Gelesen & Geliebt: April 2021

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber der April hat mir noch einmal verdeutlicht, wie viele großartige Bücher in diesem Jahr erscheinen. Es war wirklich nicht leicht, meine Lieblinge auszuwählen. Niemanden wird es überraschen, dass meine Buchauswahl wieder sehr nordlastig ist. Mit Finnland, Island, Schweden und Norwegen sind fast alle nordischen Länder mit einem Buch vertreten, aber auch eine Britin und ein Buch über die fantastische Welt der Seepferdchen und die Autobiografie der jüdischen Widerstandskämpferin Selma van de Perre haben mich unfassbar berührt und nachhaltig beeindruckt.

Linn Strømsborg: +Nie, nie, nie, DuMont Buchverlag

Zum Inhalt: Linn Strømsborgs Erzählerin ist 35 - und hat sich schon vor Jahren dazu entschlossen, keine Kinder zu bekommen. Doch immer wieder wird sie mit dem Thema konfrontiert. Da ist ihr langjähriger Partner Philip, der zunehmend daran zweifelt, ob er mit dem Entschluss seiner Freundin leben kann. Ihre Mutter strickt seit Jahr und Tag Babykleidung in der Hoffnung auf ein Enkelkind. Als ihre beste Freundin Nachwuchs bekommt, verändert sich alles. Aber kann man wirklich nur mit Kind eine Familie sein? Wieso wird von jeder Frau erwartet, dass sie Mutter werden will? Warum ist es so schwierig, andere Lebensentwürfe zu akzeptieren?

Mein Fazit: Wollt ihr keine Kinder? Probiert ihr es? Oder klappt es nicht? Bei der Cousine der Nachbarin meiner Friseurin hat es zehn Jahre gedauert, bis es geklappt hat! - Diese Fragen und Kommentare begegnen einem als (verheiratete) Frau in den Dreißigern immer wieder, gerne mit dem Zusatz, dass Mutterschaft das größte Geschenk und Glück der Welt ist und man erst dadurch wirklich lernt, was Liebe ist. Ich könnte nun bis ins Unendliche ausführen, was das mit einem macht und wie sich das Interesse teilweise nahezu fremder Menschen am eigenen Lebensentwurf und vor allem an meiner Gebärmutter auf einen auswirkt. Gleichzeitig muss ich ehrlich zugeben, dass auch ich in ebendieser Gesellschaft aufgewachsen bin und schon oft unsensible, unüberlegte Fragen in die Richtung gestellt habe und mich später ganz furchtbar über mich selbst geärgert.

Doch zurück zum Buch: In diesem wunderwunderwunderbaren Buch geht es nicht darum, Kinder zu bekommen oder eben nicht, es geht nicht um richtig oder falsch. Es geht um Lebensentwürfe und deren Akzeptanz, um unterschiedliche Perspektiven auf das Leben und die Liebe in all ihren Formen. Es geht um den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit und die gesellschaftliche kollektive Erwartung, die vor allem Frauen zu erdrücken droht. Es geht um Erwartungen und wie diese ausgedrückt werden. Selten habe ich ein Buch gelesen, das so treffend und auf so schöne Weise meine eigene Gefühlswelt als Frau in den 30ern beschreibt. Linn Strømsborgs Buch sollten viele Menschen lesen, um zu verstehen, dass nicht alle Menschen auf die gleiche Weise leben und lieben wollen und dass Liebe und Erfüllung für jede*n etwas anderes ist und wir als Kollektiv endlich verstehen müssen, dass manche Menschen WIRKLICH ohne Kinder glücklich sein können und ihnen nie irgendetwas fehlen wird. Mich hat vor allem berührt, wie ehrlich die Autorin das Gefühl vermitteln kann, ein großartiges, erfülltes kinderloses Leben führen zu können, von dem viele andere gleichzeitig glauben, dass es nur ein halbes Leben ist. Das Buch ist ein großartiges Leseerlebnis, ich habe es von der ersten bis zur letzten Seite geliebt, auch wenn ich teilweise traurig und wütend war, zu erleben, was es mit einem macht, wenn man der kollektiven Erwartung nachgibt und zerbricht und ich es am Ende kurz gegen die Wand pfeffern wollte.

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Till Hein: +Crazy Horse, mareverlag

Zum Inhalt: Anmutige Tänzer, Meister der Tarnung und romantische Liebende, doch auch schwerhörige Vielfraße, launische Griesgrame und langsame Faulpelze: All das und mehr sind Seepferdchen. Man findet die kleinen Fische nicht nur in Seegraswiesen und Mangrovenwäldern, sondern ebenso im Schachspiel und in griechischen Sagen - und wie kommen sie eigentlich auf Kinderbadeanzüge, Geldmünzen und Toilettenschüsseln aus dem alten Rom? Was macht sie trotz ihrer Trägheit zu erstklassigen Jägern, warum ist ein Hirnareal nach ihnen benannt, wie können sie uns helfen, besser zu schlafen, und sogar die Robotik inspirieren?

Mein Fazit: Kurios, zauberhaft und geheimnisvoll, das sind Seepferdchen und ihre magische Unterwasserwelt. Als Meerjungfrau liebe ich literarische Sachbücher rund um das Wasser und seine Bewohner*innen wie zum Beispiel +Rendezvous mit einem Oktopus, +Wenn Haie leuchten, +Das Evangelium der Aale und +Was Fische wissen. Der liebevolle und vielfältige Einblick des Fischporträtisten Till Hein begeisterte mich mit seiner ausgewogenen Mischung aus wissenschaftlichen Fakten, skurrilen Anekdoten, Mythen, Legenden und Ausflügen in die Popkultur, Aquaristik und Emanzipation. So lautet eins der 20 Kapitel "Wann ist ein Mann ein Mann?", denn bei den Seepferdchen tragen die Männer die Kinder aus. "Als er das Seepferdchen erschuf, was Gott wahrscheinlich besoffen", vermutet der Meeresbiologe Jorge Gomezjurado. So oder so, ich bin nicht nur froh, dass es die winzigen Knorpelfischchen gibt, sondern auch für die wunderbare kurzweilige wie lehrreiche Lektüre, durch die ich gelernt habe, wie Joachim Ringelnatz zu seinem Künstlernamen gekommen ist und wie Seepferdchen die Robotik und Bionik Forschung beeinflussen.

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Sofia Rönnow Pessah: +Die Männer in meinem Leben, Ullstein Buchverlage

Zum Inhalt: Sonia ist jung und voller Begehren. Ihr Leben besteht aus Partys und Sex, die Männer nummeriert sie durch. Tagsüber ist sie die seriöse Juristin, nachts trifft sie ihre Tinder-Dates. Die Männer sind begeistert von ihr, sie ist es aber nicht von ihnen. Denn hinter Sonias gut gelaunter Fassade lauert etwas: Eine alles vernichtende Leere, die mit jedem neuen Mann größer wird. Immer wieder steht sie vor derselben Frage - wer ist sie ohne die Bestätigung der Männer?

Mein Fazit: Eine ehrliche, rohe Tragödie voller dunklem Humor darüber, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert eine Frau zu sein. Die Autorin schafft es, die sexuelle Dystopie, die uns umgibt, in Worte zu fassen. Ich war vom Schreibstil gefesselt und auf ungewöhnliche Weise tief berührt. Ein Manifest gegen konservative Hochglanzromantik und pornogeschädigte Geschlechterrollen.

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Katja Kettu: +Die Unbezwingbare, Ecco Verlag

Zum Inhalt: Jahrzehnte nach dem Verschwinden ihrer Mutter kehrt Lempi in das Reservat in Minnesota zurück, in dem sie aufgewachsen ist. Ihr Vater hat zum wiederholten Mal Rose bei der Polizei als vermisst gemeldet - dieses Mal berichtet er aber zusätzlich von einem verschwundenen blonden Mädchen. Lempi, halb Finnin, halb Ojibwe, kämpft seit jeher mit ihrer Identität: Im Reservat gilt sie als zu weiß, außerhalb ist sie nicht weiß genug. Zurück im Reservat sieht sie sich mit den alten Vorurteilen konfrontiert und einer Gesellschaft, die Verbrechen gegen indigene Frauen systematisch totschweigt. Unbeirrt davon begibt sie sich auf Spurensuche...

Mein Fazit: Ich liebe die Bücher der Finnin Katja Kettu, die stets durch ihre wilde und rohe Sprache bestechen und Themen behandeln, die schwierig, schmerzhaft und düster sind und in die sie dennoch ein Lichtstrahl scheinen lässt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten fast 300.000 Finn*innen nach Amerika aus, von denen einige in die Reservate zogen und Native Americans heirateten und bis heute in Finnland als Findianer*innen bekannt sind. Katja Kettus Romane sind kleine sprachschöne Labyrinthe aus dunklen Motiven, komplizierten Charakteren und verwundenen Lebenswegen und dennoch schafft es die Autorin, ihre Leser*innen in ihrem ganz eigenen Tempo und voller Lesegenuss durch das Gewirr zu manövrieren. Darüber hinaus habe ich mit den Findianer*innen eine ganz neue Welt kennengelernt.

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Dolly Alderton: +Gespenster, Atlantik Verlag

Zum Inhalt: Die erfolgreiche Food-Autorin Nina George Dean trägt ihren zweiten Vornamen, weil ein Hit von Wham! an ihrem Geburtstag vor 32 Jahren auf Platz eins der Charts stand. Das beeindruckt Max, den sie von einer Dating-App kennt. Doch genauso schnell, wie er Nina an der Nachtbushaltestelle ewiges Glück versprochen hat, verschwindet er wieder aus ihrem Leben - ohne eine Spur zu hinterlassen. Gleichzeitig heiratet ihr Ex-Freund und ihre beste Freundin ist schwanger. Als Nina alles zu entgleiten droht, wünscht sie sich nur noch sehnlichst in ihre Jugendtage zurück...

Mein Fazit: Als ich anfing, das Buch zu lesen, habe ich mich auf eine lockerleichte romantische Erzählung gefreut. Ich wurde nicht enttäuscht, aber bekam so so viel mehr als das, ich bekam eine Geschichte voller großartigem britischen Humor, ernsten Thematiken und viel Tiefgang. Dolly Alderton schafft es, Ninas Geschichte so authentisch zu erzählen, dass man das Gefühl bekommt, sie spricht selbst zu einem. Der Roman umfasst die Facetten des Lebens, denen wir uns im Laufe unseres Lebens zunehmend schmerzlicher stellen müssen: Älterwerden, Trauer und Verlust und die Ängste, die damit einhergehen. Ich liebe die Menschlichkeit und damit einhergende "Fehlerhaftigkeit", die die Autorin ihrer Protagonistin geschenkt hat. Ein wunderbarer intelligent geschriebener unterhaltender wie tiefsinniger Roman über Liebe, Freundschaft, Familie und den Kreislauf des Lebens.

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Selma van de Perre: +Mein Name ist Selma, btb Verlag

Zum Inhalt: Sie war siebzehn, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Bis dahin hatte es keine große Rolle für sie gespielt, dass sie Jüdin war, doch plötzlich entschied diese Frage über Leben oder Tod. 1942 schloss sie sich dem niederländischen Widerstand an, lebte unter falschem Namen. Mehrmals konnte sie den Nazis entkommen, doch im Juli 1944 wurde sie verraten und nach Ravensbrück transportiert. Sie hat die Grauen des Konzentrationslagers überlebt, ihre Familie nicht. In dieser Zeit wusste niemand, dass sie Jüdin war, keiner kannte ihren Namen. Erst danach wagte sie wieder zu sagen: Mein Name ist Selma.

Mein Fazit: Zugegeben, eigentlich wollte ich mich davor drücken, etwas zu diesem eindrucksvollen Buch zu sagen, da es keine Worte gibt, die dem Menschen Selma van de Perre, ihrem Leben und diesem Buch, das sie uns geschenkt hat, gerecht werden können. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass dieses Buch VIEL zu wenig Beachtung gefunden hat und möchte das Cover am liebsten in allen Städten des Landes an Litfaßsäulen kleistern.

Egal, wie viel man über das Dritte Reich und den Holocaust weiß, die Gräueltaten hören niemals auf, einen aufs neue mitten in den Magen zu rammen und einem die Luft abzuschnüren. Selma van de Perres Geschichte ist einzigartig und dennoch steht sie stellvertretend für die Millionen Menschen, die ihre Geschichte nicht erzählen können. Wir können nichts an der Geschichte ändern, wir können nichts wieder gut machen oder reparieren. Wir können uns niemals vorstellen, was "Freiheit" wirklich bedeutet und wie es damals in den Konzentrationslagern war. Aber wir können eins tun: Dem Vergessen vorbeugen und das "Nie wieder!" hochhalten.

Und wir können dieses Buch lesen und uns wieder und wieder vor Augen führen, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind und von welcher Größe und Bedeutung der Mut, die Hoffnung und Willenskraft von Menschen wie Selma van de Perre ist. Lest Selmas Geschichte, verleiht sie, verschenkt sie und lasst ihren Namen bekannter werden: "Dieses Buch soll Zeugnis unseres Kampfes gegen die Unmenschlichkeit sein. Denn die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges und die mutigen Taten der Menschen, die ihnen stolz entgegen getreten sind, dürfen nie in Vergessenheit geraten. Mit meinem Buch hoffe ich, einen Beitrag zum Gedenken daran zu leisten."

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Klaus Modick: +Fahrtwind, Kiepenheuer und Witsch

Zum Inhalt: Klaus Modick erzählt von einer Zeit der Umbrüche, von einem jungen Mann, der sich weigert, nützlich zu sein, und seinem abenteuerlichen Roadtrip. In der Bundesrepublik der turbulenten Siebziger trifft ein junger Mann eine Entscheidung. Er packt ein paar Sachen, greift seine Gitarre und geht. Ohne Geld und Plan schlägt sich der selbsternannte Nichtsnutz über Wien und die Toskana nach Süden durch, trifft auf schräge Vögel, hoffnungslose Romantiker, zwielichtige Rocker, Hippies und die große Liebe, spielt als Troubadour groß auf, entdeckt die magische Welt der Pilze, das unvergleichliche Licht Italiens und die unermessliche Freiheit der Straße...

Mein Fazit: Klaus Modick zählt zu meinen zeitgenössischen Lieblingsautoren und "Fahrtwind" hat mich einmal mehr in diesem Gefühl bestärkt. Der Autor, der vor Kurzem seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, hat sich zu dem Roman von Joseph von Eichendorffs Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" inspirieren lassen. Hach, was liebte ich es, in Gedanken mit dem jungen Protagonisten Ende der 70er Jahre in die Welt zu ziehen. Roadtrips sind eigentlich so gar nicht mein Genre (bis auf +Tschick), aber Klaus Modick hat es geschafft, mich mit seiner einzigartigen bildhaften Erzählweise und Sprache einzufangen und mit den kleinen poetischen Streifzügen so zu begeistern, dass ich mich mit Klaus Modick auf wirklich jeden (literarischen) Roadtrip wagen würde.

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Halldór Laxness: +Am Gletscher, Steidl Verlag

Zum Inhalt: Im äußersten Westen Islands liegt der Snaefellsgletscher, an seinem Fuße versieht Pfarrer Jon Primus sein Amt. Doch die Seelsorge, die er den Menschen (und Tieren) angedeihen lässt, ist von ganz eigener Art. Was dem Bischof davon zu Ohren kommt, gibt Anlass zur Besorgnis. Er schickt einen jungen Theologen als Vertreter des Bischofs - kurz »Vebi« - auf die Spurensuche. Dieser macht skurrile Bekanntschaften, hört sagenhafte Erzählungen und wird in krude Dispute verwickelt. Laxness' zweifellos witzigstes Buch ist nun in wunderschöner neuer Gestaltung erhältlich.

Mein Fazit: Das Buch ist der beste Beweis dafür, dass den Nordmenschen der leicht skurrile Schreibstil durch die Adern fließen muss. Irrsinn, Wahnsinn, Schrägheit, ich weiß gar nicht, welcher Begriff diesen grandios komischen jedoch nicht leicht lesbaren Roman wählen soll. Der Literaturnobelpreisträger Laxness ist eigensinnig und die meisten Leser*innen werden Zeit brauchen, sich mit ihm anzufreunden und in seiner Sprache und seinen Geschichten einzufinden, doch es lohnt sich. Neben kurzweiligen und ironischen Ausflügen in die nordische Mythologie und isländische Gepflogenheiten lernen die Leser*innen Land und Leute kennen und erfahren, wie nah Wahrheit und Fantasie, Sinn und Irrsinn doch beieinander liegen. Denn, wer weiß, vielleicht ist am Ende ja doch alles ganz anders und er huschte wirklich durch sein Haus in der Näehe von Mosfellsbær, als ich vor zwei Jahren durchs Fenster spähte.

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