Über Poesie und Politik

Wenn das um die Ecke Denken endlich mal belohnt wird. Die Geschichte der Edition Nautilus. Ein Portrait von Yvonne Franke.

Alles begann 1974 mit der Herausgabe einer Zeitschrift namens MAD. Nein nicht das Satireblatt. In diesem Fall standen die drei Buchstaben für „Materialien, Analysen, Dokumente“ und die Idee, dass revolutionäre Gedanken durchaus auch eine Poesie haben. Anarchie kann Dada sein.

Nach einem Gerichtsbeschluss, erwirkt durch oben genanntes Satiremagazin, musste eine Namensänderung stattfinden.

So erfanden Verlagsgründer Lutz Schulenburg, Hanna Mittelstädt und Pierre Gallissaires die Edition Nautilus. Nautilus, wie das Unterseeboot des Kapitän Nemo aus Jules Vernes +20.000 Meilen unter dem Meer . Aber vor allem wie das Urzeittier, der Kopffüßler. Ein Symbol für die Verbindung zwischen Aktionismus und Theorie.

Die inspirierenden Theoretiker waren damals die französischen Situationisten. Sie glaubten an eine fruchtbare Zusammenwirkung von Politik und Kunst. Freie Denker und Schreiberinnen, die einen neuen Blick auf die Literatur ermöglichten und dennoch keine Chance hatten bei einem großen kommerziellen Verlag veröffentlicht zu werden. Schon gar nicht im Deutschland der 70er Jahre, wo Politik unbedingt ins Korsett der Parteipolitik gehörte und darüber hinaus kaum gedacht wurde.

Um da etwas Neues zu schaffen, musste man alles vergessen, was man übers Verlagsgeschäft wusste. Alte Gedankenmuster einreißen. Ganz Punk. Ganz Dada.

Das Neue beginnt eben auch damit, sich zu trauen, in eine Autorin zu investieren, von der noch nie ein Mensch gehört hat. Also, wenn der Text, den sie ungefragt eingesandt hat nun mal herausragend ist.

Andrea Maria Schenkel hatte es mit ihrem Manuskript schon bei vielen Verlagen versucht. Die Edition Nautilus war ein letzter romantischer Versuch, weil doch diese Billie Holiday Biographie so gut war, die dort einmal erschienen war und in Schenkels Regal stand.

Der Verlag veröffentlicht zwei Krimis im Jahr. Aber auch nur, wenn sie wirklich gut sind. Nicht aus Prinzip. Andrea Maria Schenkels Krimi +Tannöd erschien im Jahr 2006 – zunächst in einer Auflage von 2800 Exemplaren. Man wollte erstmal sehen, wie es so läuft. Es lief fantastisch. „Tannöd“ wurde in 20 Sprachen übersetzt und blieb an der Spitze der Bestsellerlisten, bis ihn der Nachfolgeroman seiner Autorin auf den zweiten Platz verwies.

Und der kleine Verlag zog um in größere Räumlichkeiten in Hamburg-Bahrenfeldt. Plötzlich prasselten Preise ( z.B. der Kurt-Wolff-Preis und der Verlagspreis der freien Hansestadt Hamburg) und Anerkennung auf die Idealisten ein. Auch mal schön.

Ein ziemlicher Umschwung, der sich bis heute hält. Die Zeiten der schwer finanzierbaren Projekte, die kaum ihre Produktionskosten wieder einspielen, scheinen überwunden. Auch das aktuelle Verlagsprogramm bekommt einiges an Anerkennung. So erhielt Nautilus-Autor Jochen Schimmang zum Beispiel den Walter Kempowski Preis für biografische Literatur 2019 für seinen Erzählband +Adorno wohnt hier nicht mehr .

Vor nun ziemlich genau 46 Jahren erfolgte der offizielle Eintrag ins Handelsregister. Seitdem sind in der Edition Nautilus etwa 1000 Werke erschienen. Dazu gehören neben Belletristik und politischen Sachbüchern die Flugschriften: pointierte Texte zu gesellschaftspolitischen Themen wie Kapitalismus-Kritik oder Feminismus. Prominenteste Autorin dieser Essay-Reihe dürfte Laurie Penny sein. 2014 erhielt sie den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken für ihre dokumentarische Aufbereitung +Pussy Riot! .

Im Jahr vor dem 40-jährigen Verlagsjubiläum 2014 starb Mitbegründer Lutz Schulenburg überraschend im Alter von 60 Jahren. Man hat sich vorgenommen, die Edition Nautilus in seinem Spirit weiterzuführen.

Im Jahr 2018 übergab Hanna Mittelstädt die Geschäftsführung des Verlags, der nun eine GmbH mit 5-köpfigem Team ist, an ihre langjährige Lektorin und Mitstreiterin Katharina Picandet.

Gruppe-SW — Das Verlagsteam der Edition Nautilus (v.l.): Katharina Bünger, Hanna Mittelstädt, Franziska Otto, Katharina Picandet, Klaus Voß, Katharina Florian (Foto: Anna Salomons)