Lyrik leben – Gespräche und Beobachtungen über Poesie von Dinçer Güçyeter

In der ersten Ausgabe unserer neuen Lyrik-Reihe spricht Dinçer Güçyeter, Kopf und Herz des ELIF Verlags und Peter-Huchel-Preisträger 2022, mit der Lyrikerin und Performerin Martina Hefter. In einem sehr persönlichen Austausch bringen sie Leichtigkeit in die Betrachtung von Lyrik, der in der Außenwahrnehmung noch immer so viel Schweres anhaftet. Schnell wird das literarische Waisenkind zur Königin.

Liebe Martina, wir haben uns zuletzt in Leipzig in einer Kneipe getroffen. Ich sah, wie du von jungen Menschen sehr geschätzt wirst. Sowas passiert nicht von allein. Ich höre und lese ja auch immer wieder von dir, dass dieses Zusammenkommen für dich eine grosse Bedeutung hat, kannst du uns mehr dazu erzählen?

Lieber Dinçer, ja, ich erinnere mich an den Abend, leider habe ich eure Lesungen verpasst. Aber das Zusammensitzen danach war auch inspirierend und schön, wir haben viel über Literatur gesprochen, weißt du noch? Später, da warst du schon gegangen, haben wir noch ein Spiel gespielt: Peter (der auch gelesen hat), teilte Karten aus, auf die er ganz phantastische Kürzest-Texte geschrieben hatte, absonderliche, abenteuerliche, auch witzige Bilder, und wir sollten diese Texte dann spielen. Sowas geht natürlich am besten nach ein paar Bier :-) und natürlich sind solche Spiele an sich nichts Neues, die macht man auch auf Parties oder so - aber ich finde dieses Spiel ein gutes Bild dafür, was ich bei den jüngeren Autor*innen schätze, die ich kenne: Sie gehen ohne Dünkel an Literatur ran, sie mögen Gemeinschaft und auch Spaß, ohne die Ernsthaftigkeit und sich selbst aus dem Blick zu verlieren. Ich habe letztes Jahr am DLL und auch in Halle an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein unterrichtet (dort ein Performance-Seminar, bei dem auch mit Texten gearbeitet wurde). Im Vergleich zu meiner Studienzeit hatte ich den Eindruck, die Studierenden gehen liebevoller miteinander um als wir das früher taten. Obwohl sie keineswegs alles immer nur gegenseitig gut fanden. Aber es war ein tieferes Verständnis spürbar für die Person, die hinter dem Text steht. Das klingt jetzt so esoterisch, ist aber tatsächlich für mich wichtig: dass man den Menschen hinter dem Text nicht vergisst - wohin er will, wo er gerade steht und so. Allerdings kann ich nur für meine Seminare sprechen und mag das Ganze auch nicht idealisieren. Jedenfalls ist das für mich ein Klima, in dem Kunst einfach gut gedeihen kann.

Auch in deinem letzten Band +In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen arbeitest du mit unterschiedlichen Disziplinen, neben der Lyrikerin zeigt auch die Performancekünstlerin Martina Hefter einen großen Einsatz. Diese Kooperationen in einer Person schenken Leser*innen viele Überraschungen, die Texte sind immer in Bewegung. Wie weit will Martina Hefter noch gehen, welche Grenzen will sie überschreiten, gibt es in der Literatur überhaupt Grenzen?

Ob es Grenzen gibt in der Literatur - ich glaube, das muss jede*r für sich beantworten - oder eher, wo diese Grenzen liegen. Es gibt ja auch Leute, die wollen einfach nur Gedichte schreiben und sonst nichts, für die spielt das Arbeiten in mehreren Gattungen gar keine Rolle, und ich finde das absolut ok. Man darf dieses Crossover-Arbeiten nicht jetzt plötzlich allen abverlangen, nur weil es gerade ein bisschen öfter gemacht wird. Es darf kein Mode-Ding draus werden, und alle, die dem nicht nachkommen können oder wollen, gelten dann als unmodern, das fände ich gefährlich. Für mich selbst sieht es natürlich anders aus, ich probiere gern alles Mögliche aus. Im letzten Jahr habe ich angefangen, mich mit Hörspiel zu beschäftigen, außerdem arbeite ich jetzt mit zwei Musikern an der Umsetzung eines Textes aus meinem letzten Buch. Da stehen wir dann zu dritt auf der Bühne und es gibt Live-Musik. Mit John Sauter, mit dem du ja auch gelesen hast in Leipzig, habe ich denselben Text auch schon als Hörspiel aufgenommen, richtig spannende Sache. Beides sind ganz neue Gebiete für mich, wo ich noch viel lernen muss, aber genau das ist das Tolle, das Lernen voneinander. Na und so geht es immer weiter, ich habe viele Ideen und Pläne, z.B. würde ich wahnsinnig gern mal einen Dokumentarfilm drehen und eine Radiosendung machen. Aber - Stichwort Grenzen - ich will mich auch nicht verzetteln. Man muss schon realistisch bleiben und sehen, was ist sinnvoll, was nicht.

Du arbeitest auch am Theater, leitest unterschiedliche Projekte. Die Mehrheit kennt dich aber mehr als Lyrikerin. Was haben all diese Projekte gemeinsam? Die Kreativität in verschiedenen Kunstsparten ist dir sehr wichtig, kann man diese kreativen Oasen bei dir auch als Fluchtgebiete sehen? Gewinnst du in diesen Orten neue Motive für deine Schreibprojekte?

Das mit den Fluchtgebieten finde ich einen super interessanten Gedanken. Es ist tatsächlich so, dass ich weder die darstellende Arbeit noch das Schreiben machen könnte, ohne immer wieder ins andere Gebiet zurückzukehren. Ich könnte nie einfach nur zu Hause sitzen und schreiben, ich könnte aber auch nie nur immer für Auftritte, für die Bühne arbeiten. Meine Motive entstehen aber eher beim Spazierengehen oder eben im Alltag, in der Straßenbahn oder so. Das ist ein längerer Prozess, manchmal ist es nur ein unscharfer Gedanke, der dann über die Zeit Kontur gewinnt. Was aber für beide Bereiche gilt: Ich kann nur in meinen Arbeiten, bzw. nur im Arbeiten die Person sein, die ich - eigentlich - wirklich bin. Ich habe immer das Gefühl, die “echte” Martina Hefter ist eigentlich die, die in den Performances was sagt, und sie ist auch die Instanz, die die Texte schreibt. Im Alltag, oder außerhalb des Schreibens und Darstellens, das bin irgendwie nicht so wirklich ich, oder sagen wir eher, ich fühle mich da nicht so präsent und wirklich. So richtig “richtig” fühle ich mich nur, wenn ich - wie soll ich es sagen - in diesem Bereich außerhalb der Realität bin.

2 jpeg Als ich meine Séancen hielt mit der Tanne vorm Balkon ‒ ich weiß, ich bin zu emotional, was große Unruhe in die Sterne bläst ‒, sagte die Tanne, geh rein, schlaf, ich zeig dir jetzt nichts vom kommenden Jahr. Jahr in-2

Was ist dein aktuellstes Projekt?

Wie schon erwähnt, arbeite ich an der Umsetzung eines Textes aus meinem aktuellen Gedichtband in eine Art Musikshow. Zusammen mit zwei ganz tollen Musikern, die auch ein bisschen Darsteller sind. Und dann arbeite ich noch an einer Performance für die Kammerspiele München, wo ich auch mit Audios arbeite. Ich mache Sprachaufnahmen, für die es aber keine niedergeschriebene Textvorlage gibt. Das habe ich schon im Rahmen eines Performance-Projekts für die Residenz des Schauspiel Leipzig gemacht. Da geht es um Berufe (das Thema kommt dir ja sicher bekannt vor, hihi).

Lyrik wird seit Jahren in der Branche als das Waisenkind gesehen. Ist es nur ein Vorurteil der Branche oder haben wir als Lyriker*innen auch zu dieser Sichtweise beigetragen?

Ist ein Begriff wie “Lyrikszene“ richtig? Wenn ja, ist diese Szene immer noch eine geschlossene Gesellschaft?

Lyrik wird immer noch häufig als kompliziert und schwer angesehen, vielleicht auch, weil Gedichte uns in der Schule immer so präsentiert wurden (und leider oft immer noch werden). Das hat etwas mit einem sehr deutschen oder westlichen Bild vom Dichter/Schriftsteller zu tun, der Dichter (hier absichtlich nicht gegendert) sagt wichtige, ernste Sachen und so - was ja generell nicht verkehrt sein muss. Es gibt natürlich Schreibweisen, wo ich sagen würde, die teilen sich wirklich kaum noch jemandem mit. Ich habe aber den Eindruck, das passiert nicht aus Verstiegenheit oder so. In der Lyrik ist mehr Raum, sich formal auszuprobieren als in der Prosa, vor allem im Roman, wo es ja auch schnell um marktwirtschaftliche Verwertbarkeit geht, die das Ausprobieren von Formen eher verhindert. Andererseits glaube ich, dass auch das verrückteste, abwegigst geschriebene Gedicht sich mitteilt, wenn es seine Mittel bewusst wählt, wenn es mit Feuer und handwerklichem Interesse geschrieben wurde. Manchmal merkt man Gedichten auch an, dass da eine Angst dahinter steht, banal oder einfach zu wirken. Von daher würde ich das niemandem zum Vorwurf machen wollen, aber es gab schon Zeiten, als die “Lyrikszene” - auch unbewusst - eigentlich nur noch für den eigenen Kreis geschrieben hat. Die Lyrikszene, das war noch bis vor ein paar Jahren eine recht überschaubare Gruppe aus Autor*innen, Kritiker*innen, Veranstalter*innen. Man kann durchaus darüber reden, wie die Diskurshoheit da so verlief - nämlich längst nicht immer ideal. Die üblichen gesellschaftlichen Ausschlussverfahren galten auch hier. Aber sie öffnet sich zum Glück mehr und mehr, bzw, wird geöffnet. Trotzdem gilt auch weiterhin: keine sogenannte Szene in welcher Kunst auch immer ist wirklich ideal. Wir leben in einer neoliberalen, marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaft. Man muss immer dagegen arbeiten, also die Mechanismen und Wirkkräfte innerhalb der Lyrikszene zum Beispiel im Blick behalten und sie wenn nötig auch diskutieren.

“Mir ist egal, was andere über mich denken, das muss mir auch egal sein, denn es würde mich verrückt und auch traurig machen … “, das sind deine Worte, wie unabhängig kann man im Literaturbetrieb sein? Dazu braucht man wieder eine andere Stärke, eine andere Kraft, was ist bei dir die Quelle?

Das ist ein Zitat aus einer Antwort auf eine Frage nach den Regeln und Mechanismen des Literaturbetriebs, ganz grob umrissen. Also das “egal” ist nicht auf meine Texte bezogen, wie und für wen ich sie schreibe. Da ist mir gar nichts egal. Egal ist mir aber tatsächlich, wo ich als Person, als Autorin, in diesem Betrieb stehe.

Siehe die letzte Antwort - ganz frei und unabhängig ist man in diesem Betrieb natürlich nie. Und ich weiß, dass ich im Moment zumindest auch von einem privilegierten Standpunkt aus spreche, denn ich bekam und bekomme viel Zuspruch und Aufmerksamkeit für meine letzten Bücher. Aber dennoch, auch ich spüre weiterhin bestimmte Barrieren. Ich sehe, dass ich in diesem Betrieb eine bestimmte Rolle zugewiesen bekomme, innerhalb der ich und meine Texte akzeptiert werden, aber aus der ich bitte nicht raus darf. Dagegen will ich angehen, indem ich diese von außen gesetzte Rolle einfach ignoriere. Ich glaube, eben genau dieses Ignorieren ist die Kraftquelle selbst - einfach, weil es mir keine Energie raubt, die ich aufbringen müsste, wenn ich mich dauernd darum kümmere, eine Rolle zu erfüllen oder sie gerade zu rücken.

Dein Weg als Autorin hat in der Öffentlichkeit mit drei Romanen angefangen, die letzten vier Bände sind unter dem Genre Lyrik erschienen. Wie geht es weiter? Was hat Martina Hefter gerade auf ihrem Schreibtisch liegen?

Gerade arbeite ich an einem Roman und an einer Verserzählung. Da sie gemeinsame Motive und Inhalte haben, schreibe ich sie parallel und möchte sie gern auch parallel veröffentlichen, so als Konzept. Ich komme aber nur langsam voran, weil die Performance-Sachen gerade sehr viel Raum einnehmen.

Aktuelles Thema: Wird nach deiner Meinung der Literaturbetrieb immer noch von Männern dominiert? Wenn ja, was müsste sich bald ändern?

Das sehe ich gar nicht mehr, tatsächlich. Ich habe den Eindruck, es sind sehr viele Frauen präsent, zumindest, was die Autor*innen-, die Literaturkritik- und die Veranstaltungsmacher*innenseite betrifft. Auch die Redaktionen der jüngeren Literaturzeitschriften wie EDIT oder BELLA triste sind seit langem überwiegend mit Frauen bzw. sich als weiblich lesenden Menschen besetzt. Vielleicht ist es in den Verlagen noch ein bisschen anders, das kann ich gerade nicht so beurteilen. Oder ich habe nicht den richtigen Durchblick.

Kannst du uns junge Lyriker*innen nennen, deren Werdegang du interessant findest und die wir unbedingt im Auge behalten sollen?

Mein Wort ist ja nicht allgemein verbindlich. Ich finde, wir sollten alle im Auge behalten, die uns so begegnen und vorher - viel wichtiger - sollten wir viel dafür tun, dass sie uns begegnen. Vielleicht so viel: In meinem ehemaligen Lyrikseminar, das jetzt das Kollektiv “Nach den Diskotheken” ist, wird man unbedingt fündig. Und in der aktuellen Tippgemeinschaft-Ausgabe (das ist die Jahresanthologie des DLL) habe ich auch viel Tolles gelesen.

Ich schulde dir ein Mountainbike mit Diamanten, aber zuerst muss ich mit dem Geld, das ich mit Lyrik verdiene, meine Yacht abbezahlen:) Versprochen ist Versprochen! Was steht noch auf der Liste, liebe Martina?

Haha, sehr gut! Also, auf der Liste steht auf jeden Fall dein nächstes Buch, unbedingt! Das will ich mit Gold auf den Seiten (also du weißt schon, wenn man seitlich aufs geschlossene Buch schaut, sind die Seiten gold). Außerdem hast du mir versprochen, dass ich bei dir und deiner Familie mal diese Suppe bekomme. Ich hab den Namen vergessen, es sind mindestens 50 Zutaten drin, Nüsse, Früchte usw., und die Zubereitung dauert glaub ich einen ganzen Tag. Ein Foto davon hast du mal bei Facebook gepostet und ich hab dich bei unserer Lesung in Köln danach gefragt. Ich muss diese Suppe unbedingt mal probieren. Ich rechne fest damit.

Natürlich darf in einem Gespräch mit Dinçer Kitsch nicht fehlen, wenn man diese Reise im Leben als einen Traum sieht, welche Träume fehlen uns gerade?

Vielleicht genau die Träume, die wir uns deswegen so gern verbieten wollen: Weil wir sie selber als kitschig empfinden. Träume, worin all das wahr wird, wo man in der Realität immer gleich sagen würde: Come on, träum doch nicht sowas. Wo man in der Realität gleich sagen würde: Wach auf. Oder auch: Träum gar nicht erst davon. Träume, in denen niemand zu dir sagt: hör endlich auf zu träumen. Träume, in denen alle zu dir sagen: So geil, was du da träumst, und dass du überhaupt träumst.

Liebe Martina, ich danke dir für das Gespräch!

Gern, und ich danke dir auch sehr, lieber Dinçer!

+Die Küsten der Berge

Martina Hefter hebt Zeit und Raum im Erzählen auf, in einer sinnlichen Sprache, die die Erdenschwere ins Schweben bringt. Sie erzählt mit spielerischer Kraft und Beweglichkeit, umkreist ihre Gegenstände, kehrt zum Ausgangspunkt zurück - eine Feier des Unterwegsseins. Nach einer langen Bahnfahrt trifft die Familie mit zwei kleinen Kindern in Leipzig ein, zurück von ihrem Urlaub auf der Ostseeinsel Rügen. So ganz zu Hause angekommen sind jedoch zumindest die Eltern mit ihren unterschiedlichen Herkunftsorten nicht. Ob aus dem Osten oder aus dem Westen stammend: Leipzig bleibt für beide ein unwirklicher Ort. Abschiednehmen, Unterwegssein, Ankommen - Martina Hefter wirft ihr Erzählnetz weit aus. Szenen aus den Urlaubstagen werden erinnert, der Vormittag etwa, als die Kinder plötzlich in der Nähe der Steilhänge am Meer verschwunden sind und die Suche nach ihnen sich zu Stunden zu dehnen scheint; ebenso scheinen Bilder aus einer westdeutschen Kindheit auf: das lange zurückliegende Ausreißen aus dem kleinen Heimatort in den deutschen Alpen, die Flucht über die österreichische Grenze in Richtung Italien. Da ist auch der schwarze Mann, der während der Olympischen Spiele in München mit einem Maschinengewehr auf einem Balkon steht und etwas vorhat, von dem die Eltern sagen, Kinder könnten es nicht verstehen. Und immer ist die Abwesenheit jener Freundin spürbar, mit der die Protagonistin des Romans Kindheit und Jugend teilte und die kurz nach der Wiedervereinigung auch einige Wochen auf Rügen verbrachte - aber von diesem Aufenthalt nie zurückgekehrt zu sein scheint.

+Zurück auf Los

Der Roman handelt in zwölf Kapiteln von der "Nacht, in der Raimund fortgehen wird", und erzählt wird er von der verlassenen Frau. Aber ebensogut könnte man sagen, daß die Erzählerin Raimund verlassen hat: Genau genommen ist sie aufgebrochen, um in dieser Nacht an der Rezeption eines von ihrer Mutter geführten Hotels auszuhelfen. Von dort sieht sie durch die Dunkelheit auf der anderen Seite des Tals ihr erleuchtetes Haus, in dem, wie sie weiß, gepackt wird. Martina Hefter wirft Erinnerungsnetze aus, tastet sich an den Weltfasern entlang, verknüpft sie zu einem "Nachtnylon", das "sich selbst jeden Tag neu an die Beschenkten verteilt, an uns, an die in der Nacht Wachen, so hängen wir alle zusammen, im Gewebe des Satzes, im Satznylon, das sich hebt und senkt, bei jeder Bewegung von innen." Lang zurückliegende Zeiten und weit voneinander entfernte Orte können so im Erzählen zusammengebracht werden, Geschichten wie die von der Frau, deren Mann spurlos nach Toronto verschwand, von der Fernsehserie "Die Waltons", von Heike aus Crimmitschau, vom mecklenburgischen Quasow, woher die Familie eigentlich stammt, und vom KdF-Urlaub der Großmutter 1937, dessen Folgen das Familienschicksal zumindest für zwei Generationen in die Alpen verlagert haben. Und natürlich mischen sich ins Erzählen immer wieder Erinnerungen an Raimund, an die gemeinsame Lieblingsanekdote vom zögerlichen Eiskäufer beispielsweise, in dem sie, die zum Leben Unentschlossenen, sich selbst betrauern, oder an das Spiel, Etiketten zu erfinden, um sie an alle möglichen Gegenstände zu heften.

+In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen

Martina Hefters Buch In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen schillert zwischen Gedicht, Essay und szenischen Schreibformen. Wie schon in "Es könnte auch schön werden", ihrer dichten Auseinandersetzung mit Pflegearbeit, sind die Texte im neuen Band so radikal persönlich, wie sie fiktional sind. Im titelgebenden Essay in Versen "In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen" schläft eine Mutter im übriggebliebenen, klapprigen Bett eines erwachsenen Kindes. Auf der Suche nach einem neuen Bett denkt sie über Holzwirtschaft und Möbelproduktion, über westlichen Lebensstandard und Askese nach. Welcher Preis ist für ein neues Bett zu zahlen? Ist es möglich, auf dem Fußboden zu schlafen? Kann Askese ein taugliches, gegenwärtiges Mittel sein, nachhaltig und ressourcenschonend, "gut" zu leben? Im Mittelpunkt der Sage "Flammen" steht Artemis Cynthia Moll, die seit ihrer frühen Jugend in einem Baumhaus im Wald lebt, Falken hält, Bogen schießt und das Wesen der Liebe erkunden will. In den Wald sind Klimaflüchtlinge aus Leipzig gezogen, die versuchen, ihre naiv-utopischen Vorstellungen von Gesellschaft zu verwirklichen - und vielleicht grandios scheitern. "Flammen" fragt zudem, inwieweit die Mythengestalt Artemis heute zum weiblichen Role-Model taugt, befragt das emanzipatorische Potenzial ihrer Attribute Fitness und Sportlichkeit, Kampfkunst, Falknerei und Asexualität. Im langen Gedichtmonolog "Linn Meier (+2019)" spricht diese über ihre Zeit als magersüchtige Jugendliche und die Erfahrung sexueller Gewalt. Passagen der Reflexion über Fehlernährung und Hunger und des poetischen Sprechens, die die euphorischen Momente des Hungers widerspiegeln, stehen Passagen von großer Direktheit und Wut über das Erlebte gegenüber. "Geistern" schließlich sind Gedichte, die Geister auferstehen lassen.

+Es könnte auch schön werden

Wie ist das, wenn die lieben Verwandten krank und schwach in mein Leben treten? Was passiert, wenn man allein in einem Pflegeheimzimmer stirbt? Wie und wo will ich selbst sterben? Werde ich überhaupt alt werden? Werde ich wirklich sterben? Und was ist mit dem Teufel, ist er verantwortlich? Worin besteht das Böse, das er angeblich verkörpert? Ausgehend von einer realen Situation, nämlich der Unterbringung eines schwer kranken Familienmitglieds in einem städtischen Altenpflegeheim in Leipzig, versammelt "Es könnte auch schön werden" unterschiedliche Texte zur Frage, wie man dem Alter beikommt und wie dem Tod. Jeweils auf ihre Weise versuchen sie Annäherungen an die allgegenwärtige Frage, wie man nicht nur als Individuum, sondern auch als Gesellschaft mit Alter und Tod umgeht. Szenische bzw. auf einem Konzept von Mündlichkeit basierende Texte und Gedichte stehen als einander ergänzende Möglichkeiten sprachlicher Annäherung nebeneinander. Der titelgebende Text "Es könnte auch schön werden" ist das Script zu einem Tanz-Sprechstück, das in Teilen auch von mir selbst umgesetzt werden wird, während "Brief" als ein poetologischer Kommentar in Versform das Script ergänzt. Das Gedichte-Kapitel "Ich erzähls euch, meinen Freunden" ist das Gegenstück zum Script. "Halbtotengespräche" schließlich ist eine momentan Fragment gebliebene dramatische Dichtung, und in "Materialien" sind Take-outs, Texte aus frühen Fassungen und zusätzliche Arbeiten zum Thema versammelt.

+Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch

Ein Handbuch vom Gehen und Stehen in Gedichtform? Ja! Martina Hefters neue Gedichte balancieren leichtfüßig zwischen Gewichten und Aufstieben und entfalten wie nebenbei ein fein choreografiertes "Movarium" beinahe alltäglicher Bewegungen und Gesten. Ist etwa Sitzen eine typische Haltung des Denkens? Oder doch lieber liegen, nein hüpfen und springen? Wie ändert Bewegung mein Reden? Martina Hefters Texte erkunden die Wechselspiele zwischen Körperhaltungen, Denken und Sprechen, ob beim "Schnürsenkel binden auf der Straße", "humpeln, simuliert auf dem Fußballfeld", "tanzen auf einer Party inmitten von anderen Gästen, die man nicht kennt" oder "die Hand ausstrecken bei einer Begrüßung, während der andere die Arme ausbreitet". Aus absichtsvollem Missverstehen und verfremdender Imitation gewinnen "Stille Post"-Variationen neuen Sinn, und Miniaturtexte, die auch als Anleitungen taugen, stiften an, Bewegungen - wie "Vergröbern Verkörpern" oder "Loope super zurück" - selbst auszuprobieren. Über die Buchform hinaus entwickelt Martina Hefter auch fortwährend Übertragungen ihrer Texte in Lecture Performances, die Gedichte und Bewegungen/Tanz zu neuen Formen verschmelzen.