Film ab: Zimmer mit Aussicht

+Zimmer mit Aussicht ist ein schmaler, 1908 erschienener, Roman des Briten E. M. Forster. Die Frauenfiguren, allen voran seine Protagonistin Lucy Honeychurch, scheinen auf einem sehr schmalen Grat zu balancieren: Auf der einen Seite die erst langsam verblassenden viktorianischen Ideale und das enge Korsett, das dieses Zeitalter für Frauen bereithielt. Und auf der anderen die neuen Freiheiten und Gedanken der New Woman, die jedoch bisher nur durchscheinen, sich aber noch nicht nachhaltig durchsetzen.

Es geht um Lucy, die mit ihrer ältlichen und übervorsichtigen Cousine Charlotte Florenz besucht. Die „Tour“ beginnt mit einer Enttäuschung: Statt der versprochenen Aussicht auf den Arno sehen sie von ihrem Fenster aus nur in einen Hinterhof. Um dem abzuhelfen, bietet ein ebenfalls in der Pension Bertolini logierender Mr Emerson den beiden einen Zimmertausch an. Er und sein Sohn sehen nämlich tatsächlich auf den Arno hinaus. Nur können Männer mit einer schönen Aussicht nichts anfangen, sagt er. (Da sich bald eine Liebesgeschichte entspinnt, gehen wir mal davon aus, dass sich sein Verständnis von „schönen Aussichten“ hier auf Landschaften beschränkt.)

Charlotte sträubt sich zunächst, wird dann aber überstimmt. Und so ergibt sich eine nicht ganz freiwillige Bekanntschaft mit den Emersons, die nicht zur gleichen sozialen Schicht gehören. Und das geht für Engländer ja mal gar nicht. Es gibt dann in Folge den Besuch einer Kirche, einen Ausflug aufs Land und einen Kuss infolgedessen Charlotte sofort die Koffer packt.

Der zweite Teil des Romans spielt in England und nur so viel sei verraten: Es gibt eine Verlobung, eine Liebesgeschichte und nacktbadende Männer, bevor Forster seinen Roman zu einem versöhnlichen Ende bringt. Ist „Zimmer mit Aussicht“ eine Liebesgeschichte? Ja, durchaus, allerdings sehr englisch unterkühlt. Mich hielten eher die pointierten Beschreibungen des Autors bei der Stange. Was er über Touristen schreibt (vor über 100 Jahren!) ist immer noch mehr als wahr. Auch die Interaktionen zwischen den Charakteren sind voller feiner Nuancen, voller Wortwitz und Ironie. Wenn man bedenkt, dass ein zutiefst viktorianischer Roman wie +Tess von Thomas Hardy erst fünfzehn Jahre alt ist, aber gleichzeitig der erste Weltkrieg schon am Horizont scheint, dann positioniert das „Zimmer mit Aussicht“ in einer interessanten „Zwischenwelt“ - nicht mehr ganz das eine, aber auch noch längst nicht das andere. Forster beschreibt eine Welt, die Traditionen und Ideen anhängt, die längst obsolet scheinen.

1985 wurde der Roman fürs Kino adaptiert, und zwar von Merchant/Ivory. Diese Produktionsgesellschaft ist bekannt für die Verfilmungen englischer Romane, auch +Wiedersehen in Howards End von Forster oder +Was vom Tage übrig blieb von Ishiguro stammen aus der Werkstatt von Merchant/Ivory. Ihr Markenzeichen waren einerseits die englischen Landschaften und Landhäuser als Setting und die erstklassig besetzten Rollen. In „Zimmer mit Aussicht“ ist unter anderem eine (blutjunge) Helena Bonham-Carter zu sehen, die sich zwischen Julian Sands und einem furchtbar schnauzbärtigen Daniel Day Lewis entscheiden muss – die Arme!

Die bei Forster doch sehr subtile Liebeshandlung wird hier etwas plakativer dargestellt. Sie bildet so eher einen roten Faden, der durch den Film führt. Julian Sands fungiert erfolgreich als der romantische Held, während Daniel Day Lewis als Supersnob den Gegenspieler gibt. Ja, auch im Roman ist diese Figur überzeichnet, aber was Daniel Day Lewis da herausholt … eine großartige Karikatur! Forsters herrlich gewitzte Einlassungen zum Thema (Massen)Tourismus fallen im Film zwar größtenteils unter den Tisch, dafür lebt „Zimmer mit Aussicht“ hier von den spitzen Dialogen und Kommentaren und sogar von der Situationskomik. Es sei hier vor allem die Badeszene erwähnt, die schon im Roman selbst der Höhepunkt des zweiten Teils ist. Im Film sieht man tatsächlich drei mehr oder weniger gut gebaute, spitterfasernackte Männer in einem schlammigen Teich herumalbern (das englische Wort, das einem sofort dazu einfällt ist „frolicking“). Und natürlich werden sie von den spazierenden Damen entdeckt. Ups.

Im Ganzen ist die Verfilmung sehr textreu. Heutzutage, wo +Romeo und Julia bonbonbunt (Baz Luhrman) und +Hamlet stockfinster und in SloMo (Justin Kurzel) sein muss, ist die in „Zimmer mit Aussicht“ zu bewundernde Werktreue geradezu bieder. Oder wenn man es positiv formulieren will: Merchant/Ivory haben sich nicht mit verrückten Interpretationen oder Hinzudichtungen aufgehalten. Sie wollten nicht originell sein. Ihnen hat es ausgereicht, gut zu sein. Und das ist ihnen mit „Zimmer mit Aussicht“ gelungen.

"Zimmer mit Aussicht" (Original "A Room with a View"), Großbritannien 1895. Regie James Ivory. Mit Helena Bonham-Carter, Julian Sands, Daniel Day Lewis, Maggie Smith.

https://www.youtube.com/watch?v=DgZkCc3xFl4