Lesen oder gelesen haben?

So viel wie in den letzten Monaten oder auch in den letzten zwei, drei Jahren habe ich noch nie in meinem Leben gelesen. Das ist erstmal eine positive Aussage. Es bedeutet, dass es zeitliche und finanzielle Ressourcen gibt, einem solchem Bedürfnis nachzukommen. Gut fühlt es sich auch an, sowohl vielfältige Interessen zu spüren als auch die notwendige Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer mitzubringen.
Also alles perfekt?

Es gibt einen kleinen(?) Wermutstropfen: Ich erwische mich immer öfter dabei, dass ich mehr auf das „Gelesen-Haben“ als auf das Lesen selbst fokussiert bin. Das bedeutet: Der Genuss liegt nicht im Prozess des Lesens, sondern dessen Beendigung ist sozusagen das Ziel. Das Buch ist im Sack!
Es erinnert ein wenig an den berühmten Buchtitel „Haben oder Sein“ von Erich Fromm (das musste man in meiner Generation irgendwann mal gelesen haben). Es hat etwas mit Aneignung, mit einem Ergebnis zu tun statt mit dem momentanen Erleben.

Wie konnte es dazu kommen?

Eine Rolle spielt dabei sicher das Bedürfnis, möglichst viel Information und Wissen aufzunehmen. Bei Sach- und Fachbüchern ist es vermutlich am ehesten verständlich, dass man den Input haben will und nicht unbedingt das Lesen selber zelebrieren möchte. Mit dem Zuendelesen ist dann das Ziel erreicht; je schneller, desto besser.

Unabhängig vom Genre und Inhalt eines Buches gibt es für Lesesüchtige immer eine Versuchung: möglichst rasch zu einem neuen Buch zu wechseln, das schon verführerisch im Regal oder auf dem Nachttisch liegt und mit unüberhörbarer Stimme nach Zuwendung ruft. So anregend das aktuelle Buch auch sein mag: Es kann kaum mit dem Reiz der wartenden Bücher mithalten. So, als ob ein angefangenes Buch schon einen Teil seines Zaubers verloren hätte.
Sicher, es gibt Ausnahme-Bücher die sich dieser Dynamik entziehen können. Glücklicherweise.

Doch da wartet noch ein weiterer Feind des entspannten und versunkenen Lesegenusses: Je besser das Buch, desto deutlicher ist schon während des Lesens das mächtige Bedürfnis zu spüren, die ausgelösten Gedanken und Empfindungen in Form einer Rezension nach außen zu tragen.
Dann mischen sich in das Lesen schon die ersten Formulierungen („so könnte man das ausdrücken“).
(Genau betrachtet, gibt es bei besonders enttäuschenden Büchern eine ähnliche Dynamik – da ist sie aber nicht so störend.)

Das Schreiben dieser kleinen Betrachtung kündet von meiner Motivation, mich diesem Trend zum „Lesen als quantitative Leistung“ zumindest ein wenig entgegenzustellen. Zumal ich immer häufiger die Rückmeldung bekomme, dass schon das Lesen meiner Rezensionen mein soziales Netzwerk zeitlich überfordert (die Bücher selbst alle zu lesen bzw. zu hören, ist sowieso für niemanden vorstellbar).
Ich kann noch nicht beurteilen, ob mich die Bewusstmachung des Problems schon einer Lösung näher bringt. Jedenfalls würde ich mich sehr über Erfahrungen oder Anregungen freuen.
Vielleicht hilft es ja, ein neues Buch immer erst zu kaufen bzw. auszuleihen, wenn man mit dem aktuellen fertig ist? Oder man verordnet sich eine bestimmte Mindestzeit für ein Buch und darf vor Ablauf nicht mit einem neuen anfangen?
Oder....