Menschliches Nutzvieh

Dieser Artikel ist Teil der Artikelreihe Die Domestizierung des Menschen. Bisherige Artikel:

Vom Naturzustand, nicht zur Natur zu gehören

photo-of-vehicles-on-road-during-evening-1600757 — Photo by Mikechie Esparagoza from Pexels

Wenn ich sage, der Mensch habe sich selbst domestiziert, klingt das im ersten Moment unlogisch. Ist die Domestizierung nicht die Unterwerfung durch den Menschen? Sind wir im Vergleich zu unseren Nutz- und Haustieren nicht radikal frei in unserem Denken und Handeln? Was soll das sein, ein Hausmensch?

Die spitzfindige Leserin wird direkt sagen: Aha! Hausmensch gibt es als Ausdruck tatsächlich nicht, aber was ist mit der Hausfrau und dem ein oder anderen Hausmann? Klassischer Fall von patriarchaler Unterdrückung, der Mann hat die Frau unterworfen, der domestizierte Mensch ist die Frau beziehungsweise die Person, die sich um Haus und Kinder kümmert, gefesselt von ihren Pflichten und ausgeschlossen vom öffentlichen Leben. Richtig? Falsch.

Tatsächlich würde ich argumentieren, dass die Aufgaben, die ein Homemaker, wie es auf Englisch etwas schöner und aktiver ausgedrückt wird, erfüllt, jene Tätigkeiten sind, welche der betroffenen Person in eine aktivere, bewusstere und regelmäßigere Verbindung mit ihrer Umwelt verhelfen. Die Beschaffung und Verarbeitung von Lebensmitteln, das Aufräumen, Aussortieren, Pflegen, Reparieren und Entsorgen der Materialien des täglichen Bedarfs sind alles Handlungen, die Menschen in engen Kontakt mit ihren Ressourcen bringen. Außer in einem Szenario des Vollautomatisierten Luxus-Kommunismus sind dies außerdem Arbeiten, die unabhängig von Zeitalter und Kultur anfallen. Sie können an andere Menschen ausgelagert werden, aber sie müssen erledigt werden.

Nein, es ist nicht das klassische Bild der Hausfrau, das ich mit dem Ausdruck „domestizierter Mensch“ beschwören will. Stattdessen möchte ich das Augenmerk auf eine andere Bedeutungsnuance des Haus- in Haushuhn und Hausschwein lenken.

Die Metapher des Hauses

Domestizierung leitet sich von lateinisch domus, Haus ab. Etwas Domestiziertes ist also „dem Haus zugehörig“und wenn wir uns den Umgang mit domestizierten Tieren ansehen, die entweder zumindest zeitweise in Ställen oder im Fall von Hunden und Katzen sogar direkt im Wohnhaus untergebracht sind, ergibt diese Bedeutung unmittelbar Sinn. Aber ein Haus ist so viel mehr als Unterschlupf. Am Haus hängt nämlich ein Haushalt und den umschreiben wir in der Fachsprache dann eher mit griechischem Vokabular. Da heißt das Haus oikos, was nebenbei auch Haushalt und Besitz bedeuten kann und im Deutschen zu öko, der ersten Silbe in sowohl Ökologie als auch Ökonomie wird.

Nun ist nicht alles gleichzusetzen, was gleich heißt, wie der Vergleich von Pferd und Nilpferd schnell nahe bringt. Dennoch stehen sich Haus und Ökonomie nicht nur etymologisch nahe: Wirtschaft war schon immer und ist auch heute noch in großen Teilen Hauswirtschaft. Dem Haus zugehörig zu sein bedeutet im Falle von Tieren daher nicht nur, örtlich an die menschliche Behausung gebunden zu sein, sondern Teil der Wirtschaftskreisläufe dieses Hauses zu sein. Hühner legen Eier. Kühe geben Milch. Schweine sind Resteverwerter und Fleischreserven. Hunde bewachen das Haus, Katzen vertreiben Schädlinge. Domestizierte Tiere, könnte man sagen, sind Tiere mit Jobs.

Sind Menschen mit Jobs also automatisch domestiziert? Menschliche Gesellschaften tendieren immer dazu, sich zu spezialisieren. Warum die Talente und Neigungen Einzelner auch verschwenden? Wer besonders gut nähen kann, soll nähen. Das nutzt allen und schafft anderen Freiraum, sich anderen Tätigkeiten zu widmen. Wenn wir uns die Frage stellen, inwiefern ein Mensch domestiziert ist, müssen wir vor allem hinterfragen, wessen Haushalt, also welchen wirtschaftlichen Kreisläufen er unterworfen ist.

Spezialisierung für die anderen

Sobald man sich spezialisiert, ist man automatisch in den Wirtschaftskreislauf anderer Haushalte eingebunden. Nicht nur, weil man all die Dinge, die man so nicht mehr selbst produzieren kann, von anderen Leuten erstehen muss, sondern auch weil zum Beispiel Schuhe herzustellen denkbar sinnbefreit ist, wenn es keine anderen Leute gibt, die Bedarf an Schuhen haben. Insofern ist Gemeinschaft immer schon die Voraussetzung für Spezialisierung. Der Wirtschaftskreislauf, in den alle Beteiligten in diesem Szenario eingebettet sind, ist eine kleine Gemeinschaft, ein fiktionales Dorf, in dem unterschiedliche Akteur_innen spezialisierte Aufgaben für das Wohl der Gemeinde ausüben. Profitiert eine_r, profitieren alle.

Dabei ist es wichtig zu betonen, dass in diesem Szenario kein Tauschhandel stattfindet. Der Anthropologe David Graeber hat in +Schulden – die ersten 5000 Jahre mit dem Mythos des Tauschhandels aufgeräumt: In einer solchen vormonetären Gesellschaft tauschen die Menschen nicht etwa Schuhe gegen Kartoffeln, sondern Schuhe gegen einen Gefallen und ach weißt du noch, als ich dir neulich beim Umzug geholfen habe? Vorkapitalistische Gesellschaften wirtschafteten über ein ausgeklügeltes Geflecht von Schuldscheinen und Kredit. Wenn alle einander etwas schulden, schuldet niemand jemandem etwas und man versorgt einander mit den Dingen des täglichen Bedarfs, weil so eben eine Gemeinschaft funktioniert. Geld, so Graeber, wurde eigentlich nur für Geschäfte mit Fremden, zum Beispiel reisenden Händler_innen gebraucht, da diese durch ihre Abwesenheit nicht in das alltägliche Wirtschaftssystem des Dorfes eingebunden waren.

Geld wurde der Bevölkerung stets gewaltsam aufgezwungen – vor allem durch Steuern, die in der von den Machthabern diktierten Währung zu entrichten waren. Sonst drohten drakonische Strafen. Der nächste Schritt in die wirtschaftliche Abhängigkeit war die Aneignung der Allmende durch Kapitalisten. Das Land stellte die wirtschaftliche Grundlage jeder Gemeinde dar. Hatte die Bevölkerung keinen Zugang mehr dazu, hatte sie keine andere Wahl, als sich Lohnarbeit zu suchen. Und die Profite im kapitalistischen System sind alles andere als fair verteilt: Der Chef legt das Gehalt fest und alle Profite darüber hinaus wandern in seine Tasche. Oder die der Aktionäre. Oder Investoren. So trennt Kapitalismus die eigentliche Arbeit von ihrem Ertrag. Profitiert eine_r, profitiert genau diese_r eine.

Der Haushalt, in den ein_e kapitalistische Lohnarbeiter_in eingebunden ist, ist nicht mehr Objekt der Haus- sondern der Betriebswirtschaft. Ähnlich wie ein Nutztier in der Massentierhaltung, das keinen größeren Stall und nicht mehr Futter bekommt, weil es zum Beispiel mehr Milch gibt als andere, bekommt ein_e Arbeiter_in den Ertrag der eigenen Arbeit nicht zu spüren. Und das ist die Domestizierung, auf die ich hinaus will: Die Unterwerfung unter eine Wirtschaftslogik, die vor allem jemand anderem nutzt.

Das Diktat der Professionalität

Die Trennung von Arbeit und Wert(en) geht jedoch weit über die finanzielle Dimension hinaus. Auf der Arbeit haben wir professionell zu agieren. Nun gibt es ein gesundes Verständnis von Professionalität – nämlich Leuten das Leben nicht durch Egotrips, übergriffiges Verhalten und persönliche Unlustgefühle unnötig schwer machen – aber das ist letztendlich nur gesundes Verständnis von Zusammenleben allgemein. Was viele jedoch unter Professionalität verstehen, ist die Unterordnung der eigenen Wertvorstellungen unter die Bedürfnisse der Firma. Das Geschäftsfeld des neuen Kunden stößt dir übel auf? Pech gehabt. Das neue Projekt widerspricht deinen politischen Einstellungen? Hab dich nicht so, es ist ja nur für die Arbeit. Musst du privat ja nicht so machen.

Vor allem im Kontext der Klimakrise ist die Akzeptanz der Vorherrschaft betrieblicher Moral klar ersichtlich: Ich will nicht mehr fliegen, aber beruflich muss ich nun mal. Ich würde ja fürs Klima protestieren, aber ich muss arbeiten. Man sollte die Landwirtschaft verändern, aber die armen, armen Landwirte müssen ja auch Geld verdienen. Überhaupt: Die Wirtschaft, die Wirtschaft! Was nutzt uns ein bewohnbarer Planet, wenn die Wirtschaft leidet! Profit ist in der Welt der Betriebswirtschaft die oberste Moral und wer diesbezüglich Bedenken hat, hat das System nicht verstanden. „Ich rege mich immer darüber auf, wenn Leute auf Nestlé wegen der ganzen Wassersache schimpfen“, sagte mir einmal eine befreundete BWL-Studentin. „Die sind ein Wirtschaftsunternehmen. Die haben keine moralische Verpflichtung.“ Das inhärente Problem daran schien ihr deutlich weniger offensichtlich als mir. Diese Wirtschaftlichkeit als Ersatzmoral durchdringt inzwischen die gesamte Gesellschaft. Darum ist Arbeitslosigkeit auch so entsetzlich stigmatisiert: Wer nicht lohnarbeitet, bringt niemandem Profit. Und so wird aus arbeitslos ganz schnell wertlos.

Das Auflehnen gegen dieses Diktat der Professionalität kann unterschiedliche Formen annehmen. Selbstständigkeit oder genossenschaftliche Organisation von Wirtschaftsbetrieben können die schlimmsten Auswüchse profitorientierten Denkens entgegenwirken – wenn man aktiv dagegen ansteuert. Auch Selbstständige sind nicht gegen Selbstausbeutung für das wirtschaftliche Wohl der Kunden gefeit. Es ist sehr bequem, sich dem Diktat zu beugen und die eigene Arbeit keiner moralischen Prüfung zu unterziehen. Selbstreflexion ist anstrengend. Die Reflexion eines ganzen Wirtschaftssystems noch mehr.

Schatz, wir müssen über Moral reden

Manchmal nennen sich Arbeiter_innen ironisch „Lohnsklaven“. Von der generellen Unvergleichbarkeit tatsächlicher Sklaverei und Lohnarbeit mal abgesehen eröffnet David Graeber in Schulden eine Perspektive auf Sklaverei, die stutzig macht: Dass mit Menschen gehandelt werden kann, also ein Mensch auf einen monetären Wert reduziert werden kann, funktioniert nur dann, wenn der Mensch gewaltsam aus seinem sozialen Gefüge herausgerissen wird. Wenn ihm jede menschliche Beziehung abgesprochen wird, wenn er nicht mehr Geschwisterkind, Elternteil oder Freund_in sein darf. Wenn er von den Werten seiner Kultur getrennt wird, von den eigenen Bedürfnissen, Zielen und Überzeugungen. Und damit auch: Von der eigenen Moral.

Moral ist heutzutage unsexy. Moral klingt nach Tanzverbot und Spaßbremse, nach pappigen Sojawürstchen und Fahrradfahren im Regen statt sich am Steuer des hermetisch abgeriegelten SUV eine Bratwurst zu gönnen. Vielleicht ist Moral aber auch deswegen unsexy geworden, weil die_r durchschnittliche Berufstätige sie sich hat aktiv abgewöhnen müssen. Beggars can‘t be choosers und in einer Welt, in der jeder Job besser ist als kein Job, ist Moral ein Luxus, den man sich erst einmal leisten können muss. Selbst wenn man sich sagt: Ach, nur für die Arbeit, kann ich privat ja anders machen, muss man den inneren Widerspruch zwischen Überzeugungen und Handeln aushalten können. Und wenn der Job nicht diskutabel ist, ist es einfacher, die Moral auch privat über Bord zu werfen, um den inneren Streit zu schlichten.

Einem Menschen zu verwehren, der eigenen Moral nach zu handeln, ist Gewalt. Eine nicht zwingend körperliche Form der Gewalt, aber in jedem Fall emotionale Gewalt. Dabei ist nicht jede persönliche Überzeugung moralisch und muss dementsprechend behandelt werden – wer diskriminierende Grundüberzeugungen hat, übt selbst Gewalt aus und die kann und sollte bekämpft werden. Aber wenn die Menschlichkeit an der Stempeluhr abgegeben werden muss, damit man sich für acht Stunden in einen Mantel der moralbefreiten Wirtschaftshörigkeit kleiden kann, ist das System, das diese Form von wertfreier Professionalität verlangt, zumindest moralisch fragwürdig.

Dabei ist moralische Verpflichtung gegenüber anderer Menschen und all den Räumen und Dingen, die man sich teilt, das, was unsere Gesellschaft irgendwie am Laufen hält. Moralisch heißt nicht spießig und konservativ, moralisch heißt menschlich und mitfühlend und verantwortungsvoll. Ich will Moral wieder feiern, schon alleine, weil sie im öffentlichen Diskurs so selten geworden ist. Und weil so viele Leute anscheinend ein großes Interesse daran haben, dass ich es damit nicht ganz so eng sehe.

Menschliches Nutzvieh

Unter der Domestizierung des Menschen verstehe ich also die Trennung des Menschen von seinem Bedürfnis des gemeinschaftlichen Wirtschaftens und von seiner moralischen Entscheidungsfreiheit im Kontext seiner wirtschaftlichen Tätigkeit. So wie einer Milchkuh ihr Kuhsein nur insofern gestattet wird, als dass sie bei kompletter Missachtung ihrer Bedürfnisse keine Milch mehr gibt, wird Menschen das Menschsein nur in den Maßen gestattet, wie es die Wirtschaftsinteressen des Unternehmens nicht stört.

Kompromissbildung ist wichtig in einer Gemeinschaft. Aber wenn Selberdenken nur auf fachlicher, nicht aber auf moralischer Ebene stattfinden darf, sind alle Bestrebungen in Richtung einer Work-Life-Balance nichtig. Achtsamkeitstraining und gemeinsames Kickern Freitag Nachmittag sind nur Versuche, einem Huhn einen Quadratmeter statt einem Din-A-4-Blatt Platz zuzugestehen. Freiheit sieht anders aus. Und wenn Wirtschaft nur funktioniert, indem Menschen ihrer wirtschaftlichen und moralischen Autonomie beraubt werden, ist es vielleicht an der Zeit, das gängige Bild von „Wirtschaftlichkeit“ zu überdenken.

Das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft könnte unabhängig von der konkreten Umwelt als der menschliche Naturzustand betrachtet werden. Das Lohnarbeitssystem ist das Werkzeug der Domestizierung, das Menschen dieses Grundbedürfnis verwehrt. Anstatt sich um ihre Gemeinschaft zu kümmern, verwenden arbeitende Menschen den Großteil des Tages darauf, sich selbst, ihre Gemeinschaft und ihre Überzeugungen hinten an zu stellen. David Graeber (ja, ich mag seine Arbeit sehr, lest bitte +Bullshit Jobs ), sagt nicht umsonst, es sei Zeit für eine Revolt of the Caring Classes. Eigentlich sollte es nicht unser Ziel sein, mehr Leute in Arbeit zu bringen. Es wäre besser – für jedes Individuum, für die Gesellschaft und den Rest des Planeten – wenn Menschen mehr Zeit hätten, sich miteinander und sich selbst zu beschäftigen. Dann könnten wir uns vielleicht fühlen wie die in herzerweichenden Videos aus Massentierhaltung geretteten Tiere, die das erste Mal zerrupft und geschunden ins Sonnenlicht blinzeln.