Das Zeitalter der Ablenkungen – "How I Met Your Mother" - Erfinder Carter Bays über seinen Debütroman "Freunde von Freunden"

Ein New York Roman, in dem sich Menschen aus vollkommen unterschiedlichen Lebenswelten begegnen, die sich miteinander verstricken und beeinflussen. Zunächst macht es den Anschein, als wäre Carter Bays, Mastermind der erfolgreichen amerikanischen Sitcom "How I Met Your Mother", in seinem vertrauten Setting geblieben, als wüsste man schon, was man zu erwarten habe. Doch "Freunde von Freunden" füllt die große Form auf permanent überraschende Weise aus. Bays nutzt dabei durchaus, was er im Fernseh-Business gelernt hat. Meisterhaft hält er die Spannung. Es ist fast unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen. Dabei ist jede einzelne Lebensgeschichte seiner Protagonist'innen für sich ein unabhängiges Abenteuer und doch wird klar: alle sind Teil eines gemeinsamen Organismus. Alice, die mal fast professionelle klassische Pianistin geworden wäre und um ihre verstorbene Mutter trauert, Roxy, die über die sozialen Medien mitten in einen lokalpolitischen Skandal gerät, Bill, der erfolgreiche Jungunternehmer, der für den Buddhismus alles hinwirft – und ein Supercomputer, der große Gefühle entwickelt.

Yvonne Franke hat mit Carter Bays über Lernbesessenheit, soziale Netzwerke und die Wichtigkeit eines guten Cliffhangers gesprochen.

Alle Hauptfiguren haben ganz spezielle Talente und Interessen, die jeweils handlungsbestimmend für den Roman sind. Die Medizin, der Buddhismus, das Programmieren künstlicher Intelligenz, die klassische Musik. All dem gerecht zu werden, muss eine große Rechercheaufgabe gewesen sein. Oder sind das Themen, mit denen Sie sich bereits besonders gut auskannten?

Es gab einiges, das ich intensiv recherchieren musste – das Thema der künstlichen Intelligenz zum Beispiel. Darüber wusste ich nicht viel. Aber ich habe auch über Dinge geschrieben, mit denen ich mich bereits ein wenig auskannte. Wie Bill, eine der Hauptfiguren, habe ich einen Kurs belegt, der sich mit dem Buddhismus beschäftigte. Meine Frau kommt aus einer buddhistischen Familie. Ich wollte mehr darüber wissen. Da habe ich angefangen über unser Verhältnis zu Technologie nachzudenken, darüber, dass wir zur gleichen Zeit in zwei verschiedenen Welten leben. Der Buddhismus gab mir einen philosophischen Rahmen für die Erzählung. Die größte Herausforderung war es allerdings für mich, alles darüber zu lernen, was man wissen muss, wenn man, wie meine Figur Alice, den Zulassungstest für ein Medizinstudium schaffen will. Es ist nicht so, dass ich jetzt diesen Test bestehen würde. Aber ich habe viel gelernt.

Die Tage bis zu Alice‘ Medizintest laufen im Hintergrund des Romans als Countdown mit. Ihre Lernerfolge oder auch, dass das Leben sie immer wieder vom Lernen abhält, bestimmen das Tempo der Erzählung. Interessant, dass Sie für diese zentrale Aufgabe ein Thema gewählt haben, über das sie selbst erstmal noch so viel lernen mussten.

Ja, stimmt. Aber gerade das hat mich dazu befähigt, es aus dieser Dringlichkeit heraus zu schreiben. Ich habe mit Alice gemeinsam all diese Dinge gelernt. Dadurch fühlte es sich wahrhaftiger an.

Mir kam beim Lesen der Gedanke, dass jemand, der für einen Roman ein so komplexes Themengeflecht wählt, selbst ziemlich lernbesessen sein muss.

Einige der Figuren sind auf verdrehte Weise ein bisschen wie ich. Manche von ihnen eindeutiger als andere. Meine Freunde haben mich aber immer eher mit der Figur Bob verglichen. Er ist im selben Alter wie ich und insgesamt ist er so, wie ich vielleicht geworden wäre, wenn ich 2010 meine Frau nicht getroffen hätte – wenn ich Single geblieben wäre. Ich hatte Glück, dass mir diese Dating Apps erspart geblieben sind. Aber ich habe mir die neue Datingwelt mit anthropologischer Neugier angesehen und habe gedacht: Du meine Güte. Ich kann nicht fassen, dass das heute so läuft. Es fasziniert mich. Und dann gibt es noch Bill, der viele Jahre an einem großen Projekt gearbeitet hat und plötzlich ist es vorbei und er weiß nichts mehr mit sich anzufangen. So ging es mir nach „How I Met Your Mother“. Das war ein „Was nun?“- Moment. So bin ich an alle Figuren herangegangen. Ich habe mich zuerst gefragt, worin wir uns ähneln und worin wir uns unterscheiden.

Alle Hauptfiguren haben sehr starke und ausführliche Hintergrundgeschichten. Es wäre möglich gewesen daraus einzelne spannende Romane zu machen. Gab es den Gedanken?

Ich wollte jeder Figur so viele Facetten geben, wie möglich. Wir alle nehmen eine bestimmte Perspektive ein und sind dabei mit den Lebenswirklichkeiten der anderen konfrontiert, die wir nicht bis ins Kleinste verstehen. Früher konnte man ein ganzes langes Leben leben und nicht mehr als hundert Menschen treffen. Jetzt haben wir 6000 Facebookfreunde. Wir müssen so viel mehr Schicksale im Hinterkopf behalten und die Freundschaften sind dabei zum Teil fast entmenschlicht. Man scrollt durch seine Freundesliste und darunter sind Menschen, mit denen man zur Highschool gegangen ist, aber auch ganz unbekannte Menschen tauchen auf. Ich wollte daran erinnern, dass jeder dieser Menschen ein reiches Innenleben hat. Dass der Roman in New York spielt ist wichtig. Ich lebe seit 13 Jahren in Los Angeles und da ist man die meiste Zeit allein im Auto unterwegs. In New York geht man einmal die Straße runter und hat mit mehr Menschen Kontakt, als in L.A. in einer ganzen Woche. Ich mag es, dass dort so viele Menschen aufeinandertreffen und jeder lebt seinen eigenen Roman. Das wollte ich zeigen. Auch, dass ein Mensch in jeder Begegnung jemand anders sein kann. Im Roman kann Bob zum Beispiel bei einem Date ein Arschloch sein, aber er ist der beste Freund für dieses Mädchen in Alaska, obwohl er sie noch nie getroffen hat.

Mich hat begeistert, wie differenziert die weiblichen Figuren gezeichnet sind. Ihre Gefühle und Entscheidungen sind gut nachvollziehbar für mich.

Danke! In meinem Leben gibt es viele großartige Frauen, die mir viel bedeuten. In Alice und ihre Schwierigkeiten mit dem Lernen habe ich mich hineingedacht, indem ich mir eine Schreibblockade vorgestellt habe. Das ist eine ganz ähnliche Sache. Aber ich wollte nicht über Schreibblockaden schreiben. Sie sollte in etwas blockiert sein, das tatsächlich wichtig ist – darin, eine Ärztin zu werden. Zusammenfassend kann man wohl sagen, ich habe einfach versucht, über echte Menschen zu schreiben.

Und dafür haben Sie eine besondere Struktur gewählt. Sie haben zum Beispiel immer wieder Fährten gelegt und sie oft erst sehr spät aufgelöst, so dass man als Leserin das Gefühl hat, man hätte ahnen können, was als Nächstes passiert und trotzdem ist man immer wieder sehr überrascht. Ging es Ihnen darum, die Leser’innen möglichst stark ins Geschehen mit einzubeziehen? Man leistet ja innerlich quasi Ermittlungsarbeit während des Lesens.

Das ist interessant, könnte sein. Ich selbst liebe es jedenfalls, beim Lesen überrascht zu werden. Jede Überraschung soll aber gleichzeitig auch unausweichlich, zwingend sein. Es überrascht dich, aber es musste trotzdem ganz genau so kommen. Das hat mir auch daran gefallen, als wir „How I Met Your Mother“ geschrieben haben – das Legen von Fährten, wie Sie es nennen. Wahrscheinlich sollte man einen Roman gar nicht so schreiben, aber ich wollte erreichen, dass man das Buch beim ersten Mal ganz entspannt lesen kann, am Strand zum Beispiel. Und es macht Spaß, man findet es toll, aber beim zweiten Lesen, entdeckt man nochmal ganz neue Zusammenhänge. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, sicherzustellen, dass alle Fäden zusammenlaufen. Um die Timeline im Blick zu behalten, habe ich eine spezielle Software benutzt. Die gesamte Handlung beschränkt sich zwar auf einen einzigen Sommer, aber das bedurfte einer strengen Organisation. Können sich diese zwei Menschen überhaupt genau in diesem Moment an diesem Ort über den Weg laufen? Man muss sehr genau sein, aber ich liebe das.

Wenn jemand fällt und auf einem Stapel Pappkartons landet, muss man sie vorher dahin gestellt haben.

Ja, das ist ein perfektes Beispiel. Diese Pappkartons gibt es im Buch und ich habe sie erst später eingebaut, in der zweiten Überarbeitung. Es musste einen guten Grund dafür geben, dass sie da sind, lange bevor sie gebraucht werden.

Diese Herangehensweise kommt mir fast kriminalistisch vor.

Die Genauigkeit stammt wohl eher aus meiner Zeit im Fernsehbusiness. Heute bei den Streamingdiensten ist das nicht mehr so, aber als wir „How I Met Your Mother“ geschrieben haben, gab es Werbepausen. Und die waren, meiner Meinung nach, für das Schreiben von Vorteil. Man brauchte etwa alle sieben Minuten einen Cliffhanger, etwas, das so spannend ist, dass das Publikum die Werbepause über dranbleibt und einfach wissen muss, was als Nächstes passiert. Und es macht Spaß, eine Pause einzulegen, während jemand fliegt, nicht erst, wenn er landet. Es hält Spannung. Aber jetzt, wo sie es sagen, eigentlich mag ich leichte Spannungsromane sehr gern. Meine Frau und ich lieben Agatha Christie und die TV-Show "Masterpiece Mystery!". Ich eifere dem nicht nach, aber ich bin ein Fan.

Und trotzdem ist Einsamkeit ein großes Thema. Besonders in der digitalen Welt.

Ja, das ist der zentrale Widerspruch. Wir haben viel mehr Verbindungen denn je nie haben wir uns so einsam gefühlt. Ich habe versucht, diesen Umstand zu untersuchen, ohne zu urteilen. Ich wollte ihn einfach faktisch beschreiben – das Gute und das Schlechte daran. Klar macht uns das digitale Leben einsam, aber wir kommen auch in Kontakt mit Menschen, die wir sonst niemals getroffen hätten. Früher verließ man die Schule, ging in die Welt hinaus und traf seine Schulfreunde erst 20 Jahre später bei einem Jahrgangstreffen wieder. Jetzt ist es leichter geworden, den Kontakt zu halten. Aber wir brauchen auch die ganz einfache persönliche Verbindung, wir müssen mal im selben Zimmer sein. Ich habe den Roman vor dem Ausbruch der Pandemie begonnen zu schreiben, die auch dazu führte, dass wir uns mehr Gedanken darüber gemacht haben, wie wichtig es ist, etwas gegen die Einsamkeit zu unternehmen.

Der Roman spielt im Jahr 2015, welche Vor- und Nachteile hat das für den Schreibprozess?

Ich hatte bei „How I Met Your Mother“ gelernt, darauf zu achten, dass die Show auch in zehn Jahren noch funktioniert. Jedes Mal, wenn jemand eine Pointe präsentiert hat, die sich an etwas aufhängte, das gerade in den Nachrichten war oder popkulturell in dem Moment eine große Rolle spielte, haben wir uns dagegen entschieden, weil wir sichergehen wollten, dass Menschen auch in Zukunft noch etwas damit anfangen können würden.Jetzt habe ich aber über das Internet geschrieben. Da verhält es sich anders. Ich hatte im Hinterkopf, dass es vielleicht zwei Jahre dauern würde, bevor dieses Buch erscheint und bis dahin würde sich im Netz vieles verändert haben. „Heute morgen, im Jahr 2023, checkte Alice ihre My Space Seite.“ (lacht) In diesem Fall muss man die Zeit des Geschehens ganz genau festlegen und erzählen: So war das Internet in diesem bestimmten Moment. Ich habe mit den damals aktuellen Gegebenheiten gearbeitet. Aber im Rückblick, bin ich natürlich auch froh, dass ich mich nicht mit einigen neueren Entwicklungen auseinandersetzen musste. Die amerikanische Politik ist ja nach 2015 vollkommen durchgedreht. Ich habe einen Moment erzählt, kurz bevor die Welt auf den Kopf gestellt wurde. 2015 kommt mir vor wie das letzte normal Jahr.

Dass Sie nur von lokalpolitischen Ereignissen erzählen, ist fast eine Erleichterung.

Ja! (lacht) Die gute alte Zeit, als nur der Bürgermeister Dreck am Stecken hatte.

Zu Beginn des Romans war mir die Beschäftigung mit der digitalen Welt fast zu viel. Es hat mich angestrengt und an Menschen erinnert, die mir auf die Nerven gehen (lacht). Ich war froh, dass diese digitale Überlastung bald in Frage gestellt wurde. Oder, dass das wahre Leben sich im Lauf der Geschichte immer wieder so stark durchsetzt.

Ja, insbesondere Roxy hat nicht diesen Filter, den die meisten anderen haben. Für sie verschwimmen die Grenzen zwischen der digitalen und der wirklichen Welt. Man weiß, dass das nicht lange gut gehen kann. Das zu schreiben hat Spaß gemacht. Aber als Autor wollte ich sie nicht dafür bestrafen, wer sie ist. Ich habe sie liebgewonnen und wollte, dass sie auf den Füßen landet und dass am Schluss für sie alles besser wird. Ich wollte sie feiern, auch wenn sie ihre peinlichen Momente hat.

Wie sieht es denn mit Ihrem persönlichen digitalen Medienkonsum aus? Sind sie viel in sozialen Netzwerken unterwegs?

Ich bekenne mich schuldig. Eindeutig. Also bin nicht mehr bei Twitter. Ich hatte mir mein Twitterprofil angesehen und gedacht: Oh, ich habe schon einen Roman geschrieben. Ich habe 14 Jahre lang online meine Texte verschenkt. Das musste aufhören. Aber ich bin noch auf Facebook und auf Instagram. Da bin ich wie Roxy oder sie ist wie ich. Ich muss mich selbst austricksen, damit ich nicht ständig meine Social Media Kanäle checke. Zum Beispiel habe ich ein kleines altes Klapphandy aus dem Jahr 2002. Man kann eine Nummer wählen und das war‘s. Daraus ist die Idee für den Roman entstanden, aus der Frage: Will ich wirklich so leben? Will ich irgendwann ein alter Mann sein, der auf Twitter über sein Leben erzählt?