Ich habe ein Mainstream-Buch gelesen

Ich habe ein Mainstream-Buch gelesen und es war für mich eine bizzare Erfahrung. Normalerweise lese ich Science Fiction und Fantasy, aber ich habe mir vorgenommen, mich da ein bisschen breiter aufzustellen. Also habe ich den Roman +Über dem Meer tanzt das Licht gelesen, den ich geschenkt bekommen habe – wahrscheinlich mit dem Hintergrund, dass der Roman auf Norderney spielt und ich mit der mich beschenkenden Person schon einmal dort war. Ich weiß noch nicht mal, wie ich das nennen soll. Ist "normales Buch" ein Genre? Wahrscheinlich wäre die korrekte Einordnung "Frauen- und Urlaubsliteratur" oder so ähnlich.

Das hier ist keine Rezension. Eine Rezension oder Bewertung, die meine Entfremdungsmomente während des Lesens widerspiegelte, würde Buch und Autorin wahrscheinlich Unrecht tun. Diese Art Roman ist nicht für Leute wie mich geschrieben und ich weiß das. So ein Buch soll Sehnsuchtsmomente aufbauen. Sehnsucht nach Dingen, die allgemein als erstrebenswert gelten und die ein Wertesystem im Hintergrund haben, dem ich mich nicht verpflichtet fühle. Beim Lesen macht das etwas Merkwürdiges mit mir, nämlich dass ich mit doppeltem Blick lese: Aus der Sicht der mir durchaus geläufigen "Mainstream-Werte" und der meiner eigenen.

Zunächst mal: Das Buch ist solide geschrieben. Es ist unterhaltsam und einigermaßen spannend für einen Plot, der sich hauptsächlich auf der Beziehungsebene abspielt. Letztendlich geht es um die Irrungen und Wirrungen, die eine Patchwork-Familie mit sich bringt, was für mich close to home ist und daher relatable. Die Figuren sind kohärent und einprägsam und jetzt hatte ich zumindest mal einen kleinen Einblick in Leute, die Cafés mit pseudo-deepen Sprüchen in Handlettering an der Wand gut finden. Es ist ein gutes Buch für das Genre. Denke ich. Ich hab ihm vier von fünf Sternen gegeben.

Wenigstens einigermaßen nachhaltig verpackt

Wenigstens einigermaßen nachhaltig verpackt, denkt sich die Protagonistin Maria, als sie eine Lieferung mit T-Shirts bekommt, die in Papier statt Plastik verpackt sind. An der Stelle musste ich beinahe aufhören zu lesen, weil es so absurd war. Die Protagonistin wird als notgedrungen sesshaft gewordene Jetsetterin charakterisiert, die früher laut eigener Aussage "quasi im Flugzeug gewohnt" hat, die Geschichte endet kurz nach einer weiteren Flugreise nach Costa Rica, dem in-story Sehnsuchtsort, denn, seien wir mal ehrlich: Wer will schon auf Norderney wohnen, einem der beliebtesten Urlaubsorte Deutschlands, mit seinen endlosen Sandstränden und der Nordsee vor dem Haus. Öööööööde!

Nichts am Lebensstil der Protagonistin ist in irgendeiner Art und Weise nachhaltig. Sie reflektiert das an keiner anderen Stelle im Buch. Nicht, dass ihre Fliegerei oder ihre Jobs auf Kreuzfahrtschiffen daneben waren (und sind, es wird in Aussicht gestellt, dass es in Zukunft wieder mehr Reisen geben wird, weil FREIHEIIIT!), nicht dass die Tourismusbranche, in der sie in irgendeiner Art und Weise immer gearbeitet hat, problematisch ist, nicht, dass die Patchwork-Konstellation regelmäßiges Pendeln ihrer Tochter von Düsseldorf nach Norderney erfordert - Nichts! Aber hauptsache deine Bio-Baumwoll-T-Shirts ("Bio-Baumwolle klingt ja immer gut") sind in Papier verpackt.

Vor allem, weil die Geschichte auf einer Nordseeinsel spielt - die wahrscheinlich verletzlichsten Orte Deutschlands angesichts des Klimawandels, erlitt ich im gesamten Buch immer wieder Momente der kognitiven Dissonanz. Die Glorifizierung von Fernreisen konnte ich vor allem nicht nachvollziehen, ich wollte die ganze Zeit sagen: Honey, wenn du so weiter machst, gibt's den Strand zu deinem Café in ein paar Jahren nicht mehr. Im Kontext des Buches war Reisen nur eines: Freiheit. Kein Privileg, kein problematischer Lebensstil, einfach nur Freiheit, die man ausnutzen muss, solange die Kinder es mitmachen. Ich sag's mal so: Nach der Lektüre erschließt es sich mir ein bisschen besser, warum viele Klimaschutz als "kontroverses Thema" ansehen, denn anscheinend findet Reflektion des eigenen Verhaltens im Bezug auf das Thema nicht einmal dann statt, wenn man direkt dem steigenden Meeresspiegel ausgesetzt ist.

Geerbter Wohlstand

Die Protagonistin Maria wird immer wieder als unabhängig und taff charakterisiert - sie braucht nichts und niemanden, nur das Meer und ihr Surfbrett und außerdem hat sie als sie gezwungenermaßen sesshaft geworden ist, ein eigenes Café aufgemacht. Auf Norderney. Das ihre Mutter ihr gepachtet hat. Bei der sie ihre Tochter während ihrer Reisen abgestellt hat (aber eine Woche im Monat ist sie immerhin vorbei gekommen, sie ist ja keine Rabenmutter uff uff uff). Finanzielle Sorgen sind die zweite Plotline, neben dem Beziehungskram. Soll sie das Haus ihrer Mutter (auf Norderney) verkaufen, um das Dach des Cafés zu reparieren? Jawohl, sie hat ein Haus auf Norderney geerbt, in dem sie nicht wohnt, und hat "Geldsorgen".

Wie unfassbar privilegiert sie eigentlich lebt, reflektiert Maria an keinem Punkt. Dass ihre Mutter sie mit einem reichen Erbe zurück gelassen hat, nachdem sie ihr jahrelang auch für 75% der Zeit ihr Kind abgenommen hat, damit Maria ihrem Jetsetter-Lifestyle nachgehen kann - geschenkt! Ist ja nur Norderney. Kleines, verschnarchtes Norderney. Sie ist umgeben von Leuten, die Seglen und Fliegen als Hobbys haben, im Vergleich zu denen ist sie ja wohl keine reiche Frau - aber eben nur im Vergleich. Norderney ist teuer. Selbst als Urlaubsort ist Norderney teuer, als Wohnort wahrscheinlich noch dreimal mehr.

Dass der finanzielle Notstand am Ende durch ein zweites, unverhofftes Erbe behoben wird, spricht Bände darüber, wie Wohlstand in der Welt dieser ohnehin sehr gut betuchten Leute funktioniert: Über Vererbung. Und die Hilfe eines Investors für ihr Café. So taff und unabhängig Maria auch sein mag: Sie kann es nur sein, weil sie auf einem sehr, sehr, sehr bequemen Polster sitzt und aus allen Richtungen immer noch ein Kissen untergeschoben bekommt, wenn sie sich wirklich mal beweisen müsste.

Sehnsuchtsmaschinerie frei und sorglos

Die Lebensrealität der Protagonist_innen ist so weit von der normaler Menschen entfernt, dass sie als Sehnsuchtsszenario fungiert. In allen Punkten: Protagonistin ist begehrt und muss sich gleich zwischen drei Männern entscheiden, sie hat ihre Jugend irgendwo in den Tropen und auf Kreuzfahrtschiffen verbracht, sie wohnt buchstäblich, wo andere Urlaub machen (und rechtfertigt sich dafür die ganze Zeit, als wäre Norderney nicht eine der schönsten Ecken Deutschlands) und ihre finanziellen Sorgen stammen eher aus der emotionalen als aus der materiellen Ebene und lösen sich am Ende, ohne dass sie was dafür tun muss, in Luft auf.

Das Drama mit ihren Töchtern und Männergeschichten sind natürlich keine nichtigen Konflikte - schließlich sind interpersonale Konflikte das, was uns Menschen tatsächlich bewegen - aber sie spielen vor einer so absurden Kulisse von Privilegien, dass ich irgendwann nur noch den Kopf schütteln konnte. Nicht, weil ich die Sehnsucht danach nicht verstehe - ich wäre auch gerne reich, abgesichert und begehrt auf Norderney - sondern weil ich denke, dass diese Kulisse nicht mehr als erstrebenswert gezeichnet werden sollte.

Was mich aber am meisten fertig gemacht hat, ist, dass die Autorin dieses absolute Luxusleben der Protagonistin laufend als Kompromiss darstellt. Als bescheiden im Gegensatz zum glamourösen Leben auf Reisen oder in den Städten oder Sylt oder was auch immer. Dass die Familie sie gezwungen hat, sesshaft zu werden und ihre "innere Freiheit" zu finden (die sich im Ausreiten über den Strand und nackt Baden in der Nordsee äußert). Als wäre das nicht ein für ungefähr alle Menschen unerreichbarer Lebensstandard. Und dann frage ich mich: Meint sie das ernst? Gibt es wirklich Leute, für dieses Leben ein Kompromiss zu dem wäre, was sie sich wirklich wünschen?

Wie gesagt: Dieses Buch ist nicht für mich geschrieben. Nicht für Leute, die sich für Ökologie und Gesellschaftskritik interessieren, die keinen Wert auf die herkömmlichen Statussymbole wie Polohemden und Privatflugzeuge legen, denen beim Gedanken an Norderney nicht nur Urlaub in den Sinn kommt, sondern Klimawandel und der vermutlich nicht mehr aufzuhaltende Verlust des Wattenmeers. Ich verstehe Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Freiheit und Sorglosigkeit. Aber ich würde sie lieber in Form einer Utopie lesen, nicht als Produkt von Unreflektiertheit in unserer realen Gegenwart.