"Es handelt sich bei Empathie nicht nur um Mitgefühl, sondern um eine intellektuelle Operation"

In „Den Schmerz der Anderen begreifen – Weltgedächtnis und Holocaust“ von Charlotte Wiedemann stehen die Opfer großer Menschheitsverbrechen im Fokus. Es geht um diejenigen, deren Leid bisher nicht oder zu wenig anerkannt wurde, weil die herrschenden Machtverhältnisse und Diskurse dies verhindern, denn Wiedemann plädiert dafür, Gedenken und Erinnerung inklusiver und gerechter zu gestalten. Dafür nimmt sie Erinnerungspolitik und Gedenkkultur in den Blick, sowohl deutsche als auch die in anderen Staaten. Sie erzählt von ungesehenen Schmerz- und Gewalterfahrungen durch Kolonialverbrechen, durch die Weltkriege und andere Konflikte und analysiert die Mechanismen und Strukturen, die bestimmte Opfer in den Hintergrund treten oder gar in Vergessenheit geraten lassen – all dies im Bewusstsein, dass unsere Betrachtung der Vergangenheit unser heutiges Handeln formt und ein gerechteres Weltgedächtnis auch eine gerechtere Gegenwart und Zukunft schafft.

Olivia Kuderewski hat mit Charlotte Wiedemann über ihr Buch gesprochen.

Olivia Kuderewski: Charlotte, du schreibst zu Beginn, dass zwei Linien deines Lebens zu diesem Buch geführt haben, nämlich deine eigene familiäre Involviertheit mit der NS-Zeit und deine Reisen um den Globus. Ich würde gerne wissen, wann und wie sich abgezeichnet hat, dass du dieses Buch schreiben würdest?

Charlotte Wiedemann: Zunächst, zumindest autobiografisch gesehen, war diese Prägung durch das schreckliche Erbe der NS-Verbrechen da. In ein internationales und kosmopolitisches Denken bin ich erst in den letzten 20 Jahren hineingewachsen, durch die viele Zeit, die ich in anderen Kulturen verbracht habe. Ich war zwar schon lange davor eine politisch schreibende Journalistin und Beobachterin von Zeitgeschichte, aber habe die Dinge anders verbunden. Nehmen wir das Beispiel Nürnberg, wo ich vor Kurzem mit dem Buch war: Anfang der 90er Jahre habe ich dort darüber geschrieben, welche Vorstellung es damals um das sogenannte Reichsparteitagsgelände gab, auf dem diese NS-Propaganda-Massenveranstaltungen stattfanden. Es war bis dahin völlig unbearbeitet und man fing erst an, sich Gedanken zu einer Erinnerungsausstellung zu machen. Damals habe ich mich auch viel mit den Nürnberger Prozessen beschäftigt, mir aber überhaupt nicht die Frage gestellt: Was ist parallel zu diesen Prozessen in anderen Teilen der Welt passiert? Also dass es währenddessen Kolonialverbrechen gab, von Seiten der niederländischen, britischen und französischen Kolonialherren, habe ich einfach nicht gewusst. Und auch nicht danach gesucht.

Aber ist es nicht normal, wenn man sich intensiv mit einem Thema beschäftigt, dass man nicht direkt darauf kommt, nach parallelen Prozessen in der Welt zu suchen?

Naja, es ist immer interessant, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt der eigenen Entwicklung für normal hält, aber das ändert sich. Heute würde ich sagen: Die Nürnberger Prozesse und wie sich das Völkerrecht entwickelt hat – das sind ja fast Synonyme –, die Vorstellung von menschlicher Gleichheit und die Forderung, dass große Verbrechen nicht ungeahndet bleiben dürfen, all das schreit geradezu danach, sich zu fragen: Was war sonst noch los in der zweiten Hälfte der 40er Jahre, in denen noch so viel Kolonialismus betrieben wurde? Haben die Leute, die in Nürnberg zu Gericht saßen anderswo praktiziert, was sie dort gepredigt haben? Eigentlich ist der Gedanke naheliegend. Aber wenn man so stark von deutscher und europäischer Geschichte aus denkt, wie ich es damals getan habe und wie es auch viele Leute heutzutage tun.

Also ein eurozentrisches Denken?

Ja, ich werfe das auch niemandem per se vor, denn ich weiß, wie lang ich selbst gebraucht habe, um diese Entwicklung zu nehmen. Darum gebe ich Hinweise, Vorschläge und Anregungen. Ich bin so gesehen privilegiert, weil ich als herumreisende Auslandsreporterin so viele Anregungen bekommen habe. Aber nochmal zur Ausgangsfrage, wie ich diese zwei Richtungen verbunden habe: Erstmal war ich sehr stark geprägt von den Erinnerungen an die NS-Zeit, einmal durch mein Alter, und auch dadurch, dass meine Eltern, zwar sehr junge, aber doch aktive Mitglieder der NS-Gesellschaft waren. Mein Vater war kein Täter im engeren Sinne, soweit ich weiß, aber immerhin Parteimitglied, was ja auch schon eine Tat ist. Deshalb hat mich die erinnerungspolitische Debatte, die sich etwa in den letzten fünf Jahren in Deutschland entwickelt hat, zum Teil etwas abgestoßen. Sie hatte oft so einen Charakter von intellektueller Selbstbefriedigung, insbesondere dann, wenn sie von männlichen Protagonisten geführt wurde, von Feuilletonchefs oder Historikern. Dagegen hatte ich einen zunehmenden Widerwillen.

Kannst du diese Debatte kurz skizzieren?

Etwa 2017 fing eine Diskussion an unter dem Motto: Was ist die Zukunft der Erinnerung? Das war stark bezogen auf die Einwanderung in Deutschland, insbesondere von Muslim*innen und Syrer*innen 2015. Man hat ihnen damals Ausschwitz gezeigt, um zu sagen: Hier, guckt mal genau hin! Damals habe ich schon gedacht, dass das einen komischen Zungenschlag hat. Dass Leute, die generationstechnisch noch so nah an der deutschen Tätergesellschaft dran sind, ausgerechnet diejenigen, die aus ganz anderen kulturellen Kontexten kommen und gar nichts damit zu tun haben, verdächtigen, sie würden das Ganze nicht richtig verstehen und wären nicht sensibel dafür. Und dann gab es noch verschiedene Dinge, die in der Öffentlichkeit zu Konflikten gemacht wurden, zum Beispiel der große Widerstand gegen eine besatzungskritische jüdische Gruppe (Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost), die in Göttingen einen Friedenspreis bekommen sollten. Damals habe ich mich zum ersten Mal getraut, den Zentralrat der Juden in Deutschland zu kritisieren – weil ein Gremium, das nur die Hälfte der Juden und Jüdinnen in Deutschland vertritt, nämlich jene, die in Gemeinden organisiert sind, nicht die Berechtigung hat zu definieren, was politisch gesehen eine gute Jüdin oder ein guter Jude ist. Da habe ich zum ersten Mal meine Hemmung überwunden, mich mit solchen Themen zu befassen.

Und die Hemmung hattest du, weil diese Themen in Deutschland so heikel sind?

Ja, das hatte damals schon den Geruch des Heiklen. Aber wenn man sich als politisch schreibend und die Zeitgeschichte beobachtend wahrnimmt, warum sollte man über diese Themen nichts sagen dürfen? Dann gab es noch die Veröffentlichung „Multidirektionale Erinnerung“ des amerikanischen Wissenschaftlers Michael Rothberg, die mit etwa zehn Jahren Verspätung in deutscher Übersetzung erschien und hier absurderweise als die Attacke auf deutsche Holocausterinnerung behandelt wurde. Oder Dirk Moses, der von einem „deutschen Katechismus“ sprach und Glaubenssätze der deutschen Erinnerungspolitik stark kritisiert hat. Er ist ein anerkannter Genozidforscher, wurde im deutschen Diskurs aber sofort in Richtung Antisemitismus geschoben. Ab einem bestimmten Punkt hatte ich die Nase voll und wollte mich auch nicht mehr an dieser Art von Debatte beteiligen. Ich dachte: Ich kann etwas völlig anders machen und habe dann dieses Buch konzipiert. Und allmählich habe ich dann festgestellt, wie viel Material ich habe.

Ist der Titel – „Den Schmerz der Anderen begreifen“ – ein Appell? Du kommst ja immer wieder auf die Empathie zu sprechen, und darauf, dass sie eine intellektuelle Leistung ist, also etwas mit Vorstellung zu tun hat. Das ist dem intuitiven Verständnis von Empathie eher gegenläufig, man denkt ja zunächst nur ans Gefühl, wie ich finde.

Das ist leider ein geläufiges Missverständnis. „Den Schmerz der Anderen begreifen“ heißt ja nicht unbedingt, dass man den Schmerz der Anderen nachvollziehen oder mitempfinden kann, was ich fast für eine vermessene Anforderung halte. „Begreifen“ heißt, dass man für einen Moment Geschichte in den Schuhen anderer Menschen betrachten und somit den Schmerz von Anderen zumindest respektieren kann – als Grundvoraussetzung für alles Weitere. Bis hin zur Frage von Reparationen oder Restitutionen bei großen Verbrechen. Aber das Begreifen ist die Grundvoraussetzung, die ja auch jede*r Einzelne machen kann.

Mein Buch richtet sich nicht an eine diffuse kollektive Öffentlichkeit, wo solche Debatten sonst stattfinden, sondern an die individuellen Leser*innen und ist ein Appell zum individuellen Reflektieren – damit man das Denken nicht abgibt an irgendwelche staatlichen Instanzen, die über Erinnerungskultur entscheiden. Dabei ist die Empathie ein Thema, aber es erschöpft sich nicht darin. Und es ist auch nicht so, dass ich dafür plädiere, man solle allen Opfern von Gewaltverbrechen auf der ganzen Welt gleichermaßen und unterschiedslos gedenken. In Zusammenhang mit meinem Buch fiel manchmal der Ausdruck „globale Empathie“, aber das ist mir zu unscharf. Denn Empathie setzt immer ein Gegenüber voraus und die Frage ist, wie und in welchem Maße ich mich in das Gegenüber hineinversetzten kann. Wenn ich aber von globaler Empathie spreche, verliere ich ein wenig die Richtung. Man denkt dann an ein „Alle für Alle“, das ist mir zu unscharf, es lädt zu dem Missverständnis ein, über alles eine Soße des Mitgefühls fließen zu lassen. Aber es handelt sich bei Empathie eben nicht nur um Mitgefühl, sondern um eine intellektuelle Operation. Und ich spreche im Buch auch von einer „Ökonomie der Empathie“, weil man das Verständnis von Empathie auch nicht von den Machtstrukturen lösen kann, die Erinnerungskulturen durchziehen.

Kannst du die Abhängigkeit von den Machtstrukturen näher erklären?

Ich habe das selbst erst schrittweise verstanden. Ich weiß noch, wie ich vor zehn Jahren auf einer Veranstaltung saß, bei der es um antirassistische Dinge ging, und eine Referentin sagte: Erinnerung ist immer von Macht durchzogen. Und ich dachte: Was für ein bemerkenswerter Gedanke! Damals war es für mich neu, dass Erinnerung generell dieses Machtproblem hat, nicht nur auf Holocaust und Kolonialismus bezogen, sondern auch in anderen Kontexten. Es gibt immer ein Ringen darum, wie sich gesellschaftliche Machtbeziehungen auf die Sichtweise von Leid auswirken und auf die Wertigkeit von Leben.

Geht es dir also auch darum, wie man die Machtstrukturen, die bestimmte Dinge in der Erinnerungskultur ausblenden, hinterfragt und aufbricht?

Ich gebe dir ein konkretes Beispiel anhand der baltischen Staaten. Obwohl Litauen und Lettland sehr wichtige Schauplätze der Shoah waren, ist es dort so, dass die Erinnerung an die jüdischen Opfer weit hinter dem Gedenken für Opfer der stalinistischen Verbrechen zurückbleibt – weil letztere konstituierend für das neue Nationalbewusstsein waren und weil die Erinnerung dort von Mehrheiten bestimmt wird. Wie erinnert wird, definiert, wer sich wirklich zugehörig fühlen kann in einer Gesellschaft. Und leider muss man sagen, dass die heutigen kleinen jüdischen Minderheiten in den baltischen Ländern sich nicht wirklich zugehörig fühlen können, gemessen daran, wie leichtfertig etwa mit dem Thema Kollaboration während der Shoah umgegangen wird. Eine solche Konstellation von zwei großen konkurrierenden Erinnerungen haben wir in Deutschland nicht, aber es ist angebracht auch hier über die Beziehung zwischen Erinnerung und Machtverhältnissen zu sprechen, zum Beispiel über Opferhierarchien.

Wenn man sich anschaut, wie wenig der Vernichtung der Roma und Sinti gedacht wird – dabei stehen sie in der Art und Weise, wie sie ausgerottet werden sollten, den Juden und Jüdinnen am nächsten. Und trotzdem sind sie die am meisten diskriminierte Minderheit in Europa und werden in Deutschland eher mit Betteln assoziiert – und nicht damit, dass diese Frau in der Fußgängerzone ein Nachkomme der Überlebenden der Roma-Vernichtung ist. Im Vergleich zu unserem Blick auf jüdische Menschen gibt es da eine klare und für mich schmerzliche Hierarchie in der Betrachtung von Opfern. Das ist ein ethisches Problem, und es wird ungern darüber gesprochen.

Und die Hierarchisierung entsteht auch durch aktuelle Bedürfnisse und Interessen?

Nicht unbedingt durch aktuelle Interessen, aber durch ein bestimmtes Menschenbild, das man auf die Nachkommen der Opfer anwendet. Im Buch mache ich das an einem Vergleich fest: Warum haben wir so viel Respekt für den Aufstand im Warschauer Ghetto, und warum so wenig für den Aufstand gegen die Kolonialherrschaft im ehemaligen Ost-Afrika, dem heutigen Tansania, bei dem 250.000 Menschen umgekommen sind? Ich setze diese beiden unterschiedlichen Verbrechen nicht gleich und auch nicht ihre Kontexte, aber ich frage mich: Wie kommt dieser drastische Unterschied in der Betrachtung und in der Vergabe von Empathie zustande?

Die einzige überzeugende Erklärung für mich ist: Es hängt mit dem Menschenbild zusammen, das wir jeweils für die Nachkommen der Opfer haben, denn den damaligen Menschen, den Opfern, sind wir ja nicht begegnet. Heute haben die Deutschen überwiegend ein sehr respektvolles Bild von Juden und Jüdinnen, zum Glück, man hat sich vom Menschenbild, das im Nationalsozialismus praktiziert wurde, weit entfernt, sogar bis hin zu philosemitischen Übertreibungen. Auf der anderen Seite gibt es aber nach wie vor eine verbreitete Verachtung für Schwarze Menschen, speziell Afrikaner*innen, denen man nicht das gleiche Freiheitsbewusstsein zubilligt, den Edelmut, wie er etwa in europäischen Freiheitskämpfen zum Tragen kam. Entsprechend habe es im kolonialen Afrika nur primitive Aufstände gegeben, die aus militärischer Notwendigkeit niedergeschlagen wurden. Da herrscht leider ein Menschenbild vor, das sich seit der Zeit der Kolonialverbrechen nicht so wesentlich geändert hat.

Und welche Rolle spielen Dokumente und Zeugnisse dabei? Es gibt eine Stelle, an der du über eine Milchkanne schreibst, voll von Zeugnissen, die das Leben im Warschauer Ghetto dokumentieren. Solche im Erdreich vergrabenen Kannen und Kisten wurden später gefunden und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Für die unterschiedlichen Menschenbilder gibt es viele Gründe, solche, die man gut verstehen kann, aber auch eher unappetitliche. Zu den gut nachvollziehbaren Gründen und auch denen, die mich selber prägen, gehört, dass wir von den deutschen und westeuropäischen Juden und Jüdinnen sehr viele literarische und andere Zeugnisse haben, die uns deren Kämpfe ums Überleben nähergebracht haben. Und dass wir das allein aus sprachlichen Gründen weniger für die afrikanischen Überlebenskämpfe im Kolonialismus haben. Nun ist „mehr und weniger“ das Eine – aber die völlige Missachtung dieser Zeugnisse, die es auch auf afrikanischer Seite gibt, ist etwas Anderes. Nehmen wir das Beispiel des britisch-tansanischen Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, der hierzulande vor seiner Auszeichnung so gut wie gar nicht bekannt war, obwohl er sich mit der deutschen Kolonialzeit beschäftigt hat. Dass so jemand nicht einmal von denjenigen, die intellektuelle Diskurse prägen, wahrgenommen und bis zum Nobelpreis auch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, zeigt, dass auch die vorhandenen Quellen gerne übersehen wurden. Einiges kann man also mit kulturellen Zugängen erklären, aber das trägt nicht so ganz.

Du hast den Untertitel „Holocaust und Weltgedächtnis“ für dein Buch gewählt. Wie hängt dieses Weltgedächtnis mit den Machtstrukturen, die du gerade erwähnt hast, zusammen?

Man kann sich das Weltgedächtnis vorstellen wie eine sehr unebene und zerklüftete Landschaft, die natürlich auch wieder von Macht geprägt ist. Es gibt Verbrechen, derer wird mit vielen Ressourcen gedacht – dazu gehört eben der Holocaust, weil die westliche Welt und gerade auch die USA, sich dessen in großem Maßstab angenommen haben. Und es gibt andere Verbrechen, zum Beispiel den Genozid in Kambodscha, aber auch der Völkermord in Ruanda, die allenfalls von regionalem Interesse sind, wenn überhaupt. Sie werden so behandelt, als hätten sie keine universelle Lehre zu verkünden.

Das Weltgedächtnis ist eine sehr fragmentierte Angelegenheit und ich versuche, vorstellbar zu machen, dass es ein ausgeglicheneres Weltgedächtnis geben könnte. Eines, in dem bestimmte Phasen der Geschichte nicht ausgeblendet werden und in dem Leute nicht ewig darum kämpfen müssen, dass ihr Leid im Täterkontinent anerkannt wird, wie es gegenwärtig bei den europäischen Kolonialverbrechen noch der Fall ist. Es gibt weltweit Projekte von Menschenrechtserziehung unter dem Stichwort „Holocaust Education“. Es gibt keine vergleichbar finanzierten Projekte unter dem Stichwort „Völkermord Ruanda Education“ oder „Kambodscha Genozid Education“. Aber der Holocaust wird eben keineswegs überall als universelles Zeichen und als singulärer Zivilisationsbruch betrachtet. Das ist eher eine westliche Sicht, und – wie erwähnt – bereits im östlichen Teil der Europäischen Union ist es anders. Ich stelle mir vor, wie wir schrittweise die Zerklüftung des Weltgedächtnisses abmildern könnten. Und wie neue Wegenetze in dieser Landschaft entstehen. Natürlich sind die großen Menschheitsverbrechen alle von unterschiedlicher Art, und wenn man dafür plädiert, Leid gerechter anzuerkennen, heißt das nicht, dass im selben Atemzug historische Unterschiede zwischen Verbrechen wegnivelliert würden.

Was genau meinst du mit „wegnivellieren“?

In Deutschland gibt es im öffentlichen Diskurs eine große Ängstlichkeit, sobald über Verbindungen zwischen großen Gewaltverbrechen gesprochen wird. Vergleichende Genozidforschung ist sogar eine eigene Wissenschaft, aber in hierzulande besteht diese Neigung, die Freiheit der Wissenschaft und Diskussion einzuschränken, weil man befürchtet, ein Vergleich der großen Verbrechen würde den Holocaust relativieren. Bemerkenswerterweise ist dann seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine gesagt worden: „Putin ist der neue Hitler.“ Und das sind teilweise dieselben Leute, die einem zuvor eine Relativierung des Holocausts vorgeworfen haben, weil man ein vermehrtes Gedenken für Kolonialismusopfer gefordert hat. Aber in Bezug auf diese mühsame Anerkennung von Kolonialverbrechen unterscheidet sich Deutschland ja nicht besonders von anderen europäischen Ländern. Ob Deutschland, Niederlande, Großbritannien oder Belgien – alle haben es in einer bestimmten Weise vermocht, über Jahrzehnte diese Erinnerung wegzuschieben und kleinzuhalten und die Leute, die sie gefordert haben, in einer bestimmten Weise zu bestrafen, durch Ausstoßung und Marginalisierung. Belgien ist ein ganz extremes Beispiel mit seinen furchtbaren Kongo-Verbrechen. Oder Großbritannien, wo immer noch so viele Leute stolz sind auf das Empire. Wo die schlimmen Verbrechen, die während der Zeit der Nürnberger Prozesse und auch danach in Kenia begangen wurden, möglichst nicht in der Öffentlichkeit erwähnt werden. Wo immer noch Leute vor Gericht klagen müssen aus den ehemaligen Kolonien. Und auch in Frankreich ist Algerien immer noch die sogenannte offene Wunde. Das einzige Spezielle an Deutschland ist, dass man hier denen, die für mehr Verantwortung für Kolonialverbrechen eintreten, sagt: Passt mal auf, dass ihr den Holocaust nicht relativiert. Dieses Argument gibt es nirgendwo sonst; alle anderen müssen sich andere Ausreden überlegen. In Deutschland wird die Holocaust-Erinnerung diesbezüglich klar instrumentalisiert.

Um ein anderes Gedenken wegzudrücken.

Genau. Allerdings gestehe ich jedem Individuum zu, dass es verwirrend sein kann, die Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus im Zentrum unseres Bewusstseins und Staatsverständnisses zu halten und zugleich einen guten Umgang mit Kolonialverbrechen zu finden. Ich würde nicht allen, die damit Probleme haben, unterstellen wollen, dass sie sich herausreden. Aber der Gedanke, dass es nicht darum geht, die Verantwortung für den Nationalsozialismus zu reduzieren, sondern zusätzlich geschichtliche Verantwortung für die Kolonialverbrechen zu übernehmen, ist eigentlich recht einfach. Und dann muss man auch noch bedenken, dass die Erinnerung an die verschiedenen Opfergruppen des Nationalsozialismus ja Schritt für Schritt erkämpft worden ist. Allein, wenn ich daran denke, wie lange es gedauert hat, um die Deserteure aus der Wehrmacht, die damals hingerichtet oder zum Tode verurteilt wurden, zu rehabilitieren. Das hat sich über Jahre hingezogen. Heutzutage denkt man, das ist doch das Naheliegende – abzuhauen, wenn du an einem Vernichtungskrieg teilnehmen sollst. Aber auch damals gab es diesen Gedanken: Jetzt kommen die auch noch!

Und wie lange hat es gedauert, bis die Vernichtung der Roma und Sinti als Völkermord anerkannt wurde? Das war erst in den 80er Jahren, also hat es 40 Jahre gedauert, um die Vernichtung einer halben Million Menschen in Deutschland anzuerkennen. Und heute ist dieses Gedenken immer noch im Abseits. Das letzte waren die sowjetischen Kriegsgefangenen: Drei Millionen haben unsere Vorfahren verhungern lassen. Das ist die zweitgrößte Opfergruppe im Nationalsozialismus, aber sie ist erst vor kurzer Zeit anerkannt worden. Also: Schritt-für-Schritt gegen ganz viel Widerstand, diese Systematik hat eigentlich die ganze Zeit der NS-bezogenen Erinnerungskultur durchzogen.

Ich fand es in einem der Kapitel sehr erschreckend, als du Zahlen genannt hast, wie wenige Deutsche eigentlich tatsächlich im Widerstand waren, zum Beispiel indem sie zu Hause Juden und Jüdinnen versteckt haben – weil man das ja als große Geschichte kennt, der heldenhafte deutsche Widerstand. Und wie lange es gedauert hat, sich überhaupt als Teil vom System und als mitschuldig zu begreifen.

Ich befinde mich da in einem gewissen Zwiespalt. Denn obwohl ich die Nationalsozialismus-bezogene Erinnerungskultur eigentlich sehr schätze und zu der Generation gehöre, die sie in der Form überhaupt miterkämpft hat, sehe ich heute zugleich, wie wenig sie eigentlich wirksam ist. Vieles liegt daran, dass man die Familiengeschichten nie aufarbeiten wollte, dass die Tätergeneration, wie auch meine Eltern, geschwiegen haben. Und letztendlich sind diese Mythen über die eigene Verwandtschaft – im Wesentlichen ist es das Paradox, dass die meisten angeblich nichts gewusst haben, dann aber trotzdem versucht haben zu helfen (lacht) – eine ganz starke Schamreduzierung, die da massenpsychologisch versucht wird. Die mangelnde Wirksamkeit der Erinnerungskultur zeigt sich letztendlich auch daran, wie schwer Deutschland sich tut, ethische Maßstäbe und auch Empathie auf die Opfer der Kolonialverbrechen anzuwenden. Denn eigentlich würde man ja eine Art gleitenden Prozess erwarten können: Man hat dieses antisemitische, aber eben auch ultrarassistische NS-System gehabt, sich davon abgewandt, die Einstellung zu Juden und Jüdinnen völlig geändert, und dann erfährt man plötzlich, dass so viele Afrikaner*innen von uns umgebracht wurden, weil die für ihre Freiheit kämpften. Da könnte man doch begreifen, dass diese unterschiedlichen historischen Vorgänge etwas Verwandtes haben.

Aber diese eigentlich naheliegenden ethischen Konsequenzen werden kaum gezogen, und dies ist für mich ein Indiz, wie wenig wirksam die Erinnerungskultur ist, wie wenig sie universalistische Werte hervorgebracht hat. Andererseits bekomme ich viele positive Reaktionen auf das Buch; dies zeigt, dass in einem Teil der Gesellschaft, vielleicht einer großen Minderheit, die Bereitschaft vorhanden ist, über all diese Dinge neu nachzudenken. Das freut mich sehr.

Auch über strukturellen Rassismus wird neu nachgedacht. Diese Debatte ist ja erst seit ein paar Jahren so präsent in der Öffentlichkeit, das verändert sicher auch die gesamte Erinnerungskultur. Was für Effekte siehst du da? Oder was versprichst du dir vielleicht sogar davon?

Ich glaube, da gibt es verschiedene generationelle Zugänge. In der jüngeren Generation, unabhängig davon, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, wird viel stärker von der Aktualität von Rassismus oder von heutigen rechtsextremen Anschlägen zurück auf die Geschichte geblickt. Von daher werden Fragen gestellt wie: Was kann jeder tun? Was konnte damals jeder tun? Was heißt das für heute? Das finde ich sehr gut. Ich denke, man muss gar nicht so viele historische Details studieren, wie ich das gemacht habe – manchmal aus einer gewissen Obsession heraus –, um die richtigen Konsequenzen ziehen zu können.

Du schreibst auch, dass man vor allem dann Empathie empfinden kann, wenn man in die Nähe eines Gegenübers rückt, dass es um ein Ähnlich-machen geht, und betonst auch dein Privileg einer vielgereisten Journalistin. Zum Beispiel gab es einen Moment auf deinen Reisen, wo Leute dir eine Art Verwandtschaft angeboten haben, indem sie dir Fotos von afrikanischen Soldaten, die im zweiten Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben, zeigten. Aber wenn man dieses Privileg der persönlichen Begegnung nicht hat – wie kann man die Empathie dann herstellen? Wie kann das gelingen und mit welchem Gegenüber?

Man kann nicht über alles Bescheid wissen, und in vielen Fällen kann Empathie gar nicht gelingen. Gemäß der internationalen Medienstruktur wird in Deutschland und der übrigen westlichen Welt viel über andere Teile der Erde berichtet, die nicht die Ressourcen haben, in demselben Maße über uns zu berichten. Von daher bekommen wir in jeder Nachrichtensendung mehr Leid, Krieg und Katastrophen mit, als man überhaupt verarbeiten kann. Ich habe mir beispielsweise abgewöhnt, Tagesschau-Sendungen zu gucken, weil ich gemerkt habe, dass ich das nicht verarbeiten kann, obwohl ich viele Schauplätze sogar kenne. In zwei Sätzen werden einem da Tausende von Toten präsentiert – entweder man hört gar nicht mehr richtig zu oder ist naturgemäß irgendwann abgestumpft. Es geht mir eigentlich eher darum, dass wir in ganz bestimmten historischen Kontexten große Lücken von Wissen, von Interesse und von Anteilnahme haben.

Das Beispiel der Kolonialsoldaten, mit dem ich das Buch beginne, ist für mich so interessant, weil sich darin so vieles trifft. Zum Beispiel: Wie kommt es überhaupt dazu, dass man übersehen hat, wie sehr das ganze Weltgeschehen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs von Kolonialität geprägt war? Dass so viele Soldaten aus Afrika für ihre Kolonialherren kämpften, zum Beispiel für Frankreich, das ohne sie 1945 keine Siegermacht gewesen wäre? Und dann kann man sich einmal vorstellen: Die haben da unter der Regie eines rassistischen Kolonialstaats gegen noch schlimmeren Rassismus in Deutschland gekämpft – was bedeutet es für einen Menschen, der das tut? Manche waren dazu gezwungen, andere haben das freiwillig getan. Aber was für eine immense innere Zerrissenheit das für viele bedeutet haben muss! Das waren ja keine Roboter, die von Frankreich engagiert wurden, um dann auf irgendwelchen Schlachtfeldern zu sterben, sondern Menschen mit eigener Individualität und Prägung. Also, bei den Kolonialsoldaten geht es einerseits um geschichtliches Wissen, das fehlt, und gleichzeitig steckt darin so viel Berührendes, weil wir heute sensibler sind für Rassismus. Auf diese Weise kann Empathie entstehen: die Welt und die Geschichte für einen Moment aus der Warte eines Anderen sehen.

Und außerdem: Da kommen heute Geflüchtete aus Ländern, die gegen Nazi-Deutschland gekämpft haben, und wir lassen die im Mittelmeer verrecken? Da hast du alle Komponenten zusammen, die dir helfen können, Stück für Stück zu verstehen und dabei in die Tiefe zu gehen. Das ist das Anliegen meines Buchs: die Tiefe der Ereignisse zu verstehen und welche Fragen sie an die Gegenwart und an uns im Heute richten. Also bitte weg von der Idee, man solle jetzt den Schmerz aller Anderen und zwar ständig begreifen. Es gibt ganz bestimmte Andere, mit denen wir entweder in gegenwärtigen oder historischen Situationen in einer Art Verbindung stehen – ich wünsche mir, dass man deren Schmerz begreift und respektiert.

Vielen Dank für das Gespräch, Charlotte!