Kein Holzhammerplädoyer für das Gute – Ein Buch über den größten Kriminalfall Ostdeutschlands in der Nachwendezeit

Im "wilden Osten" der frühen 90er Jahre schien alles möglich zu sein. Die neue Freiheit, die nach der Wiedervereinigung schillernd lockte, endete nicht mit den plötzlich uneingeschränkten Reisemöglichkeiten, sondern schien auch Wohlstand zu versprechen. Der Kapitalismus wucherte und die abwegigsten Geschäftsideen erblühten. Auch der Neuruppiner Olaf Kamrath wollte ein Stück vom ganz großen Kuchen. Und tatsächlich hatte er das Zeug zum Geschäftsmann. Er eröffnete zunächst eine Imbissbude, stellte dann überall im Umland Spielautomaten auf und kaufte schließlich eine Diskothek, die er zu einem florierenden Geschäft aufbaute. Er scharte immer mehr Freunde um sich, die an seinem Erfolg teilhaben sollten, und im Nachtleben ergab sich ganz natürlich und wie nebenbei ein neues Geschäftsfeld, das endlich den erhofften Reichtum bringen sollte - Drogenhandel im großen Stil. Dass Kamrath nebenbei an einer immer bedeutender werdenden politischen Karriere strickte, hatte viele Vorteile. Seine sogenannte XY-Bande schien unangreifbar – bis im Jahr 2004 alles aufflog.

Der Autor Frank Willmann stammt aus Thüringen und hat in der Vergangenheit immer wieder Bücher über die ostdeutsche Subkultur veröffentlicht. Mit "Der Pate von Neuruppin - Vom Imbisswagen zum Drogenimperium" ist ihm nun ein großer Überraschungserfolg gelungen, in dem die Protagonisten selbst zu Wort kommen. Yvonne Franke hat mit Frank Willmann über die Entstehungsgeschichte seines Buchprojekts gesprochen.

Kannst du mir zu Beginn kurz skizzieren, wie du von der Geschichte der XY-Bande erfahren hast?

2019 kam ein befreundeter Kleinstverleger aus Neuruppin auf mich zu und hat mir von der Geschichte erzählt, weil er mit dem „Paten“ Olaf Kamrath in der Altherren-Mannschaft Fußball spielte. Er glaubte, dass die Geschichte der XY Bande für mich interessant sein könnte. Ich habe mich dann aber noch etwa zwei Jahre lang standhaft geweigert. Ich hatte nicht unbedingt Lust auf diesen Ausflug in die Kriminalität. Ich dachte, das wäre nicht mein Ding, Krimis finde ich zum Kotzen. Ich mag einfach gute Literatur. 2021 traf ich dann in meiner Funktion als Trainer der Autoren-Nationalmannschaft wieder auf besagten Kleinstverleger, dessen Mannschaft wir nach Berlin zu einem Freundschaftsspiel eingeladen hatten. Dabei habe ich dann auch Olaf Kamrath kennengelernt.

Wie war dein erster Eindruck?

Ich habe schnell gemerkt, dass er mir sympathisch ist. Er war seit zehn Jahren aus dem Gefängnis raus und führte seitdem eine bürgerliche Existenz als erfolgreicher Immobilienmakler in Neuruppin. Er hatte mit seiner Vergangenheit abgeschlossen. Ich habe ihm ein, zwei Fragen gestellt. Unter anderem, wie er den Knast überstanden hat. Da sagte er: „Ohne das Abo der Süddeutschen Zeitung hätte ich es nicht geschafft. Und ohne mein Studium.“ Das hat mich neugierig gemacht. Wie viele Leute studieren im Knast? Einer von 1000? Wir haben uns dann wieder für ein Fußballspiel verabredet – ein DFB Pokalspiel in Stuttgart zwei Wochen später. Da war dann meine Freundin Anne dabei (Anm. der Redaktion: die Autorin Anne Hahn) und Olaf Kamraths Frau Conny. An dem Tag entstand eine Sympathie zwischen uns, die dazu führte, dass ich mir vorstellen konnte, ein Buch über Kamraths Geschichte zu machen. Er war nicht die Art Krimineller, die einem Angst einjagt. Er hat reflektiert über seine Taten gesprochen.

Bei der Lektüre des Buchs bekommt man den Eindruck, dass Kamrath außerdem ein guter Erzähler ist. Hat es bei deiner Entscheidung auch eine Rolle gespielt, dass darin bereits eine literarische Qualität steckte?

Ja, das hat eine klare Rolle gespielt, dass er so klar formulieren kann. Und, dass es mit meiner Unterstützung ein gutes Buch werden konnte. Aber ich habe schnell gemerkt, dass es nicht nur ein großer erzählerischer und journalistischer Bericht werden soll, in dem nacherzählt wird, was da passiert ist – mit Zeigefinger und Moralkeule. Ich wollte aus der Sicht der Beteiligten erzählen. Das hat es verkompliziert. Ich musste alle kennenlernen, sie bei Laune halten und das Ganze so gestalten, dass alle zufrieden sind. Aber das hat mich gereizt. Ich hatte keine Lust auf einen forensischen Draufblick, sondern wollte auch die Motive hinterfragen. Es war mir wichtig, die Geschichte in einen zeitlichen Kontext zu setzen, in die Nachwendezeit, in der sehr viel möglich war.

Nachdem Du nun überzeugt warst, über die XY-Bande zu schreiben, wie war es denn anders herum? Waren alle gleich bereit, ihre Geschichte mit dir zu teilen?

Als klar war, dass ich das Buch schreiben möchte, bin ich nach Neuruppin gefahren, ich denke, es war im August oder September 2021. Olaf Kamrath hat mir alle Orte des Geschehens gezeigt, soweit sie noch vorhanden waren. Zum Beispiel die Häuser, die damals ihr Treffpunkt waren – angeordnet wie eine kleine Burg. Sie hatten ein ganzes Karree gekauft. Er hat mir die Kneipen gezeigt, den Puff, das Gerichtsgebäude, das Gefängnis, in dem er die Untersuchungshaft verbracht hatte. Und dann hat er mir erstmal drei Leute vorgestellt. Insgesamt kommen jetzt sieben Menschen im Buch vor. Ich wusste schon, wie ich vorgehen wollte und hab gesagt, ich würde es gern aus ihrer Sicht erzählen, aber ich hätte zwei Bedingungen. Einmal: es gibt kein Geld. Und zum Zweiten: sie sollen sich ihren Schlüpfer bis zu den Zehenspitzen runterziehen. Sie müssen so ehrlich sein wie möglich. Das haben mir alle zugesagt. Was sicher auch an Olaf lag. Aber grundsätzlich muss schon eine Bereitschaft da gewesen sein.

Wie haben die einzelnen Gespräche stattgefunden? Habt ihr euch jeweils zu zweit getroffen?

Ja, ich habe mit jedem einzeln geredet. Mir war wichtig, dass die Leute sich entspannen können. Dass sie nicht das Gefühl haben, beobachtet zu werden – naja, außer von mir. Da ich vorher schon Bücher dieser Art gemacht habe, wusste ich, wie man da vorgeht. Wichtig ist, dass man Vertrauen aufbaut. Und, dass die Leute dazu motiviert werden, die Geschichte so wahr wie möglich wiederzugeben. Natürlich hat jeder seine eigene Wahrnehmung. Deshalb habe ich auch die sechs oder sieben riesigen Kisten und Koffer voll Akten studiert. Danach konnte ich bestimmte Dinge vergleichen.

Der Detailreichtum der Erzählungen fällt gleich auf. Von den Drogengeschäften zum Beispiel berichten alle Beteiligten mit genauen Gewichtsangaben und Summen. Woher kamen diese exakten Erinnerungen?

Sie hatten Teile der Geschichten natürlich bereits einige Male erzählt – zum Beispiel im Knast. Und der Prozess hatte inklusive Revision fast drei Jahre gedauert. Sie haben sich so lange damit beschäftigt, dass sie vieles auswendig wussten, wie manche von uns Schillers Glocke. Ich konnte mich auf ihr Erinnerungsvermögen verlassen. Musste ich auch – und auch auf ihre Ehrlichkeit.

Und die Erzählungen haben durchaus immer wieder Witz. Man hat es offensichtlich mit charmanten Menschen zu tun. Gab es trotzdem mal Situationen, in denen es Dir mulmig wurde?

Bei Olaf hatte ich das Gefühl nie. Bei ein, zwei anderen aber schon. Das gebe ich zu. Es sind ja nicht alle brav gewesen nach ihrer Haftstrafe. Einige sind wieder in den Drogenhandel eingestiegen. Also, die haben keine Kapitalverbrechen begangen, haben niemanden umgebracht und auch keinen Menschen schwer verletzt, sondern waren eher im Handel unterwegs. Trotzdem gab es ein, zwei oder drei und im Umfeld sicher noch 15 andere, die durchaus Menschen sind, denen man nicht abends allein begegnen möchte. Und das entsprach nicht meinem bisherigen Umfeld. Aber es war nicht so, dass ich wirklich Angst hatte, weil ich wusste, dass Olaf hinter mir stand. Aus der Gruppe wohnen alle wieder in Neuruppin – unglaublich aber wahr. Und da konnte er die Hand drauf haben und darauf achten, dass mir nichts passiert.

Es ist spürbar, dass du nicht mit einem moralischen Anspruch an die Sache herangegangen bist und trotzdem ergibt sich ein Bogen hin zu bestimmten Werten: Freundschaft und Liebe werden irgendwann immer wichtiger. Glaubst Du, dass letztlich doch positive Lehren gezogen werden können aus der Geschichte der XY-Bande?

Fast alle haben sich inzwischen neue bürgerliche Existenzen aufgebaut. Zwei haben im Gefängnis studiert. Olaf Immobilienwirtschaft und ein zweiter Jura. Der hat das Studium zwar nicht beendet, aber es immerhin drei Jahre lang durchgezogen. Daran sieht man auch, dass das durchaus toughe Leute sind, die über eine hohe Intelligenz verfügen. Und auch deshalb haben sie in der Zeit der Inhaftierung verstanden, dass sie zu weit gegangen sind, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatten. Alle Vermögenswerte wurden eingezogen egal, ob sie durch legale Geschäfte erwirtschaften wurden oder durch Drogenhandel und Bestechung. Alle Immobilien waren weg. Sie mussten bei null anfangen und haben das geschafft, weil sie eben Unternehmer sind. Dass sie sich alle entschlossen haben, das in Neuruppin zu versuchen, führt natürlich auch dazu, dass sie sich fortwährend mit ihrer Geschichte auseinandersetzen müssen. Die Bevölkerung ist nicht zu hundert Prozent auf ihrer Seite. Viele sehen aber auch, dass das eben Menschen sind, die Fehler gemacht haben, aber auch ihre Strafe dafür bekommen haben. Und man versteht, dass sie nicht permanent im Büßergewand herumlaufen. In Olafs Schlusswort wird aber sehr deutlich, dass er bereut, was er da veranstaltet hat. Aber ich wollte auch nicht am Schluss noch mit einem Holzhammerplädoyer für das Gute draufhauen. Die Leser’innen sollten die Chance bekommen, sich ihr eigenes Bild zu machen. Den moralischen Zeigefinger findet man in keinem meiner Bücher.

Wie waren denn die Reaktionen bisher?

In Neuruppin hatten wir eine Lesung vor 700 Leuten, davon haben 697 positiv reagiert. Was vielleicht aber auch daran lag, dass die Leute, die das Projekt abgelehnt haben, dort nicht hingekommen sind. Es gab zweieinhalb Demonstranten. Wie sich herausstellte, waren das Leute, die vor wenigen Jahren aus dem Schwabenland dorthin gezogen sind. Ok, christliche Sektierer ohne den christlichen Gedanken der Vergebung. Es gibt auch ein paar wenige Journalist’innen, die das Buch kritisch sehen. Das finde ich legitim. Aber ich denke, meine Beweggründe werden klar, wenn man das Buch liest. Es ist ein Stück ostdeutsche Geschichte und beschreibt eine Zeit, in der vieles möglich war. Die Autoritäten waren gebrochen, es herrschte eine gewisse Anarchie. Und manche Leute, die motiviert waren, Geld zu verdienen, haben das mit normalen Mitteln nicht geschafft – und Bausparverträge gab es im Osten nicht. Solche Geschichten will ich erzählen. Das passt auch zu den Büchern, die ich sonst geschrieben habe und die sich ebenfalls mit der ostdeutschen Subkultur beschäftigen, mit Außenseitern der Gesellschaft.

Wie ist es für dich und die Protagonisten deines Buchs, dass es sich so schnell zu einem großen Erfolg entwickelt hat?

Olaf war auch bei einigen weiteren Veranstaltungen dabei, zum Beispiel bei der Leipziger Buchmesse. Er kann bisher gut damit umgehen. Einige Leute haben ihn erkannt und wollten auch Autogramme. Ich hoffe, dass es ihm nicht irgendwann zu viel wird. Aber wir reden offen drüber. Jeder kann sich jeder Zeit ausklinken. Ich verlange nichts. Dass das Buch wochenlang auf der Bestsellerliste stehen würde – das haben weder ich noch der Verlag erwartet. Aber es freut mich natürlich sehr und es hilft mir dabei, künftige Buchprojekte problemlos durchzuführen, weil ich jetzt für Verlage und Agenten auf einem anderen Level unterwegs bin. Ich spüre, dass sich alles verdoppelt und verdreifacht, was mir angeboten wird. Das ist schön. Ich bin nicht geldgierig. Ich brauche 2000 € zum Leben, dann bin ich glücklich. Das überhaupt zu erreichen, ist ein Ziel, an dem ich seit 40 Jahren arbeite. Und darum geht’s. ich möchte in Ruhe arbeiten können an den Projekten, die mir wichtig sind.