"Frieden ohne Krieg" – Ein Gespräch mit dem Lyriker Yevgeniy Breyger

Das Haus für Poesie in Berlin feierte Yevgeniy Breygers Gedichtband „flüchtige monde“ 2016 als Lyrikdebüt des Jahres.Dem folgten seitdem zahlreiche andere Anerkennungen und Auszeichnungen, darunter der Leonce-und-Lena-Preis und der Münchner Lyrikpreis. Nun ist bei kookbooks Breygers inzwischen viertes Buch erschienen; „Frieden ohne Krieg“, ein autobiografischer Gedichtband, der episodisch die Flucht einer jüdischen Familie zu Beginn des russischen Angriffskriegs beschreibt – in beiden Muttersprachen des Dichters, Deutsch und Russisch. Dincer Gücyeter hat für yourbook mit Yevgeniy Breyger gesprochen. Über die befriedende Wirkung der eigenen Verletzlichkeit und die lästige, ewige Trennung dieses Landes in „Wir“ und „Die“, in „unseres“ und „deren“. Über abstumpfende Sattheit und die zweckmäßige Zurschaustellung von Empathie.

Lieber Yevgeniy, zuerst möchte ich dich fragen, wie geht`s dir?

Lieber Dinçer, entschuldige bitte, in diesem Fall muss ich mit Zeilen aus dem Buch antworten. Sie haben mir geholfen, eine echte Antwort auf diese Frage zu finden, die ich mir selbst immer wieder stellen musste: Alles bringt mich zum Heulen, aber ich kann nicht verneinen, dass ich glücklich bin.

Du musst das hören, schreibst du. Ist es Aufforderung, die notwendig war? Diese ersten Worte betonen auch die Dringlichkeit deiner Texte in Frieden ohne Krieg, oder?

Zum einen das und zum anderen sind sie ein Aufruf an mich selbst. Auch ich muss es hören, es mir immer neu vor Augen führen. Nicht zu vergessen: Die Mündlichkeit, das mündlich Überlieferte kann dadurch betont werden. Du musst das eben auch hören, nicht nur lesen.

Das erste Kapitel “Heimkern“ durfte ich ja vor Monaten lesen. Wie damals bewegt mich heute noch dieser Text. Du holst einen Weltschmerz aus dem 20. Jahrhundert und knüpfst ihn an unsere Gegenwart. Das Märchenhafte verbündet sich mit der brutalen Realität. Neben unzähligen Verlusten kommen wieder Kinder auf die Welt, nie wird die Hoffnung ausgelöscht. Und immer wieder spüre ich die Liebe, eine Wärme zwischen Generationen, Stimmen. Von Мина bis Лиза. Sag du mir bitte, wie war diese Reise für dich als Dichter?

Für mich als Mensch war diese Reise überaus schmerzhaft und am Ende ebenso heilsam. Für mich als Dichter hat es bedeutet, zunächst in den Hintergrund zu treten und mich ganz auf die Substanz des Erzählten zu verlassen. Im Endeffekt bedeutet aber genau das natürlich „Dichterische Arbeit“. Es war also grundsätzlich nicht viel anders als sonst: Die Reise war eine Suche nach einer organischen Form für ein Material, das mir sehr am Herzen lag.

Erzählende Poesie hat seit Jahrhunderten eine feste Tradition im Osten, mit Versen wurden große Tragödien, Epen an die Nachkommenden weitergegeben. Mittlerweile hat sich dieses Genre in der Weltliteratur verbreitet. Anne Carson, Octavio Paz, Pier Paolo Pasolini, …Kann man deinen aktuellen Band “Frieden ohne Krieg“ von der Form her so verstehen?

Das wünsche ich mir. Mir fällt es noch schwer, das Buch literaturhistorisch oder –theoretisch einzuordnen. Es fühlt sich an wie ein Objekt, ein privates Objekt, das ich mit mir herumtrage, wie eine Kette, ein Amulett. Ein wenig tut es mir leid, dass es nicht nur mir gehört, aber ich zeige es auch gern her.

2016 ist dein Debüt “flüchtige monde“ erschienen, 2020 “Gestohlene Luft“, 2022 “Kryptomagie“ und jetzt “Frieden ohne Krieg“. Was bedeuten diese Jahre für dich, Yevgeniy? Ich sehe jeden neuen Text als eine neue Ausgrabung, eine Neuentdeckung, auch eine neue Nähe zur eigenen Person, wie ist es für dich?

Besser könnte ich es nicht beschreiben: Neue Nähe zu mir. Danke, Dinçer!

Du schreibst über Flüchtlinge, Eingewanderte mit Studium, darunter auch unsere Kollegin Julia Grinberg (Chemikerin), die hier in Deutschland gerne als billige Arbeitskräfte vermittelt werden. Ist Deutschland deiner Ansicht nach nach 70 Jahren immer noch im Modus, die Kompetenz, die Leistung, die die eingewanderten Menschen anbieten, nicht zu schätzen?

Leider ja. Wahrscheinlich ist es – ebenso leider – in den meisten Ländern dieser Welt so. Die Trennung in „Wir“ und „Die“ beinhaltet die Trennung in „unseres“ und „deren“, unsere und deren Fähigkeiten, Kompetenzen, Leistungen, Wünsche. Dabei nicht grundsätzlich das eigene zu bevorzugen, erschüttert die eigene Grundfeste. Um es anders zu halten, braucht man Selbstvertrauen und Mut. Genug Selbstbewusstsein, um einmal zu sagen: Gut, so und so habe ich das in den letzten 20 Jahren gemacht, aber dieser Mensch hier macht es anders und das scheint nicht schlechter zu sein. Seltsam, dabei funktioniert doch auf diese Weise jedes Lernen. Und dann ist da noch die andere Sache: Selbstgenügsamkeit. Viele Menschen in Deutschland scheinen satt zu sein, als reichte es ihnen, daheim vor dem Fernseher zu sitzen oder ihr kleines Grüppchen an Freund*innen zu treffen und auf die alten Zeiten anzustoßen. Es tut mir leid, aber ich glaube, den Menschen hier geht es zu gut – auf Kosten anderer.

liebes tagebuch, nachtbuch, … so beginnt das Kapitel Streuobst im Band. Yevgeniy Breyger hat sich nach meiner Meinung nie so verletzlich gezeigt. War das für dich eine Überwindung?

Den Anfang habe ich von Gedichten Alke Stachlers entlehnt. Diese Verletzlichkeit in ihren Texten hat mich beeindruckt und mir zugleich Stärke gegeben. Es war keine Überwindung, im Gegenteil, es war befreiend, befriedend.

Auf die Diskussionsrunden über Krieg, Kultur, Vielfalt, Bilingualität werden in deutschen Medien immer die gleichen Namen eingeladen, es herrscht eine autistische Herangehensweise in diesem Land. Hat man dich als Dichter mit jüdischen/ukrainischen Wurzeln schon mal auf so ein Podium eingeladen. Wenn nicht, gibt es die Angst, dass du denen sagst, was man nicht so gerne hören möchte?

Natürlich, gern werde ich zu solchen Runden eingeladen. Das kennst du ja auch. Ich bin da weitgehend entspannt. Wenn ich nicht mag, lehne ich ab. Wenn ich mag, komme ich und sage, was ich denke. Ich hatte bisher nicht das Gefühl, dass Veranstalter*innen mir am Ende böse gewesen sind. Das Interesse ist auf jeden Fall verständlich. Wenn du, ich und andere kommen und ehrliche Antworten geben, sehe ich darin wenig Probleme. Erst wenn wir wirklich Erwartungen erfüllen möchten und vorauseilend mitspielen, wird’s schwierig.

Oft hatte ich beim Lesen auch das Gefühl, die Empathie in Europa für bombardierte Länder kommt dir ein wenig aufgesetzt vor. Von Mely Kiyak gibt es den Satz: Mitfühlen, Trauern, das ist in Deutschland ein Problem. Sofort wird die eigene Benachteiligung ins Gespräch gebracht, z.B. steigende Energiepreise. Ist es so?

Ja. Das könnte mit der angesprochenen Sattheit zusammenhängen und macht mich immer und immer fassungslos. All diese Artikel und die Kommentarspalten von Tageszeitungen, die voll davon sind, wir Deutsche sollten nicht Abstriche machen müssen wegen irgendwelcher Leute am Ende der Welt. Die Deutschen haben dieses „Wir“ und „Die“ überaus verinnerlicht. Und das kann man herunterbrechen auf „Ich“ und „Die“ und dann muss man gar kein soziales Wesen in dieser Welt mehr sein. Willkommen am deutschen Männerstammtisch.

In einem deiner Gedichte schreibst du: "ich schäm mich zu tode". Ist damit auch ein Fremdschämen gemeint? Diese zeitlose Last des Dichterseins?

Da schäme ich mich wohl nur für mich selbst. Ich selbst habe genug beizutragen / nicht beizutragen zu der Situation. Ein zusätzlicher Verweis ist das Gefühl vieler Ukrainer*innen, die aus der Ukraine geflohen sind, Verräter*innen zu sein. Die einen sterben vor Bomben und Gewehren, die anderen wollen sich zu Tode schämen – Aber da rechne ich mich heraus. Ich selbst bin auch davon weit weit entfernt, der Zehnjährige, der 1999 nach Deutschland gekommen ist, reicht nicht, um für mich das Ukrainersein zu beanspruchen.

Und zuletzt, lieber Yevgeniy, du bist auch sehr gerne mit jungen Kolleg*innen unterwegs. Ich finde, die Dichtung in Deutschland wird in Zukunft großartige Stimmen bekommen. Wie siehst du es?

Meine Lehrerfahrung aus den Schreibinstituten in Hildesheim und Leipzig stimmt mich auf jeden Fall sehr positiv. Jetzt müssen nur noch Kompetenzen in die größeren Verlage eingeholt/zurückgeholt werden, damit wir von dieser Lyrik auch etwas sehen.

Über das Buch „Frieden ohne Krieg“:

Der Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ von Yevgeniy Breyger beginnt mit einem tagebuchartigen erzählenden Langgedicht in einfacher mündlicher Sprache, das die Geschichte seiner jüdischen Familie während des Holocausts bis hin zur Flucht aus der Ukraine nach Beginn des russischen Angriffskriegs beschreibt. Dieses und die folgenden zahlreichen Erzählepisoden verbinden dabei stets aktuellste Ereignisse aus dem Krieg mit unmittelbaren Erfahrungen des Dichters und seiner Familie, die damit in Kontext gesetzt werden. Die Gedichte sind hochgradig emotional, privat und autobiographisch.

Es entsteht der Eindruck eines nicht-fiktionalen persönlichen Kriegsjournals, einschließlich der Auseinandersetzung mit den zwei Muttersprachen Deutsch und Russisch, die der hadernde Dichter als russischsprachiger ukrainischer Jude nun als kontaminiert begreift, um im letzten Gedicht doch einen Ausblick auf die Möglichkeit von Glück, Frieden und dem Entwachsen von Neuem aus Altem zu bieten.

Folgerichtig schließen sich an diesen etwa 50-Seitigen-Zyklus zwei weitere Teile an – eine wieder klassisch gedichthafte, leise und feine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass ukrainische Mütter während des Kriegs in die Idee entwickeln, Kontaktadressen auf die Rücken ihrer Kinder zu schreiben, sollten sie selbst im Zuge der Angriffe umkommen, um den Kindern ein Weiterleben zu ermöglichen; sowie ein dreisprachiges Langgedicht, zu gleichen Teilen Deutsch, Russisch und Englisch, das Verbindungen zu T.S. Eliots „The Waste Land“ herstellt und Parallelen zu den Ereignissen aufzeigt, die 2022 inzwischen ihr 100-jähriges Jubiläum fristen und damals zu Faschismus, Krieg und Massenmord geführt haben. Bei aller Verzweiflung dieser Gedichte, scheint jedoch stets Ergriffenheit und damit Hoffnung aus ihnen hindurch. „Frieden ohne Krieg“ ist ein tröstendes aktuelles Werk, eines, das in diesen Zeiten dringend gebraucht wird.