#olgalesen: meine persönliche (Lese)Unrast

Etwas über einen Monat ist es her, als ich einem Donnerstagabend kurz vor Weihnachten statt früh ins Bett zu gehen mal wieder am Smartphone versumpft bin. Hier bei mojoreads hatte ich den Artikel Olga lesen! entdeckt und irgendwie erschien es mir als eine gute Idee, meinen vom Geburtstag übriggebliebenen Gutschein für eine große Buchhandlung in der Hamburger Innenstadt für das Buch Unrast einzulösen. Wie genial die Idee wirklich war, stellte sich am nächsten Tag heraus, als ich meinen Plan in der Mittagspause umsetzen wollte: In besagter Buchhandlung war eine knappe Woche vor Weihnachten die Hölle los (O-Ton einer Kundin: "Muss ich jetzt etwa an der Kasse Schlange stehen?!") und so dauerte es eine Weile, bis ich das Regal und den Tisch mit den Büchern von Olga Tokarczuk entdeckt hatte. Nach einem kurzen Durchblättern und Querlesen von Unrast hieß es dann auch für mich ein paar Minuten Schlange stehen (praktischerweise konnte ich meine Wartezeit mit dem Blättern in Das Neinhorn verkürzen) und dann gehörte das Buch mir.

Das war der Beginn meiner LeseUnrast. Jetzt hieß es erstmal warten, denn das gemeinsame Leseabenteuer sollte ja erst nach Weihnachten beginnen. Solange machte sich eine gewisse Unsicherheit in mir breit: Werde ich mit dem Buch klarkommen? Werde ich die Handlung verstehen? Bedeutet der Gewinn der Literaturnobelpreises nicht, dass das Buch anspruchsvoll sein wird? Und was kann ich dazu bei Instagram posten?

Dann war es endlich soweit, der erste Lesetag. Voller Vorfreude schnappte ich mir das Buch und begann zu lesen. Aus der großen Euphorie bin ich dann aber schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden: Das ist ja gar kein Roman mit einem durchgehenden Erzählstrang. Das sind ja alles Fragmente, Gedanken, Kurzgeschichten, Beobachtungen, mehr oder weniger aufeinander Bezug nehmend, aber kein großes Ganzes. Ernüchterung und auch ein wenig Enttäuschung machte sich in mir breit, ich hatte etwas anderes erwartet. Aber ich hatte mir von Anfang an viele Zitate markiert, so dass ich zumindest regelmäßige Posts bei Instagram verfasst habe.

Nach einigen Tagen häppchenweisen Lesens bin ich dann doch im Buch angekommen und ich freute mich darauf, im neue Charaktere zu entdecken, neue Gedanken und Sichtweise auf das Reisen und die Anatomie des Menschen zu bekommen. Allerdings hatte mich ab Anfang Januar auch der Arbeitsalltag wieder eingeholt, so dass sich das Lesen auf wenige Seiten am Abend beschränkte und Posts zum Buch bei Instagram nicht mehr zustande kamen. Stück für Stück bin ich durch das Buch gereist und jetzt ist nach dem Lesen der letzten Seiten eine gewisse Ruhe eingekehrt. Viele Seiten sind noch mit Post-its markiert, vielleicht werde ich in den nächsten Wochen doch noch das eine oder andere Zitat posten. Vielleicht wird das Buch auch so wie es ist einen Platz im Regal bekommen. Vielleicht darf es auch zu einem anderen Leser reisen, der Name des Buches wäre dann Programm.

Einige Abschnitte des Buches sind mir sowohl mit positiven als auch mit negativen Assoziationen in Erinnerung geblieben:

Eryk, der Fährmann, ist mein Lieblingscharakter. Sein Ausbrechen aus der Alltagsroutine hat für mich eine große Symbolkraft und Vorbildfunktion. Ein bisschen mehr wie Eryk sein, das habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen
Kunickis ersten Episoden fand ich anstrengend und als Leser unbefriedigend. Umso spannender wurde sein erneutes Auftauchen am Ende des Buches, in einer ganz anderen Umgebung und mit einem ganz anderen Verhalten. Seine finale Entscheidung hat mich an Eryk erinnert.
Die Kuriositätenkabinette, die ja in unterschiedlichen Versionen immer wieder auftauchen, fand ich anfangs verwirrend, denn sie hatten für mich zunächst wenig mit Reisen im eigentlichen Sinn zu tun. In Erinnerung geblieben sind sie mir vor allem als Brückenbauer zu den Anatomiegeschichten.
Die Episoden der Ich-Erzählerin waren für mich die am einfachsten zu lesenden. Viele ihrer Beobachtungen habe ich auch schon gemacht, ein sich in ihr Wiedererkennen war daher einfach.
Menchus Geschichte fand ich sehr verstörend, danach musste ich das Buch erstmal zur Seite legen und das Gelesene sacken lassen.
Die Episode "Vertreter der Medien" vermittelt eine leider traurige Wahrheit.
Doktor Blau war der unsympathischste Charakter im ganzen Buch, ein ekliger Typ. Ich war wirklich froh, das er keinen weiteren Auftritt hatte.
"Der Boddha-Baum" hat mich sehr an meine Reise nach Las Vegas erinnert, an das Gefühl der Ernüchterung, die einen überkommt, wenn sich die Realität als viel unspektakulärer entpuppt, als man es sich in seiner Vorstellung ausgemalt hatte.
Annuschkas Geschichte fand ich sehr berührend, ihre Unrast und das Getriebensein, die spürbare Verzweiflung. Umso mehr hat es mich gefreut, dass es für sie (zumindest angedeutet) ein Happy End gibt.
"Die Zone Gottes" war wahrscheinlich die intensivste Episode des Buches. Mit fast vierzig Seiten ist sie auch die längste. Was als harmlose Reise beginnt, entwickelt sich für den Leser in leisen Andeutungen zu einem moralischen Dilemma. Soll man das Verhalten der Frau gutheißen oder nicht? Ihr Handeln ist nachvollziehbar, hinterlässt aber viel Raum für Diskussionen.
Die Geschichte des Professors in "Kairos" entwickelte sich anders, als die Andeutungen es vermuten ließen. Ich mochte diese Mischung aus Geschichtlichem, Liebe und Fürsorge und dem Thema Alt werden.
Zum Ende des Buches hat mich das Kapitel "Vom Entstehen der Gattungen" sehr positiv überrascht. So ein poetisches und doch so treffend formuliertes Statement zum Thema Umweltverschmutzung durch Plastikmüll hatte ich bisher noch nicht gelesen.

Was bleibt jetzt nach dem Lesen von Unrast? Das gute Gefühl, ein Buch einer Nobelpreisträgerin gelesen und es verstanden zu haben. Die Freude über viele Zitate, die mit treffenden Worten die eigenen Ansichten reflektieren. Das gute Gefühl, das Buch nicht alleine gelesen zu haben, denn sowohl hier als auch bei Instagram wurden einige Leseeindrücke geteilt.

Bleibt mir abschließend noch die vermummte Läuferin zu zitieren: "Reg dich, beweg dich, los, Bewegung, Unrast."