Die Logik der Hilfe

Dieser Artikel ist Teil der Artikelreihe Die Domestizierung des Menschen. Bisherige Artikel:

IMG_20200412_130943 — "Danke für den neuen Topf" auf Apfelbäumisch

Der Mensch ist entfremdet. Sowohl von seiner nicht-menschlichen Umgebung als auch von seinen Mitmenschen. No shit, Sherlock, aber was tun? Der erste Reflex (einer, der ich in meinem sozialen Umfeld in wirklich erstaunlichem Maße sehe), ist der Traum des Aussteigertums, egal ob als Einsiedler oder vielleicht doch in einer kleinen Kommune von Gleichgesinnten. Irgendwo einen alten Bauernhof kaufen, Solarzellen auf dem Dach, Heizung über Wärmepumpe, bisschen Gemüse anbauen, vielleicht ein paar glückliche, nein geradezu ekstatische Hühner halten. Permakultur, ist klar.

Ich teile diese Fantasie zuweilen. Sie scheint naheliegend, da der Weg aus der Abhängigkeit vom gewaltvoll domestizierenden Wirtschaftssystem ja nur der Aufbau eines eigenen kleinen ökonomischen und ökologischen Kreislaufes sein kann. So reizvoll dieser Tagtraum emotional auch sein mag, so weiß ich aber intellektuell, dass er Quatsch ist. Warum? Weil nicht alle so leben können. Das fängt mit dem Problem an, dass man reich genug sein muss, um sich Land und Immobilien leisten zu können, geht über die Einsicht, dass Selbstversorgertum eine schöne aber letztendlich unrealistische Idee ist, bis hin zu der Tatsache, dass auch deine Öko-Fair-Soziale-Kommune Dinge wie Schulbildung, medizinische Versorgung und eventuell sogar einen Internetanschluss benötigt. Unabhängigkeit vom staatlichen und globalen Wirtschaftssystem ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu erreichen – es sei denn, man ist sehr, sehr, sehr, sehr privilegiert oder bereit, auf sehr viel Komfort zu verzichten.

Das sind aber nicht alle und da meine Definition von Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit immer den Zusatz „für alle“ beinhaltet, ist Aussteigertum leider raus. Sorry an alle, die sich auf meine Chilianbauexpertise für ihre öko-queer-flauschige Kommune verlassen haben. Nein, die Abkapselung einzelner Menschen in der Öko-Variante der Gated Community kann keine Lösung für das Dilemma der Domestizierung sein, so praktisch und konkret sie auch daher kommt. Für eine nachhaltige Strategie braucht es ein Umdenken. Ein Umdenken, wie wir Umwelt – die menschliche und die nicht-menschliche – begreifen und mit ihr interagieren.

Kiemen statt Schnorchel

Kleine ernst gemeinte Frage: Welche Rolle spielt Natur, also die nicht-menschliche Umwelt, in eurem Leben?

Denkt kurz darüber nach. Die Chancen stehen gut, dass ihr an Parks und Freizeit denkt, an Urlaub und Erholung, an regenerative Praktiken und meditative Ruhe. Nach einem langen Arbeitstag ein Feierabendbierchen auf der Wiese, mit dem Hund eine Runde über die Felder am Morgen. Schön. Aber in all seiner Alltäglichkeit doch eine Zäsur im Rest eures Lebens, oder? Eine Pause. Sei es zum Durchatmen vor oder zwischen oder nach der Arbeit. Das ist etwas, was mir in letzter Zeit extrem häufig aufgefallen ist: Die Eventartigkeit von Naturerlebnissen. Der Urlaub in den Bergen oder am Meer, die Wochenendwanderung im nahegelegenen Naturschutzgebiet, einmal Waldbaden, um den Alltag abzulegen und den Kopf frei zu bekommen.

Es tut mir leid, ich kann dieses Wort nicht ohne Ironie sagen. Waldbaden. Ja, ja, ich weiß, die Wissenschaft kann das alles plausibel erklären mit der Ladung in der Luft und den chemischen Botenstoffen, welche die Bäume ausströmen und evolutionär sind wir darauf geprägt, dass üppiges Grün uns beruhigt. Geschenkt. Vielleicht hat mich meine Jugend auf dem Land, in der ich nachmittags nichts Besseres zu tun hatte, als stundenlang mit dem Discman durch den Wald zu laufen, für dieses Konzept verdorben. Der Wald war für mich nie eine Wellness-Oase. Der Wald war wo ich hingegangen bin, wenn mir mein Zimmer zu klein wurde.

Aber Waldbaden ist nur die Spitze des schmelzenden Eisbergs. Wenn die Natur das Fremde, Entfernte ist, muss man es sich schon fest vornehmen, mit ihr zu interagieren, wenn man das denn gerne möchte. Der Stadtpark darf nicht einfach ein Stück Welt sein, sondern ist mindestens ein Naherholungsziel, das man aufsucht, um nach dem Feierabend die Batterien für den nächsten Tag wieder aufzuladen. Viele scheinen Natur nur noch in zwei Konzentrationen zu kennen: Gar nicht oder eben Natur pur. Da wundert es nicht, wenn der Wald zur fremden Welt wird, in die man eintauchen, in der man aber nicht bleiben kann. Wären wir fürs Waldbaden gemacht, hätten wir ja bestimmt Kiemen oder zumindest Schwimmhäute.

Auch Umweltaktivismus nimmt gerne diese Eventartigkeit an: Pflanz einen Baum! Geh zur Demo! Unterschreibe diese Petition! Dann kannst du mit deinem Alltag fortfahren. Ein Hund, der beim Spaziergang mal ohne Leine laufen darf, ist aber genauso domestiziert wie wenn er zuhause auf der Fußmatte liegt. Ein Ausflug ist keine Freiheit. Wer über Entdomestizierung nachdenken will, muss über Alltag nachdenken. Alltag und Umwelt – die menschliche wie die nicht-menschliche – zusammenzubringen, das ist der erste Schritt in die Entdomestizierung. Wir brauchen Kiemen, keine Schnorchel. Und das wiederum benötigt vor allem ein Umdenken.

Hilfsangebot statt Ressource

Ich glaube, einer der wichtigsten Schritte, die man tun kann, wenn man sich aus der Logik der Domestizierung lösen möchte, ist das Loslassen des Ressourcendenkens. Das Konzept „Ressource“ beinhaltet dabei zwei Dimensionen: Eine objektifizierende und eine vereinnahmende. Ressourcen sind Dinge, die nur in ihrer Eigenschaft der Nutzbarkeit bestehen. Sie können gesammelt, genutzt, aufgebraucht oder ungenutzt sein – und besessen werden. Das ist, was ich mit vereinnahmende Dimension meine: Ressourcen sind bei uns im Westen eng mit unserem Verständnis von Eigentum verbunden, das nochmal fester in den hiesigen Psychen verwurzelt ist. So sind Dinge, die uns allen zur Verfügung stehen, nicht etwa öffentliche Güter, nein, sie sind öffentliches Eigentum. Sie gehören der repräsentativen Verwaltung der Kommune. Nicht den tatsächlichen Mitgliedern der Kommune, die haben lediglich ein Nutzungsrecht.

Aber warum eigentlich? Warum muss alles irgendwem gehören? Mit dem Ressourcendenken eng verknüpft ist auch ein Leistungsanspruch: Eine Ressource, die keinen Profit bringt, ist keine mehr. Und am dringendsten hinterfragungswürdig ist diese Logik bei Human Ressources. Wie tief diese Erwartungen sitzen, sieht man unschwer am Umgang mit Arbeitslosen: Sie bringen keine „Leistung“, stehen der Wirtschaft nicht als Ressource zur Verfügung und werden daher sanktioniert, schikaniert und stigmatisiert. Der Wert eines Menschen ist bei uns so eng mit seiner wirtschaftlichen Produktivität verknüpft, dass selbst die basalsten und daher notwendigsten Arbeiten der menschlichen Reproduktion – Haus- und Fürsorgearbeit – als Arbeitslosigkeit gewertet werden. Wie kann es sein, dass diese direkte Arbeit am Aufrechterhalten der sozialen Gemeinschaft nicht wertgeschätzt wird?

Weil diese Arbeit keinen abschöpfbaren Profit generiert. Der Lohn des Putzens ist ein geputztes Haus. Der Lohn der Fürsorge ist funktionierende menschliche Gemeinschaft. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn ich Bewerbungen schreibe, denn was ich da versuche zu verkaufen, ist nicht Ich-als-Person sondern Ich-als-Ressource. Ich verkaufe meine Lebenszeit. Jobangebote locken mit den kulturell codierten Anzeichen artgerechter Haltung – flache Hierarchien, Obstkorb, Kaffee- und Wasserversorgung – und erwarten im Gegenzug (Aus-)Nutzungsrechte an Mir-als-Ressource. Als Arbeitnehmerin bin ich weisungsgebunden, von mir wird Loyalität gegenüber der Firma und wahrscheinlich sogar echte(!) Begeisterung für Job und Firma erwartet. Ich kann nicht einfach sagen: Ich muss arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und könnte dafür folgende Arbeiten bei Ihnen erledigen. Stattdessen habe ich schon immer auf eine Möglichkeit gewartet, mich in einem Unternehmen wie diesem einzubringen und zu verwirklichen. Arbeitgeber erwarten nicht, dass du selbstbestimmt am Arbeitsplatz auftauchst, deine Arbeit erledigst und danach wieder gehst. Sie erwarten, dass du ihnen zur Verfügung stehst. Mit deinen Gedanken, deinen Gefühlen und manchmal sogar mit deinen privaten Ressourcen. Manche Marketingunternehmen empfehlen z.B., dass Mitarbeitende ihre privaten Social Media Kanäle für die Arbeit nutzen. Das ist ein bisschen, als hätte man jemandem Hilfe beim Tapezieren angeboten und wenn man ankommt heißt es: „Ah, wo du schon mal da bist, nehm ich eben dein Auto, grab doch schon mal den Garten um, solange ich weg bin.“ Es ist einfach nicht Teil der Abmachung.

Ich arbeite gerne, aber ich möchte keine Ressource sein. Wenn ich jemandem Hilfe anbiete, kann er diese annehmen. Wenn ich etwas von jemandem möchte, kann ich um Hilfe bitten. Aber diese Kommunikation ist das Entscheidende: Beide Seiten sind selbstbestimmt und können annehmen oder ablehnen. Was ich nicht möchte, ist, jemandem einen Blankoscheck auszustellen, mich nach Gutdünken anzuzapfen.

Die Welt als Aggressionspunkt

Diese Überschrift ist geklaut, denn wie immer haben sich schlaue Leute schon mal über das Thema Gedanken gemacht. Sie ist der Titel des ersten Kapitels von Hartmut Rosas +Unverfügbarkeit . „Wir erlernen und habitualisieren eine bestimmte Stellungnahme zur Welt“, schreibt der Soziologe in diesem Essay, „eine praktische Welthaltung, die weit über unser kognitives „Weltbild“, unsere bewussten Annahmen und Überzeugungen über das, was es in der Welt gibt und worauf es ankommt, hinausgeht.“ Seine These: Die Welt ist uns zum Aggressionspunkt geworden. „Alles, was erscheint, muss gewusst, beherrscht, erobert, nutzbar gemacht werden.“ Also als Ressource verfügbar gemacht werden. Rosa unterteilt den Prozess der Verfügbarmachung in vier Dimensionen:

Sichtbar / erkennbar machen
Erreichbar / zugänglich machen
Beherrschbar machen
Nutzbar machen

Deklinieren wir das mal an Arbeitslosen durch. Möchte ein Arbeitsloser Mensch Arbeitslosengeld haben, so muss er sich arbeitslos melden (sich sichtbar machen). Er wird unter Androhung von Sanktionen gezwungen, zu Terminen aufzutauchen und den Wohnort nicht zu verlassen, um jederzeit für das Arbeitsamt erreichbar zu sein. Die Aussicht auf Sanktionen und regelmäßige Gespräche machen die arbeitslose Person kontrollierbar. Das Ziel ist, die Person wieder nutzbar zu machen: Sie als Ressource wieder in den Wirtschaftskreislauf einzubinden.

Rosas These ist, dass diese aggressive Aneignung, die wir gegenüber aller Aspekte der Welt praktizieren, ein „Verstummen“ der Welt zum Ergebnis hat: Sie kann uns nicht mehr berühren, nicht mehr mit uns in sinngebenden Kontakt treten. Der Mensch sucht nach Resonanz, nach gegenseitiger Berührung zwischen sich und der Welt. Die Logik der Ressource erlaubt dies nicht. Die Welt ist still geworden und diese Erfahrung, so Rosa „kennzeichnet den Zustand der Depression“.

Wir müssen aufhören, in Ressourcen zu denken – vor allem wenn es um Menschen und auch um die eigene Person geht. Der Blick auf sich selbst als Ressource ist extrem belastend, insbesondere, wenn man sich durch Krankheit oder ähnliches mal oder dauerhaft nicht zur Verfügung steht. Wir sind es so gewohnt, der Welt als Ressource zu begegnen, dass die eigene Unproduktivität schon zu Angstzuständen führt. Aber Menschen sind keine Maschinen, die pausenlos laufen müssen, um sich zu rentieren. Sie sind keine Ressourcen, die der Gesellschaft Leistung schulden. Und wer es geschafft hat, sich selbst und andere nicht mehr als Ressource zu betrachten, kann sich langsam und behutsam der nicht-menschlichen Umwelt mit diesem Mindset zuwenden.

Denkst du, dein Garten liebt dich?

IMG_20200725_164921 — Ich dich auch, Tomatenstrauch, ich dich auch.

Die Welt, die „Natur“ nicht als Ressource denken – krasser, revolutionärer Shit. Und so alt wie die Menschheit selbst. Unsere Idee von Eigentum und Ressourcen sind keine universalen Kategorien. Die meisten indigenen Völker haben zum Beispiel eine vollkommen andere Beziehung zur nicht-menschlichen Umwelt. Eine, die auf Gegenseitigkeit beruht. Ich kümmer mich um dich, du kümmerst dich um mich. Maximierung der Ressourcennutzung? I don‘t know her.

Robin Wall Kimmerer macht diese Form von Weltbegegnung in ihrem Buch +Braiding Sweetgrass greifbar. Als Botanikerin und Amerikanische Ureinwohnerin kann sie mit scharfem Blick Wissenschaft und traditionelles Wissen und Praktiken verknüpfen: Das Ergebnis ist häufig #NativesToldYouSo. Sie erzählt auch aus ihren eigenen Beziehungen zu Land und Pflanzen und hilft durch diese Beispiele, den für westliche Gemüter angsteinflößenden Schritt zu tun, von Land, Pflanzen und Tieren als eigenständige Akteure zu denken. Ugh, Animismus? Stellt sich heraus, dass es gut für Land und Leute ist, nicht alles als Ding, sondern als soziale Beziehung zu denken.

Im Kern dieser Weltsicht steht eine unendliche Dankbarkeit dafür, dass uns die Erde mit allem versorgt, was wir zum Leben brauchen. Und das nicht als Ressource, sondern als Hilfsangebot. Etwas, wofür man sich revanchiert. Das Zauberwort heißt Gegenseitigkeit. Etwas, mit dem man diese Erfahrung sehr direkt machen kann, ist ein Garten. Ein Garten ist ein Stück nicht-menschliche Welt, um das man sich kümmert und das sich im Gegenzug um einen kümmert: Er bereichert das Leben mit Erholung, Schönheit, sogar Essen. Lohn harter Gartenarbeit? In Kimmerers Weltsicht eher die Art und Weise des Gartens, sich für die liebevolle Pflege zu bedanken:

„Etwas Grundlegendes passiert in einem Gemüsegarten“, schreibt sie. „Es ist ein Ort, wo man, wenn man „Ich liebe dich“ nicht laut aussprechen kann, es in Saatgut ausdrücken kann. Und das Land wird es in Bohnen erwidern.“ (Meine Übersetzung)

Es ist gerade Ende August. Wenn ihr könnt, geht mal raus in einen öffentlichen Park oder auf einen Fahrradweg. Geht nicht an eine Bahntrasse, die Bahn sprüht Glyphosat. Aber an vielen Ecken und Rändern, an den Säumen von Wegen und Grünstreifen, wachsen Brombeeren und sie werden gerade reif. Auch wenn ihr keinen Garten habt, kein Stück Land, um das ihr euch kümmert: Die Welt ist da und flüstert in süßen schwarzen Beeren: Ich hab dich lieb, bitte kümmer dich um mich.

Kümmern statt haben

Was ist Domestizierung im Kern? Domestizierung ist nichts anderes als Ressourcendenken, Hartmut Rosas Verfügbarmachen in Reinstform. Dahinter der ewige Refrain: Haben, haben, haben. Wir haben einen Job, wir haben einen Garten, wir haben Familie und Freunde. Sie sind Teil unserer Ressourcen. Es wird Zeit für neue Verben: Aufgaben erfüllen, sich um einen Garten kümmern, Familie versorgen und Freundschaften pflegen. Kümmern sollte der Dreh- und Angelpunkt unserer Weltbeziehung sein. Nicht haben, beherrschen, nutzen.

Der Weg aus der Domestizierung ist lang und schwierig, ein gesellschaftlich-kollektiver, aber im ersten Schritt ein mentaler. Die Lösung ist nicht, mehr oder anderes zu haben – nein, auch keine Kommune auf dem Land. Es gibt keinen ethischen Konsum im Kapitalismus. Statt die Welt zu erobern, kann man mit ihr in Kontakt treten. Anstatt immer mehr Zeug zu haben, kann man sich um vorhandenes kümmern. Anstatt die Welt zu retten wie ein wehrloses Burgfräulein in Nöten, das patriarchale Sinnbild der Objektifizierung, sollten wir ihr Hilfe anbieten und mal ehrlich fragen: Was brauchst du? Wir müssen lernen, „Entschuldigung“ und „Ich liebe dich“ in Gesten der Fürsorge für unsere menschliche und nicht-menschliche Umwelt zu sagen. Denn was wir nicht mehr haben, ist Zeit.