Lyrik Leben: schlafbaum-variationen – Dinçer Güçyeter im Gespräch mit Nico Bleutge

Verändern tiefgehende persönliche Erfahrungen die Sprache? Wenn ja, was bedeutet das für einen Lyriker? Welche Bedeutung hat der Wandel gesellschaftlicher Strukturen auf die Dichtung? Was kann ein erfahrener Dichter jungen Kolleg'innen raten? Darüber und über seinen neuen Gedichtband schlafbaum-variationen hat Dinçer Güçyeter für uns mit Nico Bleutge gesprochen.

Dinçer Güçyeter: Lieber Nico, 2006 ist dein erster Gedichtband klare konturen erschienen. Jetzt, 2023, haben wir Leser*innen deinen fünften Gedichtband schlafbaum-variationen in der Hand. Es gibt Lyriker'innen, die für ein paar Jahre in den Feuilletons gelobt werden und danach von der Bildfläche verschwinden. Nach 17 Jahren weckt dein neuer Gedichtband immer noch unsere Neugier, wir wollen wissen, zu welchen Bewegungen es in deiner Sprache und in deiner Wahrnehmung gekommen ist, was hält Nico Bleutges Dichtkunst so frisch?

Nico Bleutge: Es freut mich, das zu hören – als derjenige, der die Gedichte geschrieben hat, ist man ja blind, also hat einen blinden Fleck für manche Aspekte, für die Frage nach dem „eigenen Ton“ zum Beispiel oder nach der Lebendigkeit der Verse. Ich versuche Augen und Ohren immer offen zu halten, lausche auf Formulierungen, wenn ich unterwegs bin, und das Schreiben geht bei mir nicht ohne das Lesen. Und dann versuche ich immer, wenn ein neues Buch draußen ist, mich erst einmal abzusetzen von dem, was ich darin gemacht habe, und in eine ganz andere Richtung zu denken. Für den neuen Band gab es zwei tatsächlich umwälzende Erfahrungen, den Tod meines Vaters und die Geburt meiner Tochter, Trauer und Euphorie ineinander versträhnt. Und dazu kamen die Risslinien der Pandemie.

Du bist vielfältig unterwegs, schreibst Rezensionen, gibst Bände heraus. Hast dadurch einen anderen Einblick in den Zeitgeist. Was hat sich nach deinen Beobachtungen in der Gesellschaft und parallel in der Dichtung geändert? Oder so: haben die neuen gesellschaftlichen Strukturen Einfluss auf die Dichtung, oder allgemein: auf die Kulturszene?

Ja, unbedingt, man entdeckt in Gedichten ein großes Bewusstsein für Zuschreibungen, für Sprechpositionen, für offene und versteckte Hierarchien, für Ressentiments und ideologische Verschattungen, die in die alltägliche Sprache eingelagert sind, für rassistische Strukturen oder für andere Formen von Machtrede. Das ist unheimlich wichtig. Thematisch die Präsenz des Klimawandels, Diversitätsfragen und eine Auseinandersetzung mit dem politischen Rechtsruck. Und seit eineinhalb Jahren die alles aushebelnde Erfahrung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Das alles wird in der Gegenwartslyrik aufgenommen und kritisch reflektiert. Man merkt plötzlich, wie auch Sprache nicht nur angeschlagen, sondern zerstört werden kann. Man spürt Trauer und Angst und auch Wut. Und Gedichte gehen rein in diese Gegenwart, entwickeln eigene Sagweisen, Bildfelder, arbeiten verstärkt mit rhythmischen Brüchen und Lücken, und gerade was den Krieg betrifft, hat die Idee der Zeugenschaft wieder eine ganz große Bedeutung.

2020 erschien dein umfangreicher Essay-Band Drei Fliegen. Über Gedichte. Wird es in den kommenden Jahren einen Folgeband geben? Ich kam z.B. durch deinen Essay der Dichterin Barbara Köhler näher, bekam einen ganz neuen Blick für die Nuancen ihrer Sprache. Das schöne an deinen Essays, finde ich, ist, dass du nicht nur ein großes Bündel Wissen lieferst, sondern auch mit eigenen/persönlichen Empfindungen neue Brücken baust und so einen neuen Zugang in den Kosmos der Kolleg*innen ermöglichst.

Die Essays laufen immer parallel zu den Gedichten, oft in leichter zeitlicher Verschiebung. Ich versuche dann analytisch abzugehen, was ich in den Gedichten gemacht habe oder was ich gerade gelesen habe – das führt natürlich oft in ganz andere Richtungen oder verwandelt sich in der Form des Essays. Trotzdem liegen beide, Gedicht und Essay, für mich nah beieinander. Sie wollen nichts festzurren, sondern sind sehr beweglich und können alle Möglichkeiten der Sprache aufnehmen. Und natürlich geht das alles immer durch meine eigene Wahrnehmung hindurch. Die Drei Fliegen falten das auf, was in den letzten knapp 20 Jahren entstanden ist. Von daher wird es vermutlich noch ein bisschen dauern, bis wieder ein Essayband erscheint.

Der zweite Zyklus "schneebeere" in deinem neuen Band ist wie ein Wiegenlied aus Tausendundeiner Nacht. Nach Milch duftende Haare, flirrende Tiere … Für mich war es eine Reise auf einer märchenhaften Textfläche, die sehr viel Freude am Spiel mit der Sprache und Figuren vermittelt. "komm, pferd der steppe, lehre mich aus der schulter zu atmen." Das ist ein großartiges Bild, in der nächsten Zeile schreibst du "wiehere wie ich / wie das kind durch die öffnung der haustür." Eine Aufforderung zu neuen Entdeckungen. Ich entdecke hier ein neues Gesicht von Nico Bleutge, viel offener, direkter. Stimmt es?

Ich glaube schon, ja, in der Euphorie der ersten Monate nach der Geburt meiner Tochter war das Gefühl für die Sprache erst einmal weg. Als es dann mit dem Schreiben wieder losging, konnte ich das „Neulernen“ nutzen, ich habe die Sprache oft mehr laufen lassen als sonst.

Wenn es nicht zu privat ist. Ich habe nach der Geburt meiner Kinder jedes Mal eine neue, spielerische Sprache entdeckt. Das Einfache lag mir danach näher. Hat die Geburt deiner Tochter in deiner Sprache einen neuen Ton ausgelöst?

Auf jeden Fall, es gab eine große Lust, noch intensiver mit Klängen zu spielen. Ich habe mir sehr viele Kinderlieder und Märchen angesehen (und natürlich mit meiner Tochter gesungen und ihr vorgelesen). Auch die Tradition des Schamanismus und Texte aus der Mystik des Mittelalters oder das Kalewala waren wichtig, als Stofflieferanten für Sprache vor allem.

Und im nächsten Zyklus "besuche im klinikum" erfahren wir von einem Abschied. Es werden keine Personen genannt, doch dieses Gefühl wird sehr stark in der Sprache deutlich. Folgt nicht jedem Abschied auch ein neues Zusammenkommen? Beschäftigt dich der Junge mit dem Cowboyhut immer noch?

Klar, das wird auch nie zu Ende sein. Aber es ist jetzt sozusagen im Gedicht aufgehoben, hat sich in Form übersetzt. Ein sehr naher Mensch geht und ein Erinnerungsfilm aus Sprache bleibt, mit dieser paradoxen Bewegung kann ich leben.

Der Dichter Nico Bleutge zieht sich oft zurück, lässt Träume aus unterschiedlichen Zeiten für sich sprechen. Besonders im letzten Zyklus hat man als Leser'in das Gefühl, man sitzt dem Dichter nicht gegenüber, sondern nebeneinander mit ihm auf einer Couch vor einer riesigen Leinwand, sieht/hört die Stimmen der Tiere, die Atemzüge der laufenden Kinder im Hof. Und hier brauche ich deine Hilfe, wie kannst du die Situation beschreiben?

Das ist etwas, das ich aus Rom mitgebracht habe. Ich hatte das Glück, dort ein Jahr leben zu dürfen. Im Herbst habe ich die Stare beobachtet, die auf dem Weg in die Winterquartiere in Rom Station machen. Nicht weil ihnen die Stadt so gut gefallen würde, sondern weil die Landschaft draußen aufgrund von Monokulturisierung und anderem keine Nahrungs- und Schlafmöglichkeiten mehr bietet. Also weichen die Zugvögel in die Städte aus, wo sie mithilfe von domestizierten Falken und lauten Greifvogelschreien aus großen Lautsprechern wieder vertrieben werden sollen, weil sie die ökonomischen Abläufe stören. Das ist eine Bewegung, die mich sehr beschäftigt hat. Und die ich dann einem Zyklus aus 21 Gedichten eingeschrieben habe, den schlafbaum-variationen eben.

Auszug aus schlafbaum-variationen von Nico Bleutge, erschienen bei C.H.Beck

Ich komme heute mit jüngeren Kolleg'innen zusammen, die immer wieder wissen wollen, auf welchem Weg man am Besten seine Gedichte verbreiten kann. Wie würdest du als erfahrener, älterer Bruder auf diese Frage antworten?

Da würde ich dinosaurierhaft antworten: Bücher und Lesungen. Vor allem den Gedichten eine Stimme zu geben, wird immer wichtiger. Sich eine eigene Art des Vortrags, eine eigene Tonspur für die Gedichte zu überlegen. Die man dann vor anderen Menschen ausrollt. Im besten Fall entsteht so eine eigene Atmosphäre zwischen Publikum und Sprechenden, die es nur dieses eine Mal gibt.

In Feuilletons wird der Platz für Lyrik immer weniger, die Situation der Verlage ist auch nicht sehr erfreulich. Auf der anderen Seite gibt es viele Möglichkeiten in sozialen Netzwerken. Du bist in diesen Netzwerken nicht vertreten. Gerade wird unter Kolleg*innen auch sehr stark über die Vermittlung der Lyrik diskutiert. Wie ist dein Eindruck, wo geht es nach deiner Meinung hin?

Das ist eine große Frage. Um ehrlich zu sein: Ich weiß es im Moment nicht. Es gibt breite Umwälzungen sozusagen systemischer Art. Verlage und Zeitungen stehen unter immensem ökonomischem Druck. Es gibt eine allgemeine Sehnsucht nach Ablenkung und Unterhaltung, die auch in die Programme der Medien einwandert. Das alles hat sich durch die Pandemie enorm verschärft. Eingängige und affirmative Formate wie Portraits, Interviews, der Hausbesuch oder die thematisch gebundene Sammelbesprechung sind inzwischen viel wichtiger als die Rezension. Damit geht aber ein ganz wichtiges Moment an Analyse und Kritik verloren. Das strahlt natürlich auch auf die Lyrik ab und trifft diese vergleichsweise kleine Sparte besonders hart. Andererseits finden sich auch unter den jüngeren Schreibenden jetzt einige, die selbst Gedichtbände besprechen. Und die Lyrikkritik hat schon immer vom persönlichen Einsatz einiger weniger gelebt. Auch Veranstaltungen, glaube ich, laufen gerade sehr gut. Es gibt eine Menge an neuen jungen lyrischen Stimmen, die man unbedingt sehen und hören (und lesen!) muss.

Und bevor ich dir diese Fragen schicke, lese ich in der Presse: Düsseldorfer Literaturpreis für Schriftsteller Nico Bleutge. Zu diesem Preis gratuliere ich dir ganz herzlich.

Vielen lieben Dank, Dinçer!

Zum Schluss: Welche Projekte liegen gerade auf deinem Schreibtisch und welche Bücher auf der Kommode?

Ich lese gerade Mary Austins Land des kargen Regens und Anja Utlers neuen Gedichtband Es beginnt, beides großartige Bücher. Größere Projekte gibt es im Moment gar nicht. Wenn ein neuer Band erschienen ist, puste ich erst einmal für eine Weile durch.

Ich danke dir für das Gespräch, lieber Nico.

Das Gespräch wurde im Juni 2023 geführt.