigen soll.

Oh oh, da ist sie ja schon wieder, die transzendentale Obdachlosigkeit (lacht). Was ich auch sehr interessant finde, ist, wie die Familie sich an Dinge erinnert und miteinander spricht – dieses ständige Aneinandervorbeireden, das gegenseitige Korrigieren bei Erzählungen, die Wiederholung von Geschichten, die man schon mitsprechen kann, und dieses lückenhafte Zusammenstückeln aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Buch sagt die Mutter sowas wie: „Ach, das habe ich erzählt?“ Das gefiel mir sehr. Ich habe das auch aus meiner eigenen Familie wiedererkannt und frage mich, inwiefern das eine Eigenart solcher Einwandererfamilien ist oder eben doch etwas Allgemeineres, was vielen Familiensprachen eigen ist.

Da muss ich leider eine ernüchternde Antwort geben: Ich weiß es nicht, weil ich nur das Schlesische und meine eigene Familie kenne. Das ist wahrscheinlich ein bisschen wie bei meinen Humor-Büchern: Da sind sehr viele Eltern-Dialoge drin und ich finde die oft überhaupt nicht lustig, aber Außenstehende schon. Ich habe mittlerweile ein Gespür dafür, welche Sachen lustig sind für Andere, aber ich selber nehme diesen Humor erst einmal überhaupt nicht wahr. So sehr fehlt mir der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf diese Sache.

Ich finde, in diesen dysfunktionalen Familiengesprächen in Schlesenburg steckt auch sehr viel Komik.

Ja, das ist so ein unfreiwilliger Humor. Obwohl der Protagonist ja erst 9 oder 10 ist, merkt man, wie sehr dieses kommunikative Missverhältnis schon im Raum steht, also wie sehr aneinander vorbeigeredet und nicht richtig kommuniziert wird. Und dass man sich auch später, selbst wenn man derselben Familie angehört, nicht an dieselben Dinge erinnern wird.

Hast du das Gefühl, es gibt einen speziell polnischen Humor?

Ja, ich glaube, er ist geprägt von so einem dörflichen Konservatismus, also ein sehr deftiger Humor, weil er eine Gegenbewegung zu einem starken sozialen Konstrukt darstellt. Eigentlich ist er bitterböse, weil er eben antikirchlich und anti-konform ist. Und manchmal kann er auch sehr fatalistisch sein, das speist sich womöglich aus der Geschichte Polens, das ja im Laufe der Zeit immer wieder nicht-existent war. Ich glaube, es ist Teil der polnischen Identität, dass man denkt: Gestern gab es uns nicht, heute gibt es uns, morgen vielleicht wieder nicht. Im Grunde genommen finde ich den Humor sehr schwarz, fast englisch.

Danke für das Gespräch, Paul!