Klassikerinnen: Isabella Caldart über Mercè Rodoreda

Ihrem berühmtesten Roman stellt sie ein Zitat des englischen Lyrikers und Schriftstellers George Meredith voran, das so simpel wie tiefgründig ist: „My dear, these things are life.“ Und von nichts Geringerem erzählt Mercè Rodoreda – vom Leben und von den Dingen, die das Leben aus- und manchmal auch so schwierig machen. Rodoreda ist, da sind sich alle einig, die wichtigste Vertreterin der katalanischen Literatur; allein ihr Roman +Auf der Plaça del Diamant, der mit Meredith eingeleitet wird, wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt, verfilmt, fürs Theater adaptiert und ist in Katalonien Schullektüre. In Deutschland erlebte Rodoreda ein kleines Revival, als im Jahr 2014 der mare Verlag ihren Roman +Der Garten über dem Meer erstmals auf Deutsch übersetzen ließ und im edlen Schuber samt Nachwort von Roger Willemsen herausgab. Doch was macht die Autorin so besonders?

Eine ungewöhnliche Ehe und ein Bürgerkrieg

Geboren wurde Mercè Rodoreda i Gurguí, wie ihr voller Name lautet, am 10. Oktober 1908 in Barcelona als einziges Kind von bürgerlichen, sehr an Kultur interessierten Eltern. Die Eltern waren es auch, die der kleinen Mercè von klein auf die großen Autoren der katalanischen Literatur näherbrachten. Im Jahr 1928, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, heiratete sie ihren vierzehn Jahre älteren Onkel (ja, wirklich) Joan Gurguí. Aufgrund der Blutsverwandtschaft benötigte das Paar eine päpstliche Dispens, um die Ehe vollziehen zu dürfen. Nach der Geburt ihres einzigen Sohns Jordi am 23. Juli 1929 begann Rodoreda, sich langsam von dem ihr gesellschaftlich wie familiär vorgeschriebenen Leben zu distanzieren. Gelangweilt vom monotonen Alltag einer Hausfrau und mit dem eisernen Willen, sich ökonomisch unabhängig zu machen, fing sie an, mehrere Stunden täglich zu schreiben.

Politisch war die Zeit in Spanien äußerst turbulent. Nach einem Militärputsch (mit Hilfe des Bourbonenkönigs Alfonso XIII) errichtete der General Miguel Primo de Rivera ab dem 13. September 1923 eine Diktatur, die bis zu dessen Rücktritt am 28. Januar 1930 andauerte. Am 14. April 1931 wurde schließlich die Zweite Spanische Republik ausgerufen. Doch lange sollte diese progressive Regierung nicht währen: Am 17. Juli 1936 begann der knapp drei Jahre währende Spanische Bürgerkrieg, der von Francisco Francos Truppen gewonnen wurde. Bis zu seinem Tod am 20. November 1975 sollte Franco Diktator von Spanien bleiben.

Der Bürgerkrieg und die Diktatur hatten auch direkte Auswirkungen auf das Leben Rodoredas. Nicht nur verarbeitete sie wie viele andere Autor*innen aus allen Regionen Spaniens diese Ereignisse literarisch (vor allem, aber nicht nur, in „Auf der Plaça del Diamant“); noch vor Ende des Bürgerkriegs sah sie sich gezwungen, ins Exil zu gehen, und verließ Katalonien am 23. Januar 1939 Richtung Frankreich. Bereits 1937 hatte sie sich entschieden, sich von ihrem Ehemann zu trennen. Im selben Jahr wurde ihr mutmaßlicher Liebhaber Andrés Nin, Marxist, Gewerkschafter und Übersetzer, vom Sitz seiner Partei auf den Ramblas verschleppt und gefoltert und hingerichtet.

Erfolg im Exil

Während all dieser politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Umbrüche schrieb Mercè Rodoreda. Bereits 1932 erschien ihr (bis dato unübersetzter) Roman „Sóc una dona honrada?“ („Bin ich eine ehrliche Frau?“), sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Artikel in mehreren Medien. Dem Debüt folgten drei weitere Romane, die Rodoreda später in ihrem Leben allesamt ablehnen sollte wegen „zu geringer Qualität“ und ihrer damaligen Unerfahrenheit. Der fünfte Roman +Aloma, der 1938 publiziert wurde, ist der einzige ihres Werks aus der Vorkriegszeit, den sie schätzte. Er erzählt vom Aufwachsen der jungen Aloma in Barcelona, die Eltern und der Bruder sind tot, ihr Leben beengt – einzig die Rückkehr eines Bekannten aus Südamerika verspricht einen Ausbruch aus dieser Tristesse. Übrigens: Um ihren hohen Ansprüchen gerecht zu werden, überarbeite Rodorada den Roman 30 Jahre nach Ersterscheinen nochmal und veröffentlichte ihn 1968 neu.

Im Exil lebte Rodoreda in Roissy-en-Brie bei Paris, später nach einer erneuten Flucht (dieses Mal vor den Nazis) in Limoges und in Bourdeaux, bevor sie 1946 nach Paris zurückkehrte und 1954 schließlich nach Genf zog. Während ihrer Zeit in Genf verfasste sie ihren mit Abstand berühmtesten und erfolgreichsten Roman: „Auf der Plaça del Diamant“, der 1962 in ihrem Schweizer Exil veröffentlicht wurde (die Übersetzung von Hans Weiss erschien 1979 im Suhrkamp Verlag), sowie zwei weitere Romane, darunter „Der Garten über dem Meer“.

„Auf der Plaça del Diamant“ erzählt von der jungen Natàlia, die während der Zweiten Spanischen Republik bei einem Nachbarschaftsfest auf dem Diamantplatz in Barcelona den schneidigen Quimet kennenlernt, der sie kurzerhand umtauft und ab sofort Colometa, das Täubchen, nennt. Bereits wenige Jahre nach ihrer Hochzeit fällt Quimet an der Front, und Colometa bleibt zurück im vom Bürgerkrieg, von Armut, Elend und Entbehrung geprägten Barcelona, und muss nicht nur sich, sondern vor allem ihre beiden kleinen Kinder irgendwie durchbringen. Und dabei versuchen, ihr verlorenes Selbst wiederzufinden, sich auf die Natàlia zu besinnen, die sie einst war.

„Die Regentropfen hingen an Wäscheleinen und spielten Fangen miteinander. Manchmal fiel ein Tropfen von der Leine, auf die Erde, aber bevor er hinunterfiel, dehnte und streckte er sich, weil es ihm schwer fiel, sich von den anderen loszureißen.“

Wie so viele Schriftsteller*innen Spaniens widmet sich auch die katalanische Autorin dem Bürgerkrieg und seinen Folgen, namentlich der Diktatur; doch anders als vor allem ihre männlichen Kollegen geht es bei Mercè Rodoreda weniger um den Krieg an sich als um seine Auswirkungen auf die zurückgebliebene Zivilbevölkerung. In ihrem Kampf ums Überleben begleiten wir Colometa mehrere Jahrzehnte lang. Wir erleben, wie sich von gesellschaftlichen und patriarchalen Erwartungen befreit, wie sich auch ihre Sprache sich verändert und sie langsam wieder zu Natàlia wird. Neben den täglichen Herausforderungen, die Rodoreda gekonnt erzählt, und der grandiosen Protagonistin, besticht der Roman vor allem durch kleine Alltagsbeobachtungen, die Rodoreda in poetischer Sprache schildert. Kein Wunder, dass Gabriel García Márquez so entzückt von „Auf der Plaça del Diamant“ war, dass er ihn sogar mehrfach auf Katalanisch las, „mit einer Mühe, die viel über meine Verehrung aussagt“. Es sei „der schönste [Roman], der nach dem Bürgerkrieg in Spanien veröffentlicht wurde“. Wie wahr: „Auf der Plaça del Diamant“ ist unbestritten einer der wichtigsten europäischen Romane des 20. Jahrhunderts.

Meisterin der leisen Töne

Rodoredas Roman „Der Garten über dem Meer“ (1967), der 2014 (in der Übersetzung von Kirsten Brandt) vom mare Verlag erstmals auf Deutsch erschien, ist wie das fünf Jahre zuvor publizierte „Plaça del Diamant“ auch sehr ruhig geschildert, erzählt aber anders als jener nicht politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen, sondern blendet die Außenwelt fast vollständig aus. Sechs Sommer lang treffen sich junge, reiche Menschen auf einem großen Anwesen in der Nähe von Barcelona, um dem verschwenderischen Leben zu frönen. Sie werden beobachtet von einem alten Gärtner, der namenlos bleibt, und der halb unsichtbar am Rande jeder Szene steht und uns Leser*innen davon berichtet. Es ist die Zeit vor dem Bürgerkrieg, eine ausgelassene Zeit, aber auch eine, die ein Ablaufdatum hat, unweigerlich auf ein Ende zusteuert – und das nicht deswegen, weil die politische Realität in dieses utopische Dasein einbricht, sondern weil von Anfang an klar ist, dass die Party nicht immer so weitergehen kann.

„Ich habe schon immer gerne erfahren, was den Leuten so alles passiert, und das nicht etwa, weil ich neugierig wäre … Eher, weil ich Menschen mag, und die Besitzer dieses Hauses mochte ich sehr. Aber das alles ist schon so lange her, dass ich mich an vieles nicht mehr erinnere, ich bin zu alt und bringe manchmal die Dinge durcheinander, ohne es zu wollen …“

„Der Garten über dem Meer“ wurde oft mit „Der große Gatsby“ verglichen, und das aus gutem Grund: Setting, Figurenkonstellation und Erzähler ähneln sich in beiden Romanen ebenso wie die Melancholie, die dem ganzen Exzess zugrunde liegt. Und doch ist Rodoreda subtiler als Fitzgerald, auch weil sie, wie Roger Willemsen in seinem Nachwort richtig feststellt, „vom Feinsinn ihrer Leserinnen und Leser eine so hohe Meinung hat“, die Rezeption nicht vorschreibt, sondern „der Kraft der Andeutung“ vertraut. „Rodoreda ist die Meisterin der leisen Töne, des nur Angedeuteten, weshalb ihre Bücher oft mit impressionistischen Gemälden verglichen werden“, sagte Übersetzerin Kerstin Brandt in einem Interview mit der Büchergilde Gutenberg. Wie Colometa bleibt auch der Gärtner passiv, „doch in ihren Beobachtungen und Gedanken offenbart sich eine tiefe, manchmal resignierte Lebensweisheit, die die Lektüre zu einem melancholischen Vergnügen macht“.

Eine unsterbliche Erzählerin

Nach +Der Garten über dem Meer erschienen neben mehreren Kurzgeschichtenbänden noch zwei große Romane von Mercè Rodoreda: +Der zerbrochene Spiegel (1974) und +Weil Krieg ist (1980), beide von Angelika Maass für Suhrkamp auf Deutsch übersetzt. Die Autorin hatte sich zu der Zeit schon zurückgezogen, lebte seit 1972 im Dörfchen Romanyá de la Selva in der Nähe von Girona. Im Alter von 75 Jahren starb sie dort am 13. April 1983 an Krebs. Ihren letzten großen Roman konnte sie nicht mehr beenden, er wurde 1986 aus ihrem Nachlass posthum veröffentlicht (auf Deutsch ebenfalls in der Übersetzung von Maass), und dreht sich um das Thema Suizid. Er trägt den passenden Titel +Der Tod und der Frühling.

Mercè Rodoreda ist tot, doch sie ist auch unsterblich – vierzig Jahre nach ihrem Tod leuchtet ihr Stern noch immer hell. In Barcelona erinnert man an vielen Orten an die wichtigste Stimme der katalanischen Literatur; nicht zuletzt trägt der Plaça del Diamant im Viertel Gràcia eine Plakette mit ihrem Namen, ihrer Protagonistin Colometa ist dort eine Skulptur gewidmet. Und auch sonst ist die Bedeutung Rodoredas seit ihrem Tod fast noch gestiegen. Kein Wunder, denn trotz der vielen Katalonien- beziehungsweise Spanien-spezifischen Themen haben ihre Romane doch eine Allgemeingültigkeit, weil sie menschliche Emotionen, Beziehungen und Weiterentwicklungen verhandeln. Und natürlich das ganze Leben an sich. Oder, um es mit George Meredith zu sagen: The things that are life.

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Weiterer Roman von Mercè Rodoreda: +Der Fluß und das Boot

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