"Migration ist eine menschliche Grundkonstante"

Nüchtern analysierend, nicht aber ohne Wut ist das Buch „Das Fluchtparadox“ (Kremayr & Scherlau) von Judith Kohlenberger geschrieben. Die Migrationsforscherin benennt im Vorwort ihre Stoßrichtung: „Das anhaltende, allgegenwärtige und mittlerweile bereits systemimmanente Untergraben von Grund- und Freiheitsrechten Schutzsuchender an unseren Außengrenzen und ihr konsequentes, unwidersprochenes Fremdermachen innerhalb dieser.“ Die globalen Diskurse fasst die Wienerin kritisch und eigenständig zusammen.

Im Gespräch mit Achim Engelberg (zuletzt „An den Rändern Europas - Warum sich das Schicksal unseres Kontinents an seinen Rändern entscheidet“, DVA, Penguin Random House) erläutert sie ihr Herangehen.

ENGELBERG: Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Flucht und Migration häufig als Synonym benutzt. Wie unterscheiden Sie Flucht und Migration?

KOHLENBERGER: Für mich als Migrationsforscherin ist „Migration“ der neutrale Überbegriff für jegliche Form der permanenten Ortsveränderung. „Flucht“ ist eine spezielle Untergattung der Migration, die wir oft synonym als „Zwangsmigration“ oder „Gewaltmigration“ bezeichnen. Ihre Frage zielt aber wahrscheinlich auf das Moment der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit ab bzw. die Unterscheidung der beiden. Das ist in der Tat eine der Gretchenfragen nicht nur aus sozialwissenschaftlicher, sondern auch aus rechtlicher Betrachtung: Wann erfolgt Abwanderung noch freiwillig, wann unter Zwang? Gerade mit Blick auf afrikanische Migration stellen wir fest, dass Flucht- und Migrationsgründe zunehmend ineinander übergehen, zu einer anfangs freiwilligen Ausreise ein Element des Zwangs dazukommen kann. Die Forschung bezeichnet das auch als „gemischte Migration“, eben weil eine scharfe Trennung zunehmend schwierig ist. Und dahinter steht natürlich der berechtigte Einwand, dass auch Umstände wie wirtschaftliche Not oder klimatische Veränderungen Menschen zur Wanderung zwingen, obwohl diese nicht als Fluchtgründe im engeren Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind.

Sie beginnen Ihr Buch mit einem Kapitel über Flüchtlingslager. Die alten, wie das 2020 abgebrannte Moria auf Lesbos, sahen aus wie Provisorien, die bald verschwinden, aber die zu lange blieben. Die neuen gefängnisähnlichen Lagerhaltungen senden die Botschaft: Wir sind hier, um zu bleiben. Ist das ein Ausdruck einer neuen Weltlage, in der sich die Zahl der Flüchtlinge um Jahr für Jahr steigert und mittlerweile die 100-Millionen-Marke überschritten hat und es keinen Ausweg ohne grundsätzliche Änderungen gibt?

Da möchte ich gerne etwas differenzieren. Ja, die Zahl der Geflüchteten weltweit nimmt zu, vor allem aber deshalb, weil die Weltbevölkerung generell am Wachsen ist. Studien zeigen, dass der prozentuale Anteil der Geflüchteten an der Weltbevölkerung je nach Ausbruch und Ende von Gewaltkonflikten in verschiedenen Teilen der Welt variiert und mal höher, mal niedriger ist. Von einem dramatischen Anstieg, relativ zur globalen Bevölkerung, zu sprechen, wäre also nicht richtig. Auch der Anteil der Fluchtmigration am globalen Migrationsgeschehen ist seit Jahrzehnten gleichbleibend, erhält aber – und hier sind wir direkt beim Thema Paradox angelangt – unverhältnismäßig hohe Aufmerksamkeit, medial wie politisch. Wir befinden uns in einer Art Dauer-Krisenberichterstattung, obwohl ein zig-fach höherer Anteil an Personen jedes Jahr regulär nach Europa einwandert.

Das stimmt, aber ist dennoch in der Wissenschaft umstritten. Es gab einen Disput zwischen Philipp Ther und Paul Collier, ob die Zahlen in einem Verhältnis zur Weltbevölkerung sinnvoll sind. Die Uno-Zahlen, die jedes Jahr kurz vor dem Weltflüchtlingstag publiziert werden, zeigen einen Anstieg von 2015 bis heute um mehr als das Doppelte. Trotz aller Differenzierungen, so werden nun auch Binnenvertriebene gezählt, sehen wir zumindest in unseren Breiten die Veränderungen. Von den Schwedendemokraten bis zu Meloni profilieren sich alle Rechtspolitiker über die Migration, aber auch progressive Projekte um mehr Diversität hängen mit den gravierenden Veränderungen zusammen. Ein großer Vorzug Ihres Buchs ist, dass sie die großen globalen Tendenzen aus einer mitteleuropäischen Perspektive betrachten. Warum ist für Sie das Verhältnis zur Weltbevölkerung so wichtig?

Mit ist dabei wichtig, auf das Auseinanderklaffen von Rhetorik und Realität im Bereich von Migration hinzuweisen. In Mittel- und Westeuropa sprechen wir fast ausschließlich über Asyl und Gewalt- bzw. Zwangsmigration, während aber der allergrößte Anteil der Wanderbewegungen nach und von Europa legal und regulär erfolgt, nämlich als Arbeits- und Studierendenmobilität oder Familiennachzug. Als Migrationsforscherin scheint es mir wesentlich, diesen ressourcenbetonten Zugang, weg von einer ständigen Krisenerzählung, zu betonen. Migration ist eine menschliche Grundkonstante und war von Beginn an Quelle von Innovation, Austausch und Kreativität. Sie ist Normalität, nicht Ausnahme oder gar Notstand. Obwohl Vertreibungskontexte weltweit zunehmen, betrifft das weiterhin ganz massiv den Globalen Süden, und zwar als Herkunfts- und als Aufnahmeregion von Geflüchteten. Mehr als drei Viertel aller Geflüchteten weltweit sind im Globalen Süden untergebracht, nur ein Bruchteil von ihnen in der EU. Europa ist in großen Teilen Profiteur von Wanderbewegungen, nicht zuletzt, weil westeuropäische Arbeitsmärkte stark von ausländischer Arbeitskraft abhängen.

Die Maueröffnung in Berlin 1989 ist das Symbol für das Ende des Kalten Krieges. Es verschwanden zwar nicht alle Mauern, aber die Öffnung war ein Zeichen der Epoche. Leitet die Vielzahl der in letzten Jahrzehnten neu entstandenen Absperrungen oder wie die prägende Grenze zwischen den USA und Mexiko ausgebaut wird, ein neues Zeitalter ein? Sind die neuen Lager und die neuen Mauern Zeichen einer Welt im Umbruch?

Ich würde da mit Rückgriff auf meinen Kollegen Steffen Mau keinen tatsächlichen Umbruch, sondern eine Gleichzeitigkeit sehen. Die Globalisierung hat von Beginn an sowohl Öffnungs- als auch Schließungstendenzen befeuert, Grenzen wurden damit zu „Sortiermaschinen“, wie auch der Titel seines Buchs besagt. Für die einen, nämlich die im Globalen Norden, wurde es immer einfacher, Grenzen zu überwinden und global mobil zu sein. Für die anderen, die im Globalen Süden, ging die Globalisierung mit immer mehr Grenzregimen und Mauerbau, symbolisch wie physisch, einher. In dieser Entwicklung befinden wir uns heute noch. Im Mittleren Osten, in Afrika und Südamerika sind Menschen nun zunehmend, um es in den Worten Zymunt Baumanns zu sagen, „chained to place“, also an den Ort gekettet. Sie haben oft keinerlei Mobilitätsoption – zumindest keine legalen.

Der bulgarischstämmige, vor allem in Wien arbeitende Ivan Krastev schrieb: „Wenn du dein Leben ändern willst, ist nicht das Klügste, deine Regierung zu ändern, sondern das Land, in dem du wohnst.“ Entstand das Trio aus Abschottung, Abschreckung, Auslagerung, die das Mittelmeer zur tödlichsten Grenze der Welt machte, weil die Migration sich zur neuen Revolution entwickelte? Immerhin gibt es vergleichbare Entwicklungen in der westlichen Welt, also in Nordamerika bis nach Australien.

Migranten sind sichtbar gewordene Globalisierung, sie sind aber auch sichtbar gewordenes koloniales Erbe. „The Empire strikes back“ drängt sich in diesem Zusammenhang auf. Dass die fortdauernde, auch über den kolonialen Kontext hinausgehende Ausbeutung des Globalen Südens durch den Globalen Norden nicht ohne Aufbegehren des Ersteren vonstattengehen würde, lag eigentlich auf der Hand. Dieses Aufbegehren nimmt unterschiedliche Formen an, die mitunter sichtbarste, aber offenbar auch bedrohlichste und schmerzhafte für westliche Zielländer scheint jene der Migration zu sein. Hier treten nämlich Konflikte zutage zwischen dem vermeintlich hohen moralischen Anspruch, erkennbar anhand unserer in universale Rechte gegossenen „westlichen Werte“, und offenkundigen Abwehr- und Abschottungsmechanismen. Die können mitunter sogar grundlegende und hart erkämpfte Menschen- und Freiheitsrechte verletzten und allesamt negieren, so sie denn nur effektiv genug im Fern- und Weghalten sind.

Bertolt Brecht bestand auf den Ausdruck Flüchtling. Heute wird er wegen der Endung „ling“ von einigen als negativ gelesen, obwohl es auch Wörter wie Liebling oder Schmetterling gibt. Sie versuchen, den Begriff auch zu vermeiden. Ich plädiere für den Begriff, weil er das Dauerhafte enthält, die dauerhafte Prägung. Der Ausdruck Geflüchteter setzt alles in eine abgeschlossene Vergangenheit. Was sind ihre Argumente dagegen?

Ich verwende die Begriffe meist abwechselnd, aber doch mit einer klaren Präferenz für „Geflüchtete“. Vor allem im politmedialen Diskurs erscheint es mir zentral, den Diminutiv des „-ings“ zu vermeiden, weil er eben auch in den Opferdiskurs von Geflüchteten einzahlt. Dabei gibt es kaum etwas Selbstwirksameres, ja Politischeres als den Akt des Flüchtens, das bewusste Ver- und Zurücklassen der eigenen nationalen Gemeinschaft und damit der eigenen Zugehörigkeit als Ausdruck von Dissens. Diese Selbstwirksamkeit, im Englischen auch „Agency“ genannt, möchte ich durch eine alternative Begrifflichkeit – also „Geflüchtete“ oder, falls noch auf der Flucht begriffen, „Flüchtende“ – betonen. Eine der großen Widersprüchlichkeiten im geltenden Fluchtregime ist nämlich, dass Geflüchteten tendenziell kaum oder keine Handlungsmacht qua ihrer Vulnerabilität zugestanden wird, sie sich aber gleichzeitig leistungsbereit und „integrationswillig“ durch Erwerbsaufnahme, Bildungsmobilität etc. zeigen sollen.

Nur in der historischen Betrachtung, in den überlieferten Erinnerungen an Flucht und Vertreibung kann man Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie Handlungsmöglichkeiten finden. Das Wort Asyl kommt vom altgriechischen asylos (unberaubt). Das Asylon war ein heiliger Schutzort. Das wirkt, wie Sie erläutern, bis heute im Kirchenasyl nach. Allerdings gestalteten alle drei großen Tragödiendichter des antiken Athens – Aischylos, Sophokles, Euripides – den Stoff der Schutzbefohlenen. Wortgewaltig weigert der König sich, die Flüchtlinge aufzunehmen, ohne dass zuvor in der Gemeinde zu besprechen, wo der König in der Agora aushandelt, ob die Ankommenden aufgenommen werden. Zeigt sich hier ein Widerspruch, der die Menschheitsgeschichte eint: Schutzorte werden gebilligt, aber man hat Angst vor Fremden, die heute kommen und morgen bleiben?

Für mich zeigt das vor allem das bekannte demokratische Paradox an, konkret das Spannungsverhältnis zwischen universalem Anspruch der Menschenrechte (und somit auch des Rechts auf Schutz) und dem enger gefassten, nationalen Eigeninteresse (zum Ausdruck gebracht durch den Willen des demos, also des Wahlvolks), wozu legitimerweise auch der Schutz der eigenen Grenzen zählt. Der universelle Anspruch von Menschenrechten stand immer in einem Spannungsverhältnis mit den speziellen Rechten, die dem Staatsbürger zuteilwerden. Die Crux in der Universalität der Menschenrechte besteht aber eben darin, dass sie unabhängig von Staatszugehörigkeit und Wahlberechtigung gelten. Diesem Paradox stehen wir bis heute eher hilflos gegenüber, hat doch bis dato kaum eine politische Partei oder anderer Akteur im Asylregime eine taugliche Antwort darauf gefunden. Die Frage des permanenten Aufenthalts scheint mir dem eher nachgelagert, weil vielfach ja schon bei Ankunft und Erstversorgung Ressentiments bis hin zu offener Ablehnung spürbar werden.

Der neugriechische Dichter Konstantinos Kavafis mit dem antiken Formbewusstsein schrieb das mittlerweile klassische Gedicht „Warten auf die Barbaren“. Hier erscheinen die Anderen, die Ankommenden als Lösung – nämlich als Sündenbock. Tritt hier ein anderes Fluchtparadox hervor: Wir plädieren für Schutzorte, aber brauchen auch Sündenböcke?

Da sind wir bei den mannigfaltigen, mitunter auch widersprüchlichen Funktionen, die die Figur des Flüchtlings in unserer Gesellschaft erfüllt. Das beginnt bei jener des schützenswerten Opfers, geht über die Bedrohung von außen bis hin zum ewig Anderen, zum absolut Marginalisierten. Zumindest er wird immer eine Stufe unter „uns“ sein, egal wie schlecht es uns geht. Deshalb greift die Sündenbock-Rhetorik vor allem bei akuten Abstiegs- und Verlustängsten der Mehrheitsbevölkerung, die ihren eigenen Status zumindest noch im Vergleich mit jenem des Flüchtlings, des außerhalb von Zivilisation und Gesellschaft Stehenden, erhöhen kann. Gerade in Zeiten von Inflation und Teuerung sehe ich das als veritable Gefahr am Horizont. Dass genau solche Dynamiken des Othering und der Xenophobie zuzunehmen drohen und ihnen liberale Demokratien kaum etwas entgegenzusetzen haben. Und dahinter stehen natürlich ganz banale Widersprüche, wie etwa dass Geflüchtete gleichzeitig die soziale Hängematte ausnutzen, aber auch an der hohen Arbeitslosigkeit unter Einheimischen schuld wären, weil sie ihnen ihre Jobs wegnähmen.

Bereits in ihrem 1975 erschienen Buch „Der siebte Mensch. Eine Geschichte über Migration und Arbeit in Europa“ bezeichneten John Berger und Jean Mohr, dass das Wirtschaftssystem nicht ohne die Arbeitskraft der Emigranten bestehen kann. Lange war das Buch vergessen – bis es im Jahre 2016 in etlichen Ländern wieder erschien. Das neue Vorwort, einem der letzten Texte von John Berger, beginnt mit dem Satz: „Manchmal geschieht es, dass ein Buch, im Gegensatz zu seinem Autor, mit den Jahren jünger wird.“ Die Notwendigkeit migrantischer Arbeit betonen Sie, wie die Zunahme von Ankommenden aufgrund der Klimakatastrophe, vor der auch seit Anfang der 1970er Jahre gewarnt wird. Inwieweit sehen wir in der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Migranten eine Rückkehr des seit den 1970 Jahren Verdrängten?

Ich würde es weniger als eine Rückkehr, sondern als Kulmination einer Entwicklung seit den frühen 1970ern sehen. Nicht von ungefähr waren die 60er- und 70er-Jahre die Zeit der Gastarbeiterabkommen, als man niedrig qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland benötigte, um den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland und Österreich zu stützen. Diese Menschen waren aber mitnichten „Gäste“, sondern sind in vielen Fällen geblieben und haben Frauen und Kinder nachgeholt.

Deshalb formulierte Max Frisch bereits 1965 sarkastisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“

Man hat ihnen und ihren Nachkommen aber kaum Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten geboten, was mit der generell hohen Bildungsvererbung in deutschsprachigen Ländern, aber auch mit Fragen der Diskriminierung und Ausgrenzung zusammenhängt. Nun, in der zweiten und dritten Generation der ehemaligen „Gastarbeiter“, werden die integrationspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit eklatant sichtbar, etwa in Form einer geringeren formalen Bildung unter den Kindern und Enkeln der Gastarbeiter, bei gleichzeitigem spürbaren Beginn des demographischen Wandelns in westlichen Gesellschaften. Und wieder drohen sich die Fehler der 60er und 70er zu wiederholen, indem man Menschen, von deren (systemerhaltender!) Arbeitskraft Industrienationen abhängig sind, keine fairen Erwerbsmöglichkeiten, Zugang zu Staatsbürgerschaft oder fairen Lohn bietet. Im Kern ist das wieder so ein Paradox: Westliche Länder sind auf die Arbeitskraft von Migranten angewiesen, tun aber so, als wären sie eine reine Belastung. Das Gegenteil ist der Fall.

In den letzten Jahrzehnten steigt die Zahl von Nationalstaaten und von Flüchtlingen, Momentan hat die UNO 193 Mitgliedsstaaten und die Zahl der Fliehenden stieg auf rund 100 Millionen: Gibt es einen Zusammenhang?

Da würde ich wieder auf den oben skizzierten Zusammenhang zwischen Globalisierung und Öffnungs- wie auch Schließungstendenzen verweisen. Die Nationalstaat ist wenig wert, wenn er – und somit konkret seine Grenzen – nicht verteidigt wird. Das sehen wir aktuell anhand der Ukraine, wo ich positive Aspekte des Nationalgefühls verorten würde. Mehr Grenzen zwischen Nationalstaaten gehen notgedrungen immer auch mit einem Mehr an Verteidigung dieser Grenzen einher. Aber auch innerhalb von neu geschaffenen Nationalstaaten kann Grenzziehung zu Konflikten führen, etwa wenn unterschiedliche Ethnien in einer künstlich geschaffenen Gemeinschaft zusammenleben sollen, die sie aber ablehnen. Nicht selten liegen Emanzipations- und Segregationsbewegungen großen, grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen zugrunde.

Den starken Nationalstaaten stehen gescheiterte Staaten gegenüber. Die Schutzsuchenden wollen dorthin, wo es noch Grenzen gibt. Ist das ein weiteres Fluchtparadox?

Grenzen bieten Schutz, eben weil sie abgrenzen und manche(s) draußen halten, während andere (aber eben nicht alle) hineindürfen. Saying yes to some means saying not to others. Das trifft auf physischen Grenzen des Nationalstaats, aber auch auf die Kategorie des Schutzes zu, den eben nur jene zugestanden bekommen, die einen Anspruch darauf haben. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass den Grenzen selbst bereits eine Ambivalenz, wenn man will ein Paradox innewohnt. Für den Flüchtling sind die starken Grenzen des Nationalstaats Bedrohung (durch Grenzschutz) und Verheißung zugleich. In dieser oszillierenden Position finden sie sich wieder, wenn sie ihren Staat verlassen, um in einem anderen Zuflucht zu finden, der ihnen qua funktionierenden Grenzregime eben auch Schutz vor außen bietet.

Ist wie die Familie eine Basiseinheit der Gesellschaft der Nationalstaat ein Grundelement der Globalisierung?

Tatsächlich zeigt die historische Entwicklung: Mehr Globalisierung bedeutet keineswegs weniger nationalstaatliche Interessensbekundung, im Gegenteil. Die Herausbildung der Nationalstaaten im 18. und vor allem 19. Jahrhundert, parallel zur Entstehung und Kodifizierung allgemeiner Grund- und Menschenrechte, führte zu einer zunehmenden Grenzziehung nach außen. Mehr (öffentliche Diskussionen über) Menschenrechte gingen paradoxerweise mit mehr Abschottung und Einhegung im Nationalen einher. Der österreichische Menschenrechtsexperte Manfred Nowak spricht in diesem Zusammenhang von einer negativen Wechselbeziehung zwischen Menschenrechten und der Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen.

„Die Idee, dass es verschiedene Rassen gebe, diente als Legitimation, den Globalen Süden zu kolonisieren und mithin brutal zu enteignen“, schreibt die amerikanischen Politikwissenschaftlerin und Philosophin Nancy Fraser. Sind die ausgelagerten Grenzen und die besondere Angst von Menschen aus dem globalen Süden auch Spätfolgen des Kolonialismus?

Ja. Sie sind Ergebnis von Kolonialismus und damit einhergehenden Rassismus. Nicht von ungefähr wurde das kulturwissenschaftliche Konzept des Othering, also das „Fremdermachen“ von Menschen, in der post-kolonialen Forschung geboren, unter anderem durch Edward Said, etwa in seinem Buch „Orientalismus“ und Gayatri Chakravorty Spivak, etwa im Essay „Unrecht richten“. Es beschreibt den Zugewinn, den das eigene Selbst durch Abgrenzung von und Abwertung des kolonialen „Anderen“ als minderwertig hat, nämlich eine Erhöhung des eigenen Status. Indem ich mich von kolonialen Anderen, das mir paradoxerweise gleichzeitig unterlegen, aber auch bedrohlich für mich ist, abgrenze und abhebe, versichere ich mich meiner eigenen Überlegenheit. Das ist eine Dynamik, die sich bis heute in vielen Integrationskontexten beobachten lässt, etwa wenn mit Migration einhergehende Problemlagen und Unterschiede ethnisiert bzw. religionisiert werden, also einer bestimmten Ethnie oder Religion (meist dem Islam) zugeschrieben werden. De facto haben sie aber meist strukturelle und somit „hausgemachte“ Ursachen, die in fehlender Bildungsmobilität, in patriarchalen Strukturen oder anderen Faktoren liegen. Ausgelagerte Grenzen verdeutlichen diesen Statuszugewinn, weil sie einen erlauben, die Mär der eigenen moralischen Überlegenheit aufrecht- und gleichzeitig Menschen fern zu halten. Heute kommt der Rassismus salonfähiger daher und legitimiert dieses Fernhalten zwar nicht mehr aufgrund der Hautfarbe, aber sehr wohl aufgrund einer wie auch immer definierten „Kulturferne“ oder einer anderen „Sozialisierung“, die sich nicht mit der unseren westeuropäischen vertrage.

Novi Sad, eine der Kulturhauptstädte Europas 2022, war einst eine Freistadt für Menschen verschiedener Herkunft. Mit dem kosmopolitischen lateinischen Namen Nominentur Neoplanta gewährte Maria Theresia den Bürgern den Wunsch, eine freie Handelsstadt zu werden und nicht bloß eine Militärsiedlung am Rande der Habsburgermonarchie. Möge jedes Volk, so die Monarchin am 1. Februar 1748, den Namen der Stadt in seine eigene Sprache übertragen. Die Serben nannten sie Novi Sad, die Deutschen Neusatz, die Ungarn Újvidék. Bis zur letzten Jahrtausendwende blieb es trotz gewaltiger Umbrüche dabei, aber spätestens nach den Zerfalls- und Aufteilungskriegen Jugoslawiens in den 90er Jahren ist das Zusammenleben nicht mehr gelebte Gegenwart. Den Verlust multikultureller Städte findet man nicht nur in Südosteuropa, sondern auch in Nordafrika. Wie interpretieren Sie diese Entwicklungen?

Im Konkreten als ein Zeichen für die Attraktivität und die ungebrochene Anziehungskraft des „Eigenen“, der Gemeinschaft unter Gleichen, des nationalen Gefüges. Auf einer philosophischeren Ebene als Teil des zunehmenden Unvermögens, Heterogenität und Ambivalenzen auszuhalten, sie im Alltag zu verhandeln und als Bereicherung, nicht als Bedrohung wahrzunehmen.

Der niederländische, in Berlin arbeitende Migrationsforscher Ruud Koopmans glaubt nicht mehr an eine multikulturelle Gesellschaft. Für ihn hängen Integrationserfolge weniger von der Integrationspolitik, sondern maßgeblich von der Zusammensetzung der Migration ab. Wie bewerten Sie das?

Natürlich spielt die soziodemographische Zusammensetzung der in- wie auch der ausländischen Bevölkerung eine Rolle für diverse gesellschaftliche Outcomes, darunter Erwerbsintegration, Bildung und Einkommensstruktur. Junge Männer sind in fast allen Ländern der Welt eine Risikogruppe für Strafanfälligkeit – weniger aufgrund ihrer Herkunft als aufgrund ihres Geschlechts. Daraus wären dann aber eher geschlechter- als migrationspolitische Ableitungen zu treffen. Die Forschung zeigt mittlerweile recht deutlich, an welchen Stellschrauben man drehen kann, um ein gelungenes Miteinander zu ermöglichen, etwa an Bildungs- und sozialer Mobilität, an politischer Partizipation, an niederschwelligem Gesundheitszugang. Vergessen wir bei alledem aber nicht das Integrationsparadox: Noch immer verhält es sich so, dass Migranten für ihre „erfolgreiche“ Integration, messbar anhand harter Indikatoren wie Erwerbsquote oder Bildungsabschlüsse, nicht belohnt, sondern mitunter mit mehr Ablehnung und Ausgrenzung bestraft werden. Aus dem einfachen Grund, weil sie aufgrund des damit einhergehenden sozialen Aufstiegs als Bedrohung für die autochthone Bevölkerung sichtbar werden. Und dieses Paradox ist Großteils unabhängig von der Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung, führt aber eben nicht unbedingt dazu, dass sich diese zur Integration motiviert fühlt.

Es ist noch nicht klar, wie viele Flüchtlinge aus dem postsowjetischen Raum noch kommen, da gibt es Warnungen, dass sich 2015 wiederholen könnte. Wie man nicht zweimal in einem Fluss baden kann, geschieht Historie nicht zweimal. So ist die Donau an den EU-Außengrenzen stärker als Barriere ausgebaut als sie es 2015 war, dennoch wird die Balkanroute wieder öfters benutzt. Wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?

Das verdeutlicht aus meiner Sicht nur die Untauglichkeit einer 3A-Politik der Abschottung, Abschreckung und Auslagerung von Asylverantwortlichkeit. Seit 2015, also seit mittlerweile sieben Jahren, setzt man fast exklusiv auf diese Taktik, die aber, wie sich nun sowohl in Österreich als auch in Deutschland anhand der steigenden Asylantragszahlen beobachten lässt, nicht zum gewünschten Effekt – einem Rückgang der Schlepperkriminalität und sinkenden Ankunftszahlen – geführt hat. Ganz im Gegenteil. Aus der empirischen Evidenz ist dieses gegenteilige Outcome aber kaum überraschend, wissen wir doch, dass erhöhter Grenzschutz und mehr Grenzkontrolle zu nicht intendierten Substitutionseffekten führen kann, etwa dass Migranten auf immer gefährlichere Routen ausweichen müssen. Somit sind sie aber auch immer mehr statt weniger auf die Hilfe von Schleppern angewiesen, um genau diese Routen zu finden und passieren zu können. Nur weil man Mauern baut und abschreckende Maßnahmen setzt, gehen ja die Fluchtursachen im Herkunftsland nicht einfach weg. Das ist jene Variable in der Gleichung, die gerne übersehen wird, aber nachgewiesenermaßen einen überproportional großen Effekt als „Migrationstreiber“ hat. Nicht zuletzt hat die Entwicklung der EU-Asylpolitik seit 2015 auch einen Signaleffekt in Richtung Schlepper wie auch potentielle Migranten: Aus ihr lässt sich unschwer ableiten, in welche Richtung der Trend geht. Tendenziell wird es immer schwieriger werden, Grenzen nach Europa „irregulär“ zu passieren. Das wiederum kann zu den bekannten „Jetzt oder nie“-Schüben führen.