Das innere Lexikon – Übersetzerin Tanja Handels im Gespräch

In den letzten Jahren ist die Aufmerksamkeit, die literarischen Übersetzer*innen in der lesenden Öffentlichkeit zuteil wird, verdientermaßen etwas angestiegen. Immer mehr Menschen interessieren sich für die deutschen Stimmen ihrer Lieblingsautor*innen. Und eine der vielbeschäftigtsten Übersetzerinnen heißt Tanja Handels. Zuletzt konnte man ihre sprachliche Wandlungsfähigkeit bei der Lektüre von Charlotte McConaghys Debütroman +Zugvögel , Bernardine Evaristos preisgekröntem +Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019 und Anna Quindlens aktuellem New York Roman +Der Platz im Leben bewundern. Am bekanntesten ist Handels allerdings für ihre langjährige Arbeit als feste Übersetzerin der britischen Starautorin Zadie Smith. Und damit betrifft auch sie das Thema, das anhand der Übersetzungen der Dichterin Amanda Gorman neu aufgeflammt ist. Kann eine weiße Übersetzerin das Werk einer Schwarzen Autorin überhaupt ganzheitlich erfassen? Auch darüber hat Yvonne Franke mit Tanja Handels gesprochen. Ganz am Anfang des Gesprächs steht allerdings die Frage nach dem wichtigsten Werkzeug einer Übersetzerin, der Liebe zur Sprache. Das Honorar, erfahren wir später, kann jedenfalls nicht die vorrangige Motivation sein.

Woher kommt Ihre Liebe zur englischen Sprache?

Das war tatsächlich ein Fall von Liebe auf den ersten Blick, als ich in der 7. Klasse im Gymnasium – ich hatte damals mit Latein angefangen – meine ersten Englischstunden hatte. Von Anfang an war es meine Sprache, in und mit der ich mich auf Anhieb wohlgefühlt habe, die mir zuflog und von der ich immer mehr wissen, über die ich immer mehr lernen wollte. Das hat dann auch meine Studienwahl geprägt: Ich habe Anglistik im Hauptfach studiert und war, nach Sprachaufenthalten während der Schulzeit, dann auch eine ganze Zeit in Großbritannien. Und die Liebe hält bis heute unvermindert an! Das ist mir so mit keiner der anderen Sprachen passiert, die ich danach noch gelernt habe.

Kam es schon vor, dass die Idee für eine Übersetzungsarbeit nicht von einem Verlag kam, sondern von Ihnen selbst? Dass Sie etwas entdeckt haben, das Sie unbedingt übersetzen wollten?

Wenn man wie ich aus dem Englischen übersetzt, kommt so etwas nur selten vor; ich weiß von ein paar Fällen, aber mir ist es noch nie passiert. Der englischsprachige Markt ist extrem gut erschlossen, deshalb kamen bisher alle Bücher, die ich übersetzt habe, als Aufträge von den verschiedenen Verlagen zu mir. Es gibt aber durchaus glückliche Zusammentreffen: Zadie Smith zum Beispiel, von der ich inzwischen mehrere Bücher übersetzt habe, war immer schon eine meiner Lieblingsautorinnen, seit ich mit Mitte zwanzig, lange bevor ich selbst Übersetzerin war, ihren Debütroman +White Teeth (dt.: +Zähne zeigen ) gelesen habe. Ich hätte das nie zu hoffen gewagt – sie war ja übersetzerisch schon „vergeben“ –, aber dann kam sie durch eine Verkettung von Umständen doch noch zu mir.

Ist es sinnvoll eine feste Übersetzerin für eine bestimmte Autorin zu etablieren? oder kann es auch nützlich sein immer wieder jemand neues mit einem frischen Blick ranzulassen, damit sich nichts festfährt?

Normalerweise ist es gute Praxis, dass es Stammübersetzerinnen und -übersetzer für bestimmte Autorinnen und Autoren gibt, und ich finde das gerade bei Schreibenden, die noch leben, auch sehr sinnvoll: Man hat dann tatsächlich eine feste deutsche Stimme für eine konkrete Autorin. Das ist für das Lesepublikum angenehm, weil es den Ton der- oder desjenigen in der eigenen Sprache wiedererkennen kann, und es ist auch aus Übersetzer*innenperspektive von Vorteil: Ich kenne meine Autorin in ihrem Schreiben bereits, weiß um ihre Stärken und Schwächen, durchdringe ihre Themenkomplexe viel besser und entwickele mich mit und an ihr weiter. Und für die Autorin wiederum ist es beruhigend zu wissen, dass sie übersetzerisch in guten Händen ist – man lernt sich in solchen Konstellationen ja dann meistens auch irgendwann persönlich kennen und tritt in einen Dialog, der sich über die Jahre der Zusammenarbeit oft noch intensiviert.

Rechts im Bild Tanja Handels' Arbeitsplatz

2018 erhielten Sie ein Übersetzerstipendium des Freistaats Bayern. 6000€ für die Übersetzung einer Essaysammlung von Zadie Smith, die Ihnen auch Zeit für die nötige ausführliche Recherche verschaffen sollten. Werden literarische Übersetzungen so schlecht bezahlt, dass man für Gründlichkeit ein Stipendium braucht?

Literarisches Übersetzen ist kein Beruf, mit dem man reich wird, da kann man nicht drumrum reden. In den letzten Jahrzehnten gab es die ein oder andere Verbesserung, vor allem im Bereich der Umsatzbeteiligungen, und wenn man das Glück hat, viele und regelmäßige Aufträge zu bekommen, schafft man es durchaus, davon zu leben. Aber es ist und bleibt harte Arbeit, und in Hinblick auf die Honorierung wäre noch eine Menge Luft nach oben, sowohl, was Normseitenpreise, als auch, was Beteiligungen betrifft. Gründlich arbeiten wir natürlich trotzdem, immer, aber Arbeitsstipendien, wie sie der Freistaat Bayern alljährlich vergibt oder auch der Deutsche Übersetzerfonds, der eine sehr segensreiche Einrichtung ist, regelmäßig ausschreibt, verschaffen uns bei besonders anspruchsvollen und schwierigen Projekten einfach mehr Freiheit von ökonomischen Zwängen – und das steigert dann noch einmal sehr die Kreativität.

Sie und Zadie Smith sind sich einige Male begegnet. Verändert das etwas an Ihrer Arbeit an Smiths Werk?

Mir ist es immer wichtig, zumindest einmal die Stimme der Autorinnen und Autoren gehört zu haben, die ich übersetze, ihren Sprachrhythmus, ihre Betonung, solche Dinge. Das vertieft mein Verständnis für ihre Texte und für den Ton, den ich im Deutschen finden muss. Wenn ich sie dann, wie Zadie Smith, auch noch richtig kennenlernen, in einen Austausch über die Bücher, das Schreiben und Übersetzen und über zahllose andere Dinge mit ihnen treten darf, ist das sozusagen das Nonplusultra, das mir die Bücher tatsächlich noch einmal sehr viel näher bringt und dadurch auch die Arbeit beflügelt. Im persönlichen Gespräch ergeben sich oft noch einmal viele Hinter- und Beweggründe, die mir für spätere Werke der Autorin nützlich sind – und sehr oft auch persönliche Berührungspunkte. Natürlich geht es auch, wenn man sich nicht kennt. Aber für mich ist es einfach immer ein großes Geschenk, „meinen“ Autorinnen oder Autoren zu begegnen.

Muss man die eigene Sprachkreativität zügeln, um möglichst nah am Original zu bleiben oder nützt sie einem eher?

Ich glaube, sie nützt eher: Man braucht ja ein breit gefächertes Instrumentarium, sozusagen ein inneres Lexikon, um die oft sehr verschiedenen Schreib- und Erzählstile verschiedener Schreibender so ins Deutsche zu bringen, dass sie die gleiche Wirkung auf das deutsche Lesepublikum haben wie das Original auf das englischsprachige. Da ist meine eigene Sprachkreativität sehr gefragt. Aber ich muss sie natürlich zügeln – das Auschlaggebende ist immer das Original. Manchmal muss ich mich deshalb von probeweise hingeschriebenen Lieblingswörtern oder -formulierungen im nächsten Durchgang wieder trennen, weil sie zu diesem Text, diesem Buch, dieser Figur eben doch nicht passen.

Auf Ihrer Website gibt es die Rubrik „Laufende Projekte“. Dort sind 8 Titel gelistet,(darunter auch das aktuelle Werk von Bernardine Evaristo), die in diesem und im nächstem Jahr in Ihrer Übersetzung erscheinen werden. Wie geht das zeitlich? Das sieht auf den ersten Blick nach einer 7-Tage-Woche aus.

Ist es auch häufig – wobei ich das in den letzten Jahren nach Kräften zu vermeiden versuche. Trotzdem sind, wie bei vielen kreativen Berufen, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer fließend. Dass unter den „Laufenden Projekten“ aktuell so viele Titel stehen, liegt aber größtenteils an meiner Angewohnheit, meine Projekte dort zu lassen, bis sie tatsächlich erschienen sind. Von den acht Titeln stehen vier kurz vor dem Erscheinen oder sind zumindest schon im Lektorats- bzw. Druckfahnenstadium – durch die Pandemie haben sich letztes Jahr auch bei mir ein paar Erscheinungstermine von Übersetzungen verschoben, die längst fertig waren. Von den verbleibenden vieren ist eines das Projekt, an dem ich aktuell sitze, und die anderen drei verteilen sich über den Rest des Jahres. Das klingt doch schon gleich gar nicht mehr so wild, oder?

Haben Sie noch Zeit und Lust, sich in Ihrer Freizeit mit Literatur zu beschäftigen?

Lust auf jeden Fall, Zeit leider nicht immer – wenn neben dem aktuellen Projekt noch Druckfahnen oder lektorierte Manuskripte auf dem Tisch liegen, muss ich mitunter auch Abende und Wochenenden investieren. Aber Literatur ist meine Leidenschaft: Ich glaube, ich könnte ohne Lesen gar nicht existieren, bin immer noch wahnsinnig neugierig auf neue Geschichten und brauche auch den kreativen Input in beiden Sprachen, Englisch wie Deutsch. Letzteres vielleicht sogar noch mehr, um mein schon erwähntes inneres Lexikon aktiv zu halten und aufzufüllen. Ich muss also nebenbei noch sehr viel lesen – und möchte das auch.

Kürzlich wurde auf Twitter eine Passage aus Bernardine Evaristos "Mädchen, Frau etc." diskutiert in der Sie „tawny offspring“ mit „milchkaffeefarbene Sprösslinge“ übersetzt haben. Welche Rolle spielt Sprachsensibilität für sie als weiße Übersetzerin Schwarzer Autorinnen?

Die ist mir ungeheuer wichtig, und ich versuche, mich in diesem Bereich immer weiter zu sensibilisieren und dazuzulernen. Der Twitter-Diskussion liegt aber ein Missverständnis zugrunde: „tawny“ ist im Englischen längst nicht so neutral, wie es empfunden wurde. Aus Shakespeare-Stücken kennt man die Beschimpfung „tawny tartar“, und heute wird dieses Adjektiv vor allem als Farbangabe verwendet, wenn von Gegenständen oder Tieren die Rede ist. „Tawny offspring“ klingt im Original also durchaus abwertend, auch wenn der Sprecher es hier lustig meint. Und dieser Sprecher ist auch ausschlaggebend für die Wortwahl im Deutschen: ein junger Weißer, der Inbegriff jedes denkbaren weißen Privilegs, reich, charmant, mit einflussreichen Eltern, die ihm alle Wege geebnet haben, ohne dass er sich je anstrengen musste – jemand, der völlig gedankenlos Ausdrücke verwendet, bei denen man als engagierter, bewusster Mensch inzwischen schlucken muss, und sich dazu berechtigt fühlt. Und sein Umfeld, in dem Fall seine Schwarze Ehefrau, lässt ihm das gerade wegen dieser charmanten, unbedarften Art auch durchgehen. Man erkennt einen bestimmten Typus in ihm. Und diese Wirkung musste ich natürlich auch auf Deutsch nachbilden. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen Roman übersetze oder einen Sachtext: Im Roman muss ich immer schauen, in welcher Zeit spielt die Handlung, wer spricht da gerade, was hat diese Figur für Eigenschaften, wie alt ist sie, wie charakterisiert das Original sie – und auf dieser Grundlage dann meine Übersetzungsentscheidungen treffen.

Wie intensiv ist in solchen Fragen die Zusammenarbeit mit den Verlagen und dem Lektorat?

Die ist immer sehr intensiv, vor allem bei so entscheidenden Fragen. Es gibt auch zunehmend im Anschluss an das Lektorat noch Sensitivity Readings, bei denen Bücher auf bestimmte Trigger-Wörter und andere sensible Bereiche hin überprüft werden, immer unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes. Das gab es übrigens auch bei „Mädchen, Frau etc.“. Ich befürworte das sehr, weil es eine zusätzliche Sicherheit schafft; mein Anspruch an mich und meine Arbeit ist aber, so etwas in meinen Übersetzungen von vornherein zu berücksichtigen, natürlich auch da stets im Einklang mit dem Kontext und dem Original.