"Kriminalgeschichten folgen oft einer strengen Form. So wollte ich aber nicht schreiben."

Chris Whitakers Werdegang als Autor liest sich wie ein modernes Märchen. Eines, dessen Held den schwersten Weg wählt, weil er fühlt, dass es der richtige ist. Der einige Entbehrungen durchzustehen hat und letzten Endes fürstlich dafür belohnt wird. In Deutschland machte er zum ersten Mal von sich reden, als im letzten Jahr sein Roman +Von hier bis zum Anfang erschien, der zu der Zeit bereits mit einigen Preisen bedacht worden war. Nun endlich gibt es auch Whitakers Debüt +Was auf das Ende folgt in deutscher Übersetzung. Ein perfekter Anlass für ein Gespräch über das Glück, vom Geschichtenerzählen leben zu können und darüber, wie man einen Kriminalroman schreibt, von dessen Ausgang man sich nicht betrogen fühlt.

Yvonne Franke: +Was auf das Ende folgt ist Ende Juni in deutscher Übersetzung erschienen, aber eigentlich war es Ihr Debüt. Wie fühlt es sich an, wenn etwas, das man vor 6 Jahren geschrieben hat, noch einmal Aufmerksamkeit bekommt? Besonders nach dem großen internationalen Erfolg Ihres Romans +Von hier bis zum Anfang .

Chris Whitaker: Es fühlt sich merkwürdig an. An „Von hier bis zum Anfang“ habe ich zum ersten Mal vor etwa 20 Jahren gearbeitet und es nur damals nicht beendet. Zum Teil ist also auch dieser Roman so etwas wie mein Debüt. Mit „Was auf das Ende folgt“ habe ich es dann zum ersten Mal geschafft, mich hinzusetzen und ein ganzes Buch am Stück zu schreiben. Es wurde in den letzten Jahren auch in andere Sprachen übersetzt. Dadurch hatte ich immer mal wieder die Gelegenheit, in diese Zeit zurückzureisen und davon zu erzählen. Das liebe ich. Es hat mir Freude gemacht, dieses Buch zu schreiben und es wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen.

Sie haben eine Karriere als Finanztrader aufgegeben, um dieses Buch zu schreiben. Wie sicher konnten Sie sich damals sein, dass es sich verkaufen wird? Gab es bereits einen Verlag, der sich dafür interessierte? Wie mutig also war diese Entscheidung?

Es gab zu der Zeit noch keinen Verlag, der sich dafür interessierte, nein. Und, wenn ich damals gewusst hätte, wie gering die Chancen waren, je einen zu finden, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Es war ein extrem hohes Risiko, aber mir war plötzlich klar geworden, dass ich nicht glücklich bin. Ich wollte es unbedingt versuchen. Ich habe also einfach den Sprung gewagt und gehofft, dass es funktioniert. Finanziell wurde es schwierig, weil wir als Familie zunächst kein anderes Einkommen hatten. Und ich wusste ja auch gar nicht, wie man ein Buch schreibt. Ich hatte das nie gelernt, sondern nur angenommen, dass ich es kann. Es zog sich hin und ich musste drei Nebenjobs annehmen. Dadurch habe ich natürlich im Leben meiner Kinder einiges verpasst.

Wie sieht Ihr Tagesablauf heute aus? Auch im Schreiben haben Sie ja vielleicht inzwischen eine Routine entwickelt.

Man weiß natürlich nie, wie es am nächsten Tag läuft, ob etwas Brauchbares zustande kommt. Aber ich schreibe jeden Tag. Auch, wenn es am Ende nur ein kleiner Absatz wird. Es fühlt sich bis heute nicht wie ein Job an. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich davon lebe, Geschichten zu erzählen. Ich muss mich manchmal noch kneifen.
Es ist nie so, dass ich mich am Morgen hinsetze und genau weiß, was jetzt passieren muss. Deshalb schreibe ich nicht in der korrekten Reihenfolge. Wenn mir etwas Gutes einfällt, das gegen Ende des Buchs passieren soll, schreibe ich es auf. Auch wenn ich noch ganz am Anfang stehe. Von da an entwickelt sich das Schreiben ganz organisch.

Genau das habe ich mich gefragt, als ich „Was auf das Ende folgt“ gelesen habe. Die Struktur ist sehr komplex, es gibt viele Erzählstränge. Wie kann man sich den Schreibeprozess vorstellen, wenn man so viele Figuren und deren Geschichten im Griff behalten muss?

Es ist wirklich schwierig. Ich habe Teile der verschiedenen Handlungsstränge geschrieben, um dann herauszufinden, wie sie zusammenpassen. Ich habe mit Mannys Geschichte begonnen und dann ein bisschen was über Jess geschrieben. Dann habe ich mich gefragt, ob diese beiden Figuren überhaupt in ein Buch gehören. Kriminalgeschichten folgen oft einer strengen Form. So wollte ich aber nicht schreiben. Ich wollte ein Buch über eine Stadt schreiben. Auch wenn das Verbrechen, das dort geschieht, natürlich ausschlaggebend für die Handlung ist, wollte ich außerdem über ein Paar mit Beziehungsproblemen schreiben, einen Teenager, der sich zum ersten Mal verliebt und jemanden in einer Identitätskrise. Angesichts einer schrecklichen Tragödie sollten sich all diese Schicksale dann miteinander verbinden. Tall Oaks ist eine wunderschöne idyllische Kleinstadt und dann passiert dort diese furchtbare Sache. In die verschiedenen Geschichten dieser Menschen steigen wir drei Monate danach ein, als sie gerade beginnen, in die Normalität zurückzukehren. Darüber wollte ich die Auswirkungen eines Verbrechens erzählen.

Das hat sehr gut funktioniert, finde ich.

Danke, es war ein Risiko, diese ungewöhnliche Struktur zu wählen.

Manchmal dachte ich kurz, die eine oder andere Auflösung wäre zu überraschend oder zu spektakulär, aber dann habe ich letztlich gemerkt: das war schon angelegt, ich hätte darauf kommen können.

Ja, es war mir sehr wichtig, dass man zurückblättern kann und sich alles belegen lässt. Dass nichts grundlos passiert. Auch die Verbindung zwischen den Leben dieser Charaktere sollte am Ende Sinn ergeben. Und das Lesen, diese ganze gedankliche Reise, die man dabei unternimmt, sollte schließlich belohnt werden.

Sind Sie besonders kritisch, wenn Sie selbst einen Krimi oder Thriller lesen?

Ganz im Gegenteil. Ich errate nie, wer der Täter ist und mir gefällt so gut wie jedes Buch, das ich lese. Vielleicht, weil ich weiß, wie schwer es ist, sich hinzusetzen und auf eine leeres Blatt Papier zu starren und sich dann von A nach B vorzuarbeiten. Und egal, was ich lese, irgendwas lerne ich immer dabei. Außerdem bin ich immer dankbar, wenn ich mal Zeit zum Lesen habe. Wir haben drei Kinder. Meine Tochter ist gerade zwei Jahre alt. Mich einfach hinsetzen zu können und ganz in Ruhe ein Buch zu lesen, ist der reine Luxus. Aber ich verstehe natürlich, dass es bei Krimis vorkommen kann, dass man sich am Ende betrogen fühlt.

Haben Sie es sich leichter oder schwerer gemacht, damit, dass „Was auf das Ende folgt“ und „Von hier bis zum Anfang“ in den USA spielen, obwohl Sie Brite sind?Mehr Recherche aber auch mehr Möglichkeiten?

Beides. Mir war vorher nicht klar, wie schwierig es werden würde. Schließlich sprechen wir die gleiche Sprache. Aber es ist wie ein anderes Universum – und trotzdem darf man auch die ganz kleinen Unterschiede nicht außer Acht lassen. Es gibt einige Worte, die sich minimal unterscheiden. In England nennt man die Windschutzscheibe zum Beispiel windscreen und in den USA sagt man windshield. Das ist nicht egal. Wenn einem beim Lesen so ein Fehler auffällt, verliert die ganze Geschichte an Glaubwürdigkeit.

Dazu kam, dass ich nur zwei Mal selbst in den USA war und zuletzt mit 21, also vor langer Zeit. Die Recherchen waren endlos. Ich habe Karten und Reiseführer studiert, Romane gelesen, die dort spielen und auch Sachbücher. Ich habe zu der Zeit in einer Bibliothek gearbeitet, das hat natürlich geholfen.

Aber andererseits hatte ich bereits versucht, ein Buch zu schreiben, das in Großbritannien spielt und das konnte ich nicht. Ich weiß nicht, ob es an meiner Vorstellungskraft liegt oder, ob es eine Art Flucht für mich ist. Ich brauche einfach eine völlig fremde Umgebung für meine Geschichten.

Glauben Sie, dass es zum internationalen Erfolg der Romane beigetragen hat, dass sie in den USA spielen?

Ja, insbesondere zum Erfolg in den USA selbst. Als britischer Autor hat man es normalerweise schwer, dort eine größere Leserschaft zu erreichen. Es ist durchaus üblich, dass britische Stoffe, auf amerikanische Verhältnisse übertragen werden und erst dann Erfolg haben. Ich glaube aber, dass Amerikaner mit meinen Büchern besonders kritisch umgehen und nach Fehlern suchen. Ich bin auch kritisch, wenn jemand aus den USA ein Buch schreibt, das in London spielt. Wenn man mir also sagt, ich kann nicht glauben, dass du kein Amerikaner bist, ist das ein großes Kompliment für mich.

Haben Sie amerikanische Vorbilder in der Spannungs-Literatur?

Stephen King hat in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt. Ich durfte seine Bücher nicht lesen. Mein Dad hatte alles, was er von King besaß, und das war einiges, ganz nach oben ins Regal gestellt, damit ich nicht herankam. Als er nicht da war, habe ich mir +Es geschnappt. Da war ich 11. Es war furchteinflößend. Stephen King ist der Meister der Charakterstudien.

Als ich älter wurde, habe ich dann einiges von John Grisham gelesen. Er macht es einem so leicht. Man hat immer schon das halbe Buch gelesen, wenn man das erste Mal aufblickt. Und dann +Die Straße von Cormac McCarthy. Ich liebe dieses Buch. Also ja, es gibt einige Vorbilder.

Vielleicht ist ein Teil meiner letzten Frage damit schon beantwortet. Mal sehen. Ich möchte Sie um zwei Buchempfehlungen bitten. Zum einen das letzte Buch, das Sie besonders gefesselt hat und Ihr liebster Kriminalroman aller Zeiten.

Da passt +Die Straße nicht ins Genre, was würden Sie sagen?

Nicht ganz, fürchte ich.

Dann vielleicht +The Last Child von John Hart, das meine Inspiration war, den Job zu kündigen und selbst Autor zu werden. Und das letzte Buch, das mich wirklich umgehauen hat, war +Alles Licht, das wir nicht sehen von Anthony Doerr. Das habe ich erst neulich gelesen und ich liebe es.

Ok! Vielen, lieben Dank für das Gespräch.

Das war schön. Als würde man einfach mit einer Freundin über Bücher sprechen.

So ging es mir auch.