Vom Fleisch gefallen

Vor einiger Zeit geisterte dieser großartige Artikel von Nikola Richter über die langjährige vegetarische Tradition ihrer Familie durch meine Twitter-Timeline, als Kontrast zu der so oft beschworenen Wurst-und-Schnitzel-Kultur des durchschnittlichen Deutschen (nicht-generisches Maskulinum). Sie beendet den Artikel mit dem Aufruf "Erzählt euch mehr familiäre Kochgeschichten!" und genau das möchte ich hier machen.

IMG_20190710_113817 — Vegetarismus ist Empowerment – ich kann kein Tier halten und schlachten, aber ich kann Gemüse anbauen.

Vegetarismus hat in meiner Familie keine Tradition. Beide Seiten meiner Familie kommen vom Land, mein Urgroßvater mütterlicherseits war Fleischer, meine Großeltern väterlicherseits hatten einen Weinberg und ein kleines Spargelfeld in Franken. Meine Mutter hat mir erzählt, dass in ihrer Kindheit jedes Jahr ein Schwein und ein Kalb geschlachtet wurden, was die Fleischvorräte der Großfamilie für den Rest des Jahres darstellte. Auch in meiner Kindheit hing ab und zu noch ein kompletter abgezogener Stallhase in der Speisekammer, wenn der Nachbar geschlachtet hatte.

Meine Großmutter väterlicherseits ist eine begnadete Köchin fränkischer Hausmannskost, es gab beim Sonntagsessen immer zwei Sorten Fleisch mit jeweils einer Bratensoße, in der ich mich hätte suhlen können, aber meine Großmutter hat auch schon mal Rinderzunge serviert und selber Wurst gemacht. Meine Großmutter kann so gut kochen, dass mein Vater, als er zum Studium weggezogen ist, genau einmal in der Mensa gegessen hat und dann selbst gelernt hat zu kochen, was er bis heute auch noch sehr gerne und gut tut.

Der erste Bruch mit der Fleischaffinität meiner Familie kam in Form meines Bruders, der als kleines Kind einer Schlachtung beigewohnt hat und danach prompt aufgehört hat, Fleisch zu essen - zum Leidwesen der Köch'innen in meiner Familie. Dementsprechend bin ich zwar mit einem Vorbild für vegetarisches Essverhalten aufgewachsen, aber mein Bruder bekam immer eine, äh, Extrawurst. Vegetarismus war nicht normal, das war der Sonderfall. Und auch mein Bruder ist in späteren Jahren, als er den Kraftsport für sich entdeckt hat, wieder Allesfresser geworden, da er nicht wusste, wie er sonst seinen horrenden Eiweißbedarf decken sollte.

Trotzdem gab es meinem Bruder sei Dank nicht bei jeder Mahlzeit Fleisch, schließlich hatte niemand Lust, jeden Tag doppelt zu kochen. Aber ich habe erst viel später, mit Anfang zwanzig zur vegetarischen Ernährung gefunden. Es gab davor eine Phase, nachdem ich aus einem Auslandsjahr in den ländlichen USA zurück war, in der ich schon einmal damit geflirtet hatte. Weil mir Gemüse in der unheimlich fleischlastigen Ernährung dort schlicht und ergreifend gefehlt hatte. Ich habe meine Gastfamilie einmal gefragt, ob sie mich auch aufgenommen hätten, wenn ich Vegetarierin gewesen wäre. Sie sagten nein, sie hätten keine Ahnung gehabt, was sie mir hätten zum Essen geben können. Letztendlich hab ich die vegetarische Ernährung als Teen noch nicht durchgesetzt, die Überzeugungsarbeit, die ich gegenüber der Erwachsenen hätte leisten müssen, war mir zu viel.

Ich finde Fleisch bis heute nicht eklig. Nicht der Sache wegen. Aber die Menge, in denen manche Leute Fleisch essen, ekelt mich an. Das war auch in den USA so. Ich habe mich im Zuge einer allumfassenden Das-Landmädchen-ist-in-die-große-Stadt-gezogen-Lebenskrise zum Anfang meines Studiums dazu entschieden, Fleisch in meiner Ernährung erst radikal zu reduzieren und dann bis auf wenige Ausnahmen im Jahr ganz von meinem Speiseplan zu verbannen. Da ich nun selbst für Einkauf und Zubereitung meines Essens verantwortlich war, fiel es mir deutlich leichter. Zeitweise habe ich auch immer wieder mit Veganismus geliebäugelt, aber letztendlich hat die Convenience des überall erhältlichen Käsebrots mich immer wieder in die rahmige Umarmung der Milchprodukte getrieben.

Ich trinke meinen Kaffee mit Hafermilch, aber andere Ersatzprodukte haben mich entweder noch nicht überzeugt oder sind auch deswegen schwer umzusetzen, weil ich mit einem Omnivoren zusammenlebe. Unser Kind ernähren wir vegetarisch. Wir werden ihm nicht verbieten, Fleisch zu probieren oder regelmäßig zu essen, wenn es das möchte, aber wir sind uns einig, dass das eine große moralische Entscheidung ist. Eine, die wir unserem Kind nicht vorweg nehmen wollten, indem wir es vor vollendete Tatsachen stellen. Denn aufzuhören, Fleisch zu essen, kann viel Überwindung kosten. Und diese Schwelle möchte ich gar nicht erst aufbauen.

Ich breche mit meiner Ernährung Familientraditionen, aber andere führe ich weiter. Ich koche gerne, lang und aufwendig. Die Vorliebe dafür, mit Wein zu kochen, hat sich über die Winzerseite meiner Familie bis zu mir durchgezogen. Traditionen sind nicht dafür da, stumpf weitergeführt zu werden. Mit mikroskopisch klein gehackten Zwiebeln und Möhren bekomme ich inzwischen eine passable vegetarische Variante der Bolognese meines Vaters hin, mein Kindheits-Comfort-Food par excellence.

Traditionen unterliegen nicht dem Urheberrecht. Man muss sie nicht so nehmen, wie sie sind. Jede'r hat ein explizites Recht auf Remix der eigenen Kultur, so eng oder weit man sie auch fassen mag. Und wenn eine kurze Introspektion enthüllt, dass stundenlang in Wein gegarte Zwiebeln die Familiennostalgie genausogut befriedigen wie pürierte Kuh und man beim Grillen eigentlich keine Wurst braucht, sondern einen Senfträger, muss man das Rad nicht neu erfinden. Mix and Match. Pick and choose. All culture ist derivative.

https://www.youtube.com/watch?v=jcvd5JZkUXY