Perspektivwechsel – Ein Gespräch mit Fabian Neidhardt über seinen Roman "Nur ein paar Nächte"

Im Mittelpunkt von Fabian Neidhardts Roman Nur ein paar Nächte steht Ben – ein Mitte dreißigjähriger, alleinerziehender Vater, der mit seiner 12-jährigen Tochter Mia auf dem Land lebt und als Holzschnitzer und Workshopleiter arbeitet. Er ist gerade in seiner Werkstatt, als sein Vater Emil unangekündigt vor der Tür steht – er hat Bens Mutter betrogen und will ein paar Tage bei seinem Sohn unterkommen. Als wäre das nicht schon aufwühlend genug, steht kurz darauf auch noch die Polizei vor der Tür, um Mia nach Hause zu bringen. Sie wollte auf eigene Faust nach Hamburg fahren, um ihre Mutter und Bens frühere große Liebe, Orna, endlich kennenzulernen. So beginnt der Roman mit zwei Ereignissen, die Erinnerungen, über Jahre Ungesagtes, Konflikte und Unsicherheiten zutage fördern. Ben fragt sich, ob er Mia als alleinerziehender Elternteil ausreicht, gleichzeitig fühlt er sich selbst wie ein verletztes Kind, als die Ehe seiner Eltern auf der Kippe steht – ein Roman über das Eltern-und-Kind-Sein, Nicht-Mutterschaft, das große Schweigen in Familien und Lebensentscheidungen, die einen immer wieder auf die Probe stellen. Olivia Kuderewski hat Fabian Neidhardt getroffen und mit ihm über "Nur ein paar Nächte" gesprochen.

Lieber Faby – wir kennen uns noch aus unserer gemeinsamen Zeit in Hildesheim, vom Masterstudium Literarisches Schreiben – Glückwunsch zum zweiten Roman! Du hast ihn vor Kurzem rausgebracht und auch auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt. Man sagt, dass das zweite Buch, ähnlich wie das zweite Album, eine heftige Nummer ist, weil man keinen Welpenschutz mehr genießt und die Leute kritischer damit umgehen. Wie empfindest du das und wie war die Messe für dich?

Livi, ich freue mich total, dass wir das hier machen (lacht). Ja, das verflixte zweite Album. Für das erste Buch hatte ich Jahre Zeit und konnte ewig dran rumdoktern, Nur ein paar Nächte habe ich in knapp anderthalb Jahren geschrieben. Der Transparenz halber muss ich sagen, dass Immer noch wach ja nicht ganz mein erstes Buch war. Ich habe neun Jahre vorher eines im Selfpublishing rausgebracht. Aber es war das Verlagsdebüt und in der allgemeinen Wahrnehmung das erste Buch (kratzt sich am Kopf). Da war Welpenschutz, das Etikett „Debüt“ ist ja immer etwas ganz Besonderes und dann hatte ich auch einen wirklich guten Start. „Nur ein paar Nächte“ musste da also rankommen, musste aber auch beweisen, dass ich mit „Immer noch wach“ nicht einfach nur Glück hatte. Sondern, dass ich das wirklich kann, dieses Schreiben. In diesen 18 Monaten habe ich wirklich einige Male richtig daran gezweifelt und ich bin sehr froh um meine Lektorin und um ein paar andere Leute, die mir in der Zeit immer zur Seite standen. Ich war selbst extrem kritisch, aber ich kann gar nicht sagen, ob die Leser*innen das auch waren. Zumindest war da eine Erwartungshaltung, die ich mit dem ersten Buch aufgebaut habe, ein „So schreibt der Neidhardt“. Die Rückmeldungen, die ich seit dem Erscheinen bekomme, sind eher positiv. Ich glaube also, ich konnte die Erwartungen erfüllen. Ein Glück (lacht).Und die Messe war dann ganz besonders, weil sie für mich die erste mit einem Verlagsbuch von mir war. 2019, zur letzten Leipziger Buchmesse, hatte ich noch mein Manuskript und keinen Verlag, der das wollte. Erst ein halbes Jahr später kam Haymon auf mich zu und dann fiel die Veröffentlichung des ersten Buches mitten in die Pandemie. Und jetzt, vier Jahre später, war wieder Messe und ich war mit meinem zweiten Buch da. Das war krass. Im besten Sinn.

Kannst du kurz umreißen, was der Kern des Romans für dich ist? Welches Thema steht für dich im Mittelpunkt?

Der Ursprung des Romans liegt für mich in den Kommunikationsproblemen von Vater und Sohn. Aus dieser Erkenntnis habe ich dieses Buch angefangen: Dass die Kommunikation erwachsener Menschen zu ihren Eltern immer gestört ist. Meine ist es auf jeden Fall und auch die von allen, mit denen ich darüber geredet habe. Und dann habe ich gemerkt, dass ich diese Geschichte nicht erzählen kann ohne all die anderen Themen, die jetzt auch im Roman sind.

Was sind das für Themen?

Naja, ich wusste, dass Bens Vater wieder nach Hause kommt und Ben automatisch – und nicht mal bewusst – wieder in die Rolle des Kindes drückt. Und ich wusste, dass Ben das nicht zulassen kann, weil er selbst ein Kind hat und Vater sein muss. Als ich das den Leuten erzählt habe – Mia und wie sie versucht, zur Mutter zu kommen – sagten viele plötzlich: „Warte mal, die Mutter lebt noch, aber sie hat das Kind verlassen? Das muss eine Rabenmutter sein.“ Bis dahin war Orna eine Nebenfigur, die nur existiert hat, weil ich einen alleinerziehenden Vater wollte (lacht und wird schnell wieder ernst). Aber ich wollte dann auch nicht – quasi nebenbei – ein Rollenbild verstärken, das ich extrem problematisch finde. Und dann habe ich gemerkt, dass die Themen Mutterschaft und Nicht-Mutterschaft und all ihre Facetten kaum in unserem Alltag vorkommen. Es gibt fast immer nur die romantisierte Fassung einer Frau, die auf jeden Fall Mutter werden will und das auch wird. Das darf auch mal anstrengend sein, aber alles irgendwie im Rahmen. Was ich fast nie lese oder höre oder sehe, sind Frauen, die keine Kinder wollen. Frauen, die Kinder wollen, aber keine bekommen können, aus den unterschiedlichsten Gründen. Frauen, die ein Kind zu früh verlieren. Obwohl all diese Dinge genauso normal sind und passieren wie die Erzählung der Frau, die Mutter werden will und bei der alles gut läuft. Aber wir reden da nicht drüber, also sind sie eben nicht normal. Und ich dachte, wenn ich über Kommunikation schreibe, dann muss ich es ganz aktiv anders machen, also ganz bewusst eine andere Version von Muttersein oder -nichtsein erzählen.

Hattest du Befürchtungen, als Mann darüber zu schreiben und welche Reaktionen gab es bisher darauf? Ich beobachte es jetzt gerade beim neuen Roman von Stuckrad-Barre, dass es ganz heftige Gegenwehr von einigen Feminist*innen gibt, dass sich ein erfolgreicher Mann, der vom System profitiert, zum Thema „Me too“ äußert. Gab es bei dir eine Art „Bammel“ davor, das Thema nicht behandeln zu „dürfen“?

Klar gab’s den Bammel. Meine Art, damit umzugehen, war, mich so gut es geht in dieses Thema einzuarbeiten und mit wirklich vielen Frauen*, Müttern und einer ganz großartigen Hebamme zu reden. Zusätzlich habe ich ein paar Bücher zu dem Thema gelesen. Ganz wichtig war „Regretting Motherhood“ von Orna Donath. Und ich habe das Glück, dass viele Menschen nicht nur mit mir geredet haben, sondern eine Vorfassung gelesen und mir unfassbar wertvolle Rückmeldungen gegeben haben, die ich akribisch eingearbeitet habe. Wenn in Rezensionen das Thema aufkam, dann – bisher – nur als „Ich hab ja darauf gewartet, dass du es verkackst, aber das ist nicht passiert“ (lacht). Ich denke tatsächlich, ich hatte Glück und hab das irgendwie hinbekommen – über ein Thema zu schreiben, das ich nicht aus eigener Erfahrung kenne, aber es so empathisch zu machen, dass es eher eine Bühne für das Thema ist als meine persönliche Meinung als weiß gelesener, deutscher Hetero-Cis-Mann Mitte, Ende dreißig (zuckt mit den Schultern). Ich glaube, es gibt genügend Meinungen und Erfahrungsberichte und „Probleme“ von Männern wie mir. Warum nicht die Aufmerksamkeit für andere Themen schaffen? Eben solche, die sonst eher wenig davon erfahren. Das ist zumindest meine Hoffnung, mein Ziel.

Ist dein Buch in diesem Sinne eine Art „Empowerment“?

Ich tu mir ganz schwer, das zu beantworten. Weil ich keine Anleitung und keine Antwort geben will. Ich will über Themen reden, über die wir meiner Meinung nach zu selten reden. In der Hoffnung, dass Menschen vielleicht merken: „Ah, ich bin damit ja gar nicht allein.“ Wenn das passiert, bin ich happy. Und wenn sich dann jemand durch das Buch zu irgendwas ermutigt fühlt, auch gut.

Lass uns jetzt über die Väter reden: Bens Vater Emil tut sich sehr schwer damit, seinem Sohn gegenüber seine Gefühle zu kommunizieren und empathisch auf ihn zuzugehen. Das „Nicht-reden-Können“ mit Eltern und der „Liebesmangel“ von vor allem Vätern dieser Generation scheinen mir seit ein paar Jahren immer größere Themen in der Literatur zu werden – wie kamst du selbst darauf? Gibt es Vorbilder, die du in Bezug darauf gelesen hast? Und kannst du dir erklären, warum es so an Bedeutung gewinnt?

Ich finde, es gibt generell einen Trend, über Männlichkeit zu schreiben. Wie sie in den letzten Jahrzehnten definiert wurde, warum das ein Problem ist und wie sie in Zukunft sein könnte. (zuckt mit den Schultern) Ich glaube, das sind alles Themen, die miteinander zusammenhängen und die vielleicht, hoffentlich, darauf hindeuten, dass es eine neue Generation Männer und Väter geben könnte, die anders, besser kommuniziert und sich selbst – als Mann – nicht mehr ganz so ernst nimmt.Ich bin für mich auf das Thema gekommen, weil meine Eltern sich erst vor wenigen Jahren getrennt haben. Ziemlich spät also. Und ich das dann ganz persönlich erlebt habe, dieses „Nicht-reden-Können“ zwischen meinem Vater und mir. Und als ich das anderen Leuten erzählt habe, habe ich bemerkt, dass ich damit überhaupt nicht allein bin. Erst mit der Arbeit am Buch habe ich gemerkt, dass ich – natürlich – nicht der Erste bin, der darüber schreibt. Aktiv habe ich nicht nach Vorbildern oder Inspiration gesucht, aber quasi zufällig in genau der Zeit „Mittnachtstraße“ von Frank Rudkoffsky gelesen, der auch diesem Thema begegnet.

Auch wenn dein Buch an vielen Stellen aufwühlend und konfliktreich ist – Bens gesamte Familie trifft sich ja zu einem Essen, bei dem viel aufgewirbelt wird – ich hatte am Ende ein sehr versöhnliches Gefühl, auch wenn die Probleme nicht wirklich gelöst waren. Aber es wurden ein paar Themen aufgemacht, ein paar Dinge endlich ausgesprochen – wie empfindest du das? Ongoing Process?

Genau so. In meiner Erinnerung an das Aufwachsen in den 90ern haben wir viel zu viele Geschichten mit Happy Ending konsumiert. Und uns allen war irgendwie klar, dass nie alles einfach gut ist. Deshalb enden meine Geschichten nie happy. Aber mit einer Hoffnung, dass wir da hinkommen könnten. Der Song zu diesem Gefühl ist „It’s not right, but it’s okay“ von Whitney Houston.

Du hast aus der Sicht mehrerer Figuren geschrieben, die einem alle schnell ans Herz wachsen. Und auch wenn Ben im Mittelpunkt steht, weil er derjenige ist, der mit allen anderen Figuren eng verbunden ist – was hat dich auf die Idee gebracht, aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, und war es schwierig, sich in so unterschiedliche Charaktere einzufühlen? Sie reichen ja von Bens 12-jähriger Tochter Mia bis zu seinem Vater Emil, der zu diesen Zeitpunkt Mitte sechzig ist.

Ben und Mia waren als erste Figuren da. Dann kamen Emil, Orna, Bens Mutter Milena und seine Schwester Salome, in dieser Reihenfolge. Den Vorgängerroman habe ich nur aus der Perspektive des Protagonisten geschrieben und so sehr ich das Buch mag, mir selbst haben immer die Perspektiven der anderen gefehlt. Also wollte ich das diesmal anders machen. Und ich hab relativ schnell gemerkt, dass gerade dieses Wechseln der Perspektiven mich viel näher an die Figuren und ihre Gefühle gebracht hat. Ich musste beim Schreiben immer wieder an Stefan Zweig und die Schachnovelle denken, wie sein Protagonist versucht, sein Hirn so zu spalten, dass er beide Farben einer Partie Schach spielen kann. So ähnlich habe ich meine Figuren geschrieben. Wenn ich Mia geschrieben habe, war ich Team Mia. Wenn ich Ben geschrieben habe, Team Ben, zu 100 Prozent. Und so weiter. Und das Einfühlen hat für mich auch darüber geklappt, dass ich mit ganz vielen Menschen zwischen zwölf und Mitte sechzig geredet habe und ihre Gefühle habe einfließen lassen. In diesem Buch ist ganz wenig erfunden. Ich habe nur die verschiedenen Realitäten, Wünsche, Hoffnungen und Träume, wie auch die Verletzungen, die Ängste und die Scham von ganz vielen Leuten zu einem Buch zusammengesetzt.

Wissen diese Menschen davon? Hast du dir Erlaubnis eingeholt? (lacht)

So halb, halb. Viele Menschen wussten in den Momenten, in denen sie mir Dinge erzählten, dass ich gerade für dieses Buch recherchiere. Beim Radio haben wir früher immer gesagt: Wenn du jemandem ein Mikro unter die Nase hältst und die Person auf deine Frage in das Mikro antwortet, gibt sie damit automatisch das Einverständnis, dass du diese Antwort senden darfst. Er sei denn, sie sagt danach was anderes. So habe ich es auch hier gemacht. Wenn die Leute dann nicht explizit gesagt haben: „Aber der Teil bleibt unter uns“, bin ich davon ausgegangen, dass ich es verwenden durfte. In manchen Momenten, beispielsweise meinem Vater und meiner ganzen Familie gegenüber, habe ich explizit gesagt: „Passt auf, euch werden da Dinge bekannt vorkommen, weil ich da aus meiner eigenen Erinnerung und Erfahrung schöpfe. Aber das ist kein Kommentar zu uns oder sonst was.“ Ich bin nicht Ben, er ist nicht Emil.

Unter anderem diesen Perspektivwechseln geschuldet, besteht dein Buch aus vielen kurzen Kapiteln, die teilweise in der Zeit auch hin- und herspringen. Mir hat dieser Abwechslungsreichtum gut gefallen und ich war auch an keinem Punkt verwirrt – es las sich eher wie ein Mosaik aus Erinnerung und Gegenwart, das sehr geschickt und hübsch zusammengesetzt ist. Wie hast du diese Struktur entwickelt?

Ich würde dir so gern eine gute Antwort auf diese Frage geben. Aber ich kann dir das nicht sauber beantworten. Das ist eine Mischung aus Intuition und viel Arbeit, auch mit und von meiner Lektorin Linda Müller. Ich wusste von vornherein, dass es – wie schon beim Buch davor – so eine Art Mosaik werden soll. Aber in den ersten Fassungen waren die Teile anders und viel grober verteilt. Erst in den weiteren Fassungen hat sich das immer sauberer verfeinert und angepasst. Als kleines Beispiel: Der Vorspann, der nun ganz vorne im Buch ist, ist ganz zum Schluss dort hingekommen. Und hätte meine Lektorin das nicht mit liebevoller Beharrlichkeit immer wieder gefordert, wäre es wahrscheinlich nicht passiert (lacht).

Was erhoffst du dir für diesen Roman und seine Leser*innen?

Ich glaube, Geschichten sind im Allgemeinen eine gute Art, Menschen in gewissen Dingen zu unterstützen. Für Aristoteles war der Grund, weshalb wir überhaupt Geschichten konsumieren, die Katharsis. Da muss jemand stellvertretend für uns leiden und beispielsweise die Eltern zu früh verlieren, damit wir nach dem Abspann nach dem Telefon greifen und mal wieder unsere Mütter anrufen. Wenn, dann hoffe ich, dass „Nur ein paar Nächte“ Menschen darin bestärkt, die Dinge, die für sie selbstverständlich sind, zu hinterfragen. Und zum Telefon zu greifen, um mal wieder die Eltern anzurufen (lächelt).

Danke für das Gespräch, Faby!

Hier entlang zu "Lux" und "Haha Heartbreak" von Olivia Kuderewski