Die Welt in Büchern erkunden: Island

„Die Isländer sind wunderbar gebildete Menschen. Unser neuer Freund sagte uns, er glaube nicht, dass es auf der Insel auch nur einen Mann oder eine Frau gebe, die nicht lesen oder schreiben könne, und tatsächlich sahen wir in jedem Bauernhaus, in das wir kamen, eine Lutherbibel und viele alte >Sagas< der einheimischen Dichter, daneben Übersetzungen der Werke von Shakespeare, Goethe, John Stuarts Mills´ Politische Ökonomie sowie andere bekannte Bücher.“

130 Jahre nach der englischen Reiseschriftstellerin Ethel Tweedie, die diese Zeilen schrieb, besuchte ich selbst die Heimat der Eddas. Ich erlebte auf einer stillgelegten Marineluftwaffenbasis ein grandioses Musikfestival, Sonnenunter- und Aufgänge im Minutentakt - und staunte: über die sphärische Stimmung, die Plingpling-Rufe der Rotdrossel, die wilden, salzigen Winde, blauviolette Lupinen-Teppiche und das Hellgrün des isländischen Mooses. Das Meer, die Oper, die große Kirche, die bunten kleinen Häuser Reykjavíks und die vielen Schwimmbäder. Ich stellte das Schlafen ein, lief umher, badete und tanzte. Traf Isländer und lernte, dass sich hier jeder ständig neu erfindet, Kunst und dann Fischereiwesen studiert, musiziert oder Filme dreht. Eine Bademeisterin nebenbei Islandpullis strickt oder ein Tonstudio in Fischtanks betreibt – dass Isländer sich nicht unterkriegen lassen von Finanzkrisen und Vulkanausbrüchen, alle irgendwie miteinander verwandt sind, sich duzen und beim Vornamen nennen. Kurzbeinige Schafe und Pferde züchten. Trinkfest sind und heftig riechende Fischprodukte verzehren. Elfen für wahrscheinlich halten.

Wie die verheerende Grippewelle von 1918 die Einwohner Islands plagte, hatte ich in Sjón (Dichter und einstiger Songschreibers Björks) Roman +Der Junge, den es nicht gab gelesen und war beeindruckt vom Überlebenswillen der Insulaner. Und die Elfen? Das kleine Taschenbuch +Neues von der Elfenfront des Berliner Künstlers Wolfgang Müller (welcher das dortige Goethe-Institut nach seiner Schließung einfach neugründete) hatte ich bei mir und fragte einen Isländer nach der Elfenbeauftragten, er bestätigte mir lachend, dass diese eine deutsche Erfindung sei. (Inzwischen hat sich mit mäßigem Erfolg sogar eine deutsche Elfenbeauftrage bemüht, mysteriöse Autobahnunfälle aufzuklären.)

Ich suchte in Reykjavík die Bahnstation, an der Jón Gnarr als Halbwüchsiger herumgelungert hatte, Passanten, die ich fragte, wiesen mir irritiert ein unspektakuläres Wartehäuschen. Der Komiker, Punk und Anarchist war gerade ein paar Jahre Bürgermeister der isländischen Hauptstadt gewesen, kurz vor meiner Reise hatte ich seinen Roman +Indianer und Pirat über seine traurig-schrille Kindheit gelesen und mochte seine kindlich aufmüpfige Haltung sehr.

Am letzten Tag vor dem Rückflug lag ich im heißen Pool am Strand von Reykjavík, lauschte dem schönen Sprachklang der Isländer um mich herum (selbst Geschäftsgespräche werden dort ausgemacht) und sah bewundernd einer Gruppe Frauen zu, die zum Schwimmen in den Atlantik stiegen und ihre Bahnen zogen. Ich hatte nur ein mäßiges Eintauchen in das sechs Grad kalte Wasser geschafft. Gleich hinter dem Strandbad liegt übrigens der kleine Wald Öskjuhlíð am futuristischen Heizwerk und straft den Witz lügen: „Wie findet ein verirrter Isländer wieder aus dem Wald? Er muss nur aufstehen.“ Beim Abschied war ich tieftraurig, so schwer war mir das Scheiden noch nie gefallen. Die Busreise von der Hauptstadt zum Flughafen führte noch einmal an einem Vulkan, der Blauen Lagune, braungelben, moosgrünen und lupinblauen Feldern vorbei, an Steintürmchen und einer ausgebrannten Hausruine, die mich an das Ende des bitterbösen Romans von Eiríkur Örn Norðdahl denken ließ, der seinen Nazi-Antihelden brandschatzend zum Flughafen jagt. Aber in +Böse gibt es auch diese Zeile, dachte ich versöhnt: „Im Talmud steht geschrieben: Du siehst die Welt nicht so, wie sie ist. Du siehst die Welt so, wie du bist.“

Zurück zu Hause las ich weiter. Sah die Isländer als ein durch Hungersnöte und Fehden immer wieder reduziertes Volk auf der Bruchkante zweier Kontinente. Wie es von Norwegen und Dänemark erobert und beherrscht wird, unter Seuchen und Vulkanausbrüchen leidet. Eindringlich beschreibt Halldór Laxness in +Sein eigener Herr das Leben der Bauern, doch ich sträube mich bei seinen Romanen, die Frauen keine Chance lassen und in der Sturheit männlicher Familienoberhäupter schwelgen, die meist ins kollektive Verderben führt. Auch die bittere Armut der Bauern in klammkalten Torfhütten, auf deren Dächern das Vieh weidet, entspricht weniger meinem romantischen Islandbild. Die Insel war bis 1944 politisch von Dänemark abhängig, noch heute studieren viele Isländer in Europa - besonders humorvoll hat Hallgrímur Helgason in +Seekrank in München über seine Studienzeit an der dortigen Kunstakademie in den Achtzigern berichtet – meine Lieblingsszene: der nackte Jüngling hinter der Wohnzimmergardine seiner Vermieterin beim Onanieren und die überraschende Heimkehr derselbigen.

Ich war infiziert. Nach Island führte mich meine nächste entferntere Reise nach Albanien, dort am ähnlich menschenleeren, nur sehr viel hellerem und heißeren Strand las ich über die (erst 2006 beendete) Stationierung der amerikanischen Armee in den Romanen Jón Kalman Stefánssons, den ich sehr mag, auch vom +Das Knistern in den Sternen, Robben zum Mittag, schreibenden Müttern und tanzenden Vätern. Zum hauptstädtischen Geothermalbad Laugardalslaug, das mich mit seinen bis zu 42 Grad heißen Pools und mehreren Außenschwimmbecken begeistert hatte, las ich 2016 in Kristín Steinsdóttirs Roman +Hoffnungsland die Geschichte zum Tal von Laugardalur, in welchem es liegt. Auch ein Botanischer Garten und das Fußballstadion befinden sich heute in diesem Tal, wo die heißen Quellen der Stadt vor einhundert Jahren noch der neblige, feuchte Arbeitsort der Waschfrauen waren. In einem der für mich schönsten Romane des Jahres 2018 fand ich alle klassischen isländischen Themen vereint. Bergsveinn Birgisson erzählt in +Die Landschaft hat immer recht von zwei Handvoll kauzigen Männern in einem abgeschiedenen Fjord, deren Gespräche sich um die fehlenden Frauen drehen, das Wetter, die Landschaft, den Sinn des Lebens, Elfen und - Gedichte. Sein Held Halldór schreibt Tagebuch, oft über das Wetter, und wenn er schreibt, ist meist schlechtes Wetter, denn sonst wäre er draußen und würde fischen.

„Bei geglücktem Westwetter stürzen die Wolken an der Küste von den Bergen, und wenn die Sonne im Mittag steht, verwandelt sich der Sonnenschein in Margarine, die glänzend die Hänge hinunterfließt.“

Auch in Deutschland haben wir goldene Tage, an einem solchen Sommerabend stand ich im Oderbruch an einem Lagerfeuer und lernte die Künstlerin Kat Menschik kennen, es stellte sich schnell heraus, dass sie in Island einige Zeit verbracht hatte, um sich von der Landschaft für ihre (fantastisch einfühlsamen) Illustrationen zur +Kalevala inspirieren zu lassen. Wir schwärmten unisono, bis wir alle Umstehenden vertrieben hatten. Die Verzauberung hielt an. Im Jahr 2020 beglückten mich gleich mehrere Neuerscheinungen. Der Schweizer (und inzwischen isländisch eingebürgerte) Schriftsteller Joachim B. Schmidt legte mit +Kalmann ein irre witziges Buch über den äußersten Norden Islands vor, in welchem der „Dorfdepp“ und selbsternannte Sheriff Kalmann durch einen Mordfall stolpert und uns nebenbei erklärt, wie der Gammelhai hergestellt wird. Mir langanhaltend ins Gedächtnis gegraben hat sich der Roman +60 Kilo Sonnenschein von Hallgrímur Helgason. Hier wird noch einmal alles zusammengefasst, was die Isländer ausmacht, das Überleben in ungelüfteten Torfhütten am Rande der Lawinengefahr, des Erfrierens oder Verhungerns. Und doch siegt immer der Optimismus, den sie im Blut haben – es geht weiter, ob nun die Kirche von einem Sturm erfasst in den Fjord hinaustreibt oder der verstorbene Vater nicht begraben werden kann bei Frost und in der Hütte vor sich hin modert. Ob der Pastor betrunken ist oder das einzige Feuer in der Hütte ausgeht – es wird weitergehen, ein blondes Kind mit Engelszügen wird lächeln oder ein Reisender die erste Topfpflanze in den abgelegenen Fjord bringen… und diese Landschaft bleibt:

„Die Berge hier waren jung und verrückt, an einem Tag von Eis bedeckt, am nächsten von glühender Lava. Hier herrschte entweder permanente Dunkelheit oder permanentes Licht. Hier gab es Wintereinbrüche im Sommer und Sommertage im Winter. Wasser war entweder so heiß, dass man keinen Finger hineintauchen konnte, oder so kalt, dass man darauf Schlittschuh lief.“

Ein mahnendes Sachbuch, ebenfalls von 2020, sucht Wege aus der Klimaerwärmung und zieht u.a. historische Parallelen zwischen Indien und Island. Nicht alles konnte ich nachvollziehen in Andri Snær Magnasons Buch +Wasser und Zeit, aber mich beeindruckten seine Recherchen zur eigenen Familiengeschichte (seine Eltern waren Gletscherforscher) und die (schon erwähnte) Mehrgleisigkeit der Kreativität der Isländer*innen – der Literaturwissenschaftler, Dichter und Präsidentschaftskandidat Magnason ist nebenbei auch Sprachforscher und hat eine CD mit den ältesten (circa 120 Jahre alten) poetischen Schall-Aufnahmen seiner Landsleute zusammengestellt – als er diese mal Freunden vorspielte, lauschten sie ehrfurchtsvoll und fragten: „Klingt toll, welche Sprache ist das?“

Vor kurzem spielte mir eine Freundin zwei Bücher des mir bisher unbekannten Isländers Ragnar Helgi Ólafsson zu, den Gedichtband +DENEN ZUM TROST, DIE SICH IN IHRER GEGENWART NICHT FINDEN KÖNNEN (auf Deutsch 2017) und den Erzählungsband +Handbuch des Erinnerns und Vergessens (auf Deutsch 2020 verlegt). Was für ein Fest! Die Gedichte sind zweisprachig wiedergegeben und das kehlige, schnurrende Isländisch gleitet in die deutschen Zeilen hinüber, wenn der Blick von links nach rechts schweift. Zum Beispiel im Gedicht Fingur Venusar / Finger der Venus:

Die Erzählungen Olafssons im +Handbuch des Erinnerns und Vergessens sind so surreal, dass ich mehrfach an Daniiel Charms oder Michail Bulgakow denken musste beim Lesen. Am liebsten hatte ich die GeschichteDer kürzeste Weg, in der ein Mann, der Ich-Erzähler, immer den kürzesten Weg zur gleichen Zeit nimmt, zu der Schule, an der er unterrichtet. Bis sich eine Katze in seinen Weg stiehlt, ihn verfolgt, schließlich bei ihm wohnt und ihn nach Wochen wieder verlässt, bis er auf der Suche nach ihr (verzweifelt und geplagt von einem ahnungsvollen Traum) vor ein Auto läuft.

Ich wünschte mir, dass Sie sich ähnlich verzaubern lassen durch isländische Romane und Gedichte, sich einlassen mögen auf diese einzigartige Verknüpfung von rauer, sphärischer Natur und den Menschen, die sich ständig neu erfinden, kreativ und optimistisch mit den Gegebenheiten ihres Landes umgehen.