Entdeckenswert: Alfonsina Storni (1892-1938)

von Hildegard E. Keller

Am 23. April 2023 weihen wir in Vorarlberg einen internationalen Poesiewanderweg ein. Die Initiantin Anni Mathes, mehrfach ausgezeichnete Mundartautorin, möchte mit "Stille Laute" einen Parcours der Poesie für alle erschaffen. In Wiesen und Wäldern kann man Gedichte lesen, je eins in einem der zehn Holzhäuschen, und via QR-Code kann man sie auch anhören. Dieses lauschige Setting passt aus vielerlei Gründen zur Klassikerin des lateinamerikanischen Feminismus, die Generationen von Mädchen und Frauen prägte: Alfonsina, wie man sie in Argentinien noch heute nennt, war schon immer gern "unterm Volk", manche ihrer Gedichte standen auf der Hitliste von Rezitationsabenden und sind Gassenhauer geworden. Sie liebte die Natur und umarmte Bäume.

Diese "Alfonsina" kennen die allermeisten Lateinamerikaner aus dem Lied "Alfonsina und das Meer". Es besingt eine Selbstmörderin, die ins Meer gegangen sein soll, und entstand in den späten 1960er Jahren; die argentinische Sängerin Mercedes Sosa, damals noch am Anfang ihrer Karriere, machte es weltberühmt. In der Popularität dieses Liedes und den Meereswellen, die auch der Rhythmus hörbar macht, ging nicht nur eine Selbstmörderin unter, sondern die argentinische Schriftstellerin Alfonsina Storni (1892-1938) und ihr schriftstellerisches Werk.

Diese Frau muss wieder entdeckt werden, sagte ich mir. Ich wollte ihr Werk aus der Tiefe heben und für das deutschsprachige Publikum zugänglich machen, die ganze Breite ihres Werks, denn die Wellen haben – bis auf die Erinnerung an gewisse Gedichte, die sich ältere Menschen noch bewahrt haben – alles weggewaschen. Ich habe einen langen Weg zu ihr zurückgelegt und als Forscherin, Übersetzerin, Biografin und Performerin die hier vorgestellten Bücher gemacht. Es ist die erste deutsche Werkausgabe in fünf Bänden, die ich für die von mir mitbegründete Edition Maulhelden auch gestaltet habe. Jetzt kann man diese unbekannt-bekannte Alfonsina Storni erstmals in ganzer Breite auf Deutsch lesen.

Für den literarischen Wanderweg "Stille Laute", dessen Schirmherrin ich bin, konnte ich ein Gedicht vorschlagen. Ich musste nicht lange überlegen und wählte das Abschiedsgedicht von Alfonsina Storni aus dem Jahr 1938. Es trägt den Titel "Ich geh schlafen" (im spanischen Original: "Voy a dormir").

Alfonsina Storni, damals sechsundvierzig und sterbenskrank, schrieb dieses Gute-Nacht-Lied für sich selbst und für ihre Leserinnen und Leser. Längst hatte sie beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Wenige Tage später, am 25. Oktober 1938, verließ sie das Zimmer in ihrer Pension in Mar del Plata, ging zum Meer hinunter und stürzte sich von einer Mole in den Atlantik. Bald steht dieses Gedicht an einem Vorarlberger Waldrand, nah an der Grenze zur Schweiz.

Alfonsina Storni stammte aus dem Tessin. Auch sie hat einen Migrationshintergrund, wie sehr viele Menschen ihrer Generation, sowohl in der Schweiz als auch in Argentinien.

Auch das Dörfchen Sala Capriasca, wo Alfonsina am 29. Mai 1892 (gemäß Taufurkunde 22. Mai) zur Welt kam, war von Arbeitsmigration geprägt. Während die Schweiz damals ein Auswanderungsland war, zählte Argentinien zu den Ländern des Wohlstands. Die Familie Storni zog in die argentinische Provinz, als Alfonsina vier war. Mit neunzehn ging sie in die Hauptstadt Buenos Aires, das war 1912, als auch ihr Sohn Alejandro geboren wurde. Damals waren rund achtzig Prozent der Einwohner Immigranten. Auffällig an Alfonsina Storni war also nicht ihre Herkunft, sondern ihre Selbstbestimmung als unverheiratete, frisch diplomierte Lehrerin und berufstätige Mutter, als Freidenkerin und Aktivistin für die Gleichstellung der Geschlechter – und als Dichterin, die mit ihren Gedichten und Geschichten an die Öffentlichkeit trat. 1928 blickte sie auf ihre Anfänge in der Großstadt zurück.

"Doch das Virus der Träumerei nagte an meinem Geist: Du musst nach Buenos Aires, sagte es zu mir, dort ist dein Aktionsfeld. Und so bin ich nach Buenos Aires abgehauen, ohne anderes Kapital als meinen Optimismus. Ich war entschlossen, mit aller Kraft zu kämpfen." (Aus einem Interview. In: CARDO. Übersetzt von Hildegard E. Keller. Zürich: Edition Maulhelden 2021).

Aus diesem und anderen Interviews erfährt man, wie und warum Alfonsina Storni zu der Lyrikerin, Erzählerin, Literaturkritikerin und Theaterfrau (als Dozentin und Theaterschriftstellerin) geworden ist, als die man sie jetzt auf Deutsch kennenlernen kann – und auch zur scharfzüngigen Kolumnistin: Im ersten Band CHICAS. Kolumnen erzählt sie mit einem Lächeln auf den Stockzähnen, wann und warum sie zu ihrer ersten Kolumne kam:

"Der Tag ist grau, hartnäckiger Regen schlägt gegen die Scheiben, und auf dem Nachhauseweg habe ich Geschichten aus dem Leben von Verlaine gelesen. (…) In diesem Moment fällt mein Blick auf die Glühbirne, und das lenkt meine Gedanken auf eine Menge Dinge: die moderne Zeit, das Jahrhundert, in dem wir uns bewegen, die Hygiene, der Kampf gegen den Alkohol, Theorien zur vegetarischen Ernährung und so weiter. Augenblicklich begreife ich, dass ich in meinem Jahrhundert leben muss" (Kolumne von 1919, aus: CHICAS. Übersetzt von Hildegard E. Keller. Zürich: Edition Maulhelden 2021).

Alfonsina Storni, Mar del Plata, um 1925

Alfonsina Storni war eine moderne Frau, und trotz der Hindernisse, die dies in der argentinischen Gesellschaft darstellte, eine öffentliche Person. Mutig und kompromisslos bezog sie Stellung zu gesellschaftspolitischen Fragen, in einer Umgebung, die sich nicht dazu aufraffen konnte, die alten Zöpfe abzuschneiden. Das kostete Nerven, und dazu kam noch die Hektik der Großstadt und des Broterwerbs. Sechsundzwanzig Jahre lang erlebte und beschrieb sie Buenos Aires, in Prosatexten ebenso wie in Gedichten. Sie fühlte mit, spürte in der eigenen Bedrängnis auch die der anderen Lebewesen, denn sie war in ganz grundsätzlichem Sinn solidarisch mit aller Kreatur. Mit Besorgnis nahm sie wahr, wie die rasant wachsende Metropole Mensch, Tier und Pflanzen kaum Luft zum Atmen, Raum zum Leben ließ. Auch mit solcher Kritik wäre sie im Hier und Jetzt besser aufgehoben gewesen.

Anfangs 1938 erkannte Alfonsina Storni, dass der fortgeschrittene Brustkrebs ihre Lebensart in akute Gefahr brachte. Ein Leben lang hatte sie ihre Selbstbestimmung und wirtschaftliche Unabhängigkeit hochgehalten, tagaus, tagein musste sie mehreren Arbeitsstellen in Buenos Aires nachrennen, doch ihre Kräfte waren am Schwinden. Schon Jahre zuvor hatte sie der Hauptfigur eines ihrer Theaterstücke ihre eigene Philosophie von Leben und Sterben in den Mund gelegt.

Köchin: Zum Tode verurteilt? Das sind wir doch alle, mit dem kleinen Unterschied, dass die einen ein paar Jahre mehr als die anderen haben. Das Einzige, was ich die Menschen lehren würde, ist sterben können. […] Ein großes Herz liebt das Leben, kann aber auch ebenso gut den Tod annehmen.

(Alfonsina Storni: Polyxena und die kleine Köchin (1931). In: CIMBELINA. Übersetzt von Hildegard E. Keller. Zürich: Edition Maulhelden 2021)

Mehrfach adaptierte Alfonsina Storni auch Stücke von Euripides und Shakespeare, doch der Weg auf die Bühne war steinig. Kaum etwas konnte aufgeführt werden. In einem theaterkritischen Essay enthüllte sie, was sie im Theaterbetrieb von Buenos Aires erlebt hatte: eine inkompetente Theatertruppe, Mauschelei und Vetternwirtschaft, Heuchelei und Verlogenheit der Theaterkritiker. Trotz aller Ernüchterung blieb das Theater ihr größter Traum: das Erschaffen einer Wirklichkeit nur mit Wort, Stimme und Bewegung, mit Licht, Bühnenraum und vor allem Konflikten zwischen Charakteren. An diesen Teil von Alfonsina Stornis Werk erinnert sich heute kaum mehr jemand.

Angesichts der Aussichtslosigkeit, in die die Krankheit sie gestürzt hatte, schwand ihr Lebensmut. Sie beschloss, sich das Leben zu nehmen. Den Abschied hatte sie schon in Gedichten angedeutet, aber am Ende des letzten Gedichts wird sie deutlich: "Ach, noch eine Bitte: Wenn er noch einmal anruft, sag ihm, er solle es sein lassen, ich sei nun fort." Kurz vor dem Freitod hatte sie das Gedicht an die Zeitung La Nación geschickt, die es sozusagen "als letzten Beitrag der freien Mitarbeiterin" publizierte.

Alfonsina Storni war nicht nur als feministische Aktivistin und als radikale Humanistin ihrer Zeit voraus gewesen, sondern auch mit dieser letzten Geste der Selbstbestimmung. In Staaten wie der Schweiz, die das Recht auf assistierten Suizid juristisch absichern, können wir eine solche Haltung besser verstehen, als es Alfonsina Stornis Zeitgenossen möglich gewesen war. Sie vertraute auf die Zukunft und wusste, dass die Zeit für sie arbeiten würde. In ihrem Todesjahr schrieb sie:

"Die eigentliche Nachlassverwalterin für das Werk eines Autors aber ist die Zeit. Sie scheidet das eine vom andern, sortiert aus und lässt, wo nötig, Schaufeln voller Erde darauf fallen. Das ist auch recht so." (Aus CARDO. Übersetzt von Hildegard E. Keller. Zürich: Edition Maulhelden)

Die fünf Bände von Alfonsina Storni ermöglichen neue Blicke auf eine Wort-Aktivistin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Man entdeckt Mut und Fantasie, auch kämpferische Intelligenz und eine tiefe Humanität, in deren Dienst sie auch die Kunst sieht. Denn Kunst verfeinere ein menschliches Wesen und befähige es zur Liebe, wie sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schrieb.

"Die Liebe ist die einzige Empfindung, die das Leben rechtfertigt. Auch wenn die Menschen, durch die die Liebe strömt, sie immer wieder verraten." (Alfonsina Storni, 1919. In: CUCA. Übersetzt von Hildegard E. Keller. Zürich: Edition Maulhelden 2020).

Was aber bedeutet Entdecken und Wiederentdecken? An Alfonsina Stornis Werk kann man erkennen, wie Erinnern, aber auch Vergessen geschehen, sogar im Fall einer Klassikerin der lateinamerikanischen Literatur: Wie ein weiblicher Vorname zwar wie Schwemmgut an der Oberfläche dümpeln kann, aber die ganze Frau und ihre Biografie, ihr Lebenswerk als Schriftstellerin, ihr Scharfsinn und ihr Kampfgeist sind untergegangen. Davon werde ich in meiner Biografie erzählen, denn ich halte ihr Werk für einzigartig: So eine Vielfalt an Genres, an Haltungen und Stilen, angefangen bei ihren feministisch-frechen Kolumnen über die Kurzgeschichten und die Gedichte bis zu den Theaterstücken für Kinder und Erwachsene, ist wunderbar. Ich mag auch die vielen Interviews mit ihr, denn auch als öffentliche Person fiel sie aus dem Rahmen.

Wer Alfonsina Storni liest, hilft beim Entdecken mit: In jeder von uns werden Name, Werk und Wirkung neu verknüpft. Ich zweifle nicht daran, dass Alfonsina Storni sich über diesen Link freut. Sie wollte ihre Stimme erheben und Autorin sein, und zwar anders, als sie es an ihren eingebildeten männlichen Kollegen beobachtete:

"Weißt Du übrigens schon, dass man mich zur Jurorin in der städtischen Literaturkommission ernannt hat? Ich bin die erste Frau in einem Amt dieser Art. […] Sie hatten derart die Nase voll von all den Analphabeten, dass sie es nun schätzen, dass ich wenigstens lesen kann, auch wenn ich eine Frau bin." (Aus einem Brief von 1931. Aus CARDO. Übersetzt von Hildegard E. Keller. Zürich: Edition Maulhelden)