Klassikerinnen: Mareike Fallwickl über Selma Lagerlöf

„Mich konnte und wird nie eine andere Leidenschaft beseelen als das Schreiben.“

Die Schriftstellerin und Frauenrechtskämpferin Selma Lagerlöf

Die Literaturbranche ist, wie jeder andere Bereich, tief vom Patriarchat durchdrungen, und so stehen auch heute noch Titel von Männern in endlosen Reihen in jedem Kanon, während wir von Frauen Geschriebenes mit der Lupe suchen müssen. Wenn von Klassikerinnen die Rede ist, von Schriftstellerinnen, sagen wir: Da gilt es etwas wiederzuentdecken, da wurden Autorinnen vergessen, da bekamen Bücher nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hatten. Bei Selma Lagerlöf ist das nicht der Fall. Zumindest auf den ersten Blick. Sie war bereits zu Lebzeiten sagenhaft erfolgreich, ihr wurde der Literaturnobelpreis zugesprochen und sie wurde in die Akademie berufen, die ihn vergibt, ihre Bücher wurden gekauft, gelesen, in vierzig Sprachen übersetzt, verfilmt und ans Theater gebracht. Bei Auftritten hat die Menschenmenge sie begrüßt wie einen Rockstar, der schwedische König hat ihr zum Geburtstag gratuliert. Selma Lagerlöf ist nicht untergegangen im Literaturbetrieb, sie bekam nicht zu wenig Aufmerksamkeit und sie verdiente gutes Geld mit ihrem Schreiben. Sie gilt in Schweden als Ikone, nach ihr ist ein mit 100.000 Euro dotierter Literaturpreis benannt, ihr Abbild zierte den Zwanzig-Kronen-Schein, bis sie abgelöst wurde von einer anderen Frau: Astrid Lindgren.

Aber wo ist diese Schriftstellerin, die eine Art von Ruhm erreicht hat, die wir für Frauen ihrer Zeit für unmöglich halten, heute? An welchen Schulen wird sie gelesen, wo wird über sie gelehrt? Warum ist im deutschsprachigen Raum kaum die Rede von ihr und ihren Werken? Wieso kannte kein einziger Mensch in meinem Umfeld ihren Namen und warum wusste ich selbst nicht mehr über sie, als dass sie sich die Figur des Nils Holgersson ausgedacht hat, die ich als Kind in Zeichentrickform ganz gern mochte? Es gelingt uns als Gesellschaft, sogar außergewöhnlich erfolgreiche Autorinnen in die Nichtachtung zu schieben, sie verblassen zu lassen und weiterhin so zu tun, als hätten Frauen nie etwas geschrieben, schon gar nichts Lesenswertes. Es muss selbst bei einer Größe wie Selma Lagerlöf erklärt werden, wer sie war und was sie erreicht hat, und als Antwort kommt: „Oh, aha. Nie gehört.“ Über die Klassiker und ihre männlichen Autoren wissen wir alles, wir lernen es in der Schule und an der Uni, sie werden in jeder „Was man gelesen haben muss“-Aufzählung genannt, ihre Namen sind gleichbedeutend mit Belesenheit, Bildung, Intellektualität. Ihre Biografien gelten als wichtig, wem haben sie den Hof gemacht, woran sind sie gestorben? Selma dagegen hatte ein Geheimnis, das 50 Jahre nach ihrem Tod gelüftet wurde – und über das trotz der Überraschung, die es ausgelöst hat, und trotz seiner Bedeutsamkeit kaum jemand Bescheid weiß.

Dass diese Autorin vor über hundert Jahren derart erfolgreich war, ist eine Leistung, die doppelt zählt: Als Mädchen hatte sie nicht dieselben Startbedingungen, und die Literaturwelt hat es ihr nicht leicht gemacht. Ihr Vorhaben, Schriftstellerin zu werden, war alles andere als selbstverständlich zu einer Zeit, in der vielen Mädchen der Zugang zu Bildung verwehrt blieb und die einzigen weiblichen Vorbilder für junge Frauen die eigenen Mütter waren, die rund um die Uhr auf den Höfen schufteten.

Geboren wurde Selma Lagerlöf 1858 in Värmland auf dem abgelegenen Gut Mårbacka, vierzig Kilometer mit dem Pferdefuhrwerk vom nächsten Bahnhof entfernt, die Post wurde über einen See gebracht, die einspurige Eisenbahn war erst 1915 fertig. Sie war eines von sechs Kindern, zwei verstarben früh. Ihre Tage waren gefüllt mit Arbeitsaufgaben, Unterrichtsstunden bei der Gouvernante, Geschichten und Gedichten. Sie war sieben, als ein Wild-West-Roman einen Funken in ihr entzündete, der 75 Jahre lang beständig brennen sollte. Kerstin Ekman schrieb 1981 in ihrer Frauenliteraturgeschichte: „Die Zeit war (fast, fast) reif dafür, dass eine Frau den Schritt aus dem geschlossenen Raum tat, den das Genre Frauenliteratur ausmachte. Ihr Selbstbewusstsein mitten in der Unsicherheit, diese gewaltige Gewissheit, Kräfte zu besitzen, die ungewöhnlich waren, müssen ihr auch so etwas gesagt haben.“ Selma war früh von ihrem eigenen Talent überzeugt, und hätte sie nicht dieses Gespür für sich selbst gehabt, diesen unbändigen Willen, sie hätte es nie geschafft. Denn erst einmal sah es für eine große Karriere nicht gut aus: 1868 bekam ihr Vater Erik Gustav, der seine militärische Laufbahn aufgegeben hatte, um den Hof zu übernehmen, eine Lungenentzündung, von der er sich nicht erholte. Er wurde zum Alkoholiker und verursachte den Verfall des Guts Mårbacka sowie letztlich dessen Verlust, den Selma später mehrmals literarisch verarbeitet hat. Die Familie verarmte und konnte Selmas Ausbildung zur Lehrerin nicht bezahlen. Ihr Bruder musste einen Kredit für sie aufnehmen, weil sie als Frau keinen bekam, und so ging Selma 1881 nach Stockholm. Lehrerin wollte sie überhaupt nicht werden, aber es war einer der wenigen Berufe, der ihr offenstand. Als sie in der südlichen Kleinstadt Landskrona eine Anstellung fand, musste sie in ihrer engen Behausung Mutter und Tante unterbringen, die mittellos waren. Sie berichtete ihrer Freundin Mim Rydberg in einem Brief „vom großen Humbug, der Unterricht genannt wird“ und kam morgens oft zu spät, weil sie nachts heimlich schrieb. Mit 22 Jahren traf Selma bei einer Hochzeit auf Eva Fryxell, die in Stockholm einen Lesesalon für Frauen führte – es war Selmas erster Kontakt mit der Frauenbewegung. Diese Frauen rund um Baronin Sophie Adlersparre waren ausschlaggebend für Selmas Weg in die Welt der Literatur, denn sie unterstützten einander, nicht zuletzt finanziell. Sie sammelten genug Geld, damit Selma sich für ein halbes Jahr als Lehrerin beurlauben lassen und ihren ersten Roman +Die Saga von Gösta Berling vollenden konnte, nachdem sie einen Wettbewerb der Zeitschrift „Idun für Frau und Heim“ gewonnen hatte, aber keinen Vorschuss für ein Buch bekam. An Sophie schrieb Selma: „Ganz insgeheim will ich Tante sagen, dass meine Fähigkeit der Komposition ebenso gewaltig ist wie meine Fantasie. Wie sollte ich es sonst durchführen können, dass jedes Kapitel ein Ganzes ist, aber auch das ganze Buch ein vollkommen zusammenhängendes Werk. Das soll mir erst einmal jemand nachmachen.“ Und es ist ihr gutes Recht, dass sie sich nicht mit falscher Bescheidenheit aufgehalten hat. Ihr„Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf“ (erhältlich als +Die Erinnerungen) von 1932 gilt heute neben August Strindbergs Roman „Das rote Zimmer“ als einer der wichtigsten Texte schwedischer Literatur im 19. Jahrhundert. Der Kritiker und Autor Oscar Levertin schrieb an seinen Freund, den Schriftsteller Verner von Heidenstam: „Du weißt, dass ich mich sonst nicht für schwedische Sachen interessiere, und am allerwenigsten für Damenerzählungen, die in Ramschzeitschriften preisgekrönt werden. Aber dieses Werk ist wirklich höchst bemerkenswert – es ist das seltsamste Gebräu von gut und schlecht, das ich je gesehen habe.“ Die beiden wollten den Realismus in der schwedischen Literatur der 1880er Jahre ablösen, aber Selma war ihnen zuvorgekommen. Sie beschrieb die ländliche, vorindustrielle Welt, und sie hatte damit Erfolg, obwohl alle Verleger und Literaturkritiker Männer waren – und ihr nicht unbedingt wohlgesonnen. Dass Selma selbst voll internalisierter Misogynie auf das Schreiben von Frauen blickte, zeigt ein Auszug aus einem Brief an ihre Mutter: „Aber jetzt habe ich gezeigt, dass ich schreiben kann, und zwar mehr als normalen Frauenschund, denn wäre es das, dann würde ich mich fürchterlich schämen.“ Nun, es ist verständlich, dass sie in einer Welt, die alles abwertete, was aus Frauenhänden kam, so gedacht hat. Und doch: Ohne es zu wissen, ohne es zu ahnen, hat Selma in den darauffolgenden Jahren Wege geebnet für Schriftstellerinnen, die nach ihr kamen. Wege, die Frauen zuvor nicht beschreiten konnten. Und die weit von „Schund“ wegführten.

1894 kam es zu einem Treffen, das für Selma alles verändern sollte, allerdings nicht in beruflicher Hinsicht: Sie lernte Sophie Elkan kennen, die Mann und Tochter verloren hatte und Selmas Roman nicht mochte – und sie verliebte sich. Zwischen den beiden Frauen entstand eine lebenslange Liebschaft, die im Verborgenen bleiben musste, weil in Schweden – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern – auch Beziehungen zwischen Frauen per Gesetz verboten waren. Zwar erklärte Sophie, die auch Gefühle für einen verheirateten Mann aus Belgien hegte, gleich zu Beginn „hands off“, aber es ist unklar, ob das so geblieben ist in den fast 30 Jahren, in denen sie oft zu zweit monatelang auf Reisen waren. Letztlich geht es uns auch nichts an. Mehr als 2000 erhaltene Briefe erzählen von Sehnsucht und Eifersucht, vom Konkurrenzdenken zweier Schreibender und von unbeirrbarer Zuneigung. 1895 gab Selma den ungeliebten Lehrerinnenberuf auf und reiste mit Sophie nach Italien, sie hatte ein Reisestipendium vom König bekommen. Das zweite Buch, +Die Wunder des Antichrist, brachte ihr den ersehnten Durchbruch, und das zweiteilige Werk über die Erweckungsbewegung und die skandinavischen Freikirchen, +Selma Lagerlöf: Jerusalem (Roman), wurde 1901 und 1902 zum internationalen Erfolg. Zur selben Zeit begegnete sie Valborg Olander, jener Frau, die ebenfalls zur Liebe ihres Lebens werden sollte – und Gegenstand von Sophie Ekmans Eifersucht: „Meine Geliebte, ich kann kaum beschreiben, wie froh ich bin, Dich zu haben und von Deiner großen Liebe verwöhnt zu werden. Schweren Herzens zerreiße ich Deine Briefe. Ich würde mich gerne für immer an ihnen wärmen, aber das wage ich nicht“, schrieb Selma an Valborg im Jahr 1902. Über 1300 Briefe zwischen den beiden zeugen von einer Verbundenheit, die 38 Jahre bis zum Tod andauern sollte, und doch lassen sie Lücken, wie alle Briefe es tun. Es muss eine schiefe Dreiecksbeziehung gewesen sein, in deren Mitte Selma stand – Sophie und Valborg kannten einander zwar, hielten sich aber weitgehend voneinander fern. Das Wort lesbisch gab es nicht, Selma Lagerlöf hätte es vielleicht verwendet. In einer Erzählung findet sich die Formulierung „die Liebe, deren Name nicht gesagt werden darf“, und so war es auch: Als die drei Frauen später über ein Telefon verfügten, konnten sie nicht offen sprechen, zu groß war die Gefahr, von den Bediensteten belauscht zu werden. „Es gefiel mir nicht, Dich am Telefon zu hören, das war viel zu schwer. Ich wurde an alle unsere Gespräche in Falun erinnert, als wir uns ungeniert unterhalten konnten, und jetzt stand ich von vielen Leuten umgeben da und konnte Dir nicht sagen, wie mir wirklich zumute war“, heißt es in einem Brief von Selma an Valborg aus dem Jahr 1909. „Ich wünschte, wir müssten nicht so vernünftig sein und dürften allen Menschen verkünden, dass wir uns mögen“, schrieb sie ebenfalls, aber dass sie mit keiner der beiden Frauen zusammenleben konnte, verschaffte ihr die Ruhe und Einsamkeit, die sie zum Schreiben benötigte. Und als Schriftstellerin galoppierte Selma Lagerlöf mit einer für Frauen ungekannten Geschwindigkeit dahin: 1904 erhielt sie die Große Goldmedaille der Schwedischen Akademie, 1906 kam vom Lehrerverband ein Auftrag, der ihren Ruhm verfestigte. Als Lesebuch für die Volksschule mit einer Erstauflage von 20.000 Exemplaren verfasste sie die Geschichte +Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden, damit die schwedischen Kinder ihr Land besser kennenlernen. Es ist ein schöner roter Faden, dass 1950 Astrid Lindgren den ersten Kinder- und Jugendbuchpreis bekommen hat – und in ihren Werken Selmas Einfluss zu spüren ist. Finanziell hatte Selma Lagerlöf, die Entbehrung kannte, nun keine Sorgen mehr, sie konnte ihr Elternhaus Mårbacka zurückkaufen und wieder bewohnbar machen. Als sie 1908 fünfzig wurde, gratulierte ihr das ganze Land, 1909 wurde ihr der Nobelpreis zuerkannt. Das Wunderbare ist, dass sie der Meinung war, ihn zu verdienen. 1914 wurde sie als erste Frau in die Akademie, die den Nobelpreis vergab, berufen – und ihr Roman +Liljecronas Heimat war ein Verkaufsschlager. Während der zweite Teil von „Jerusalem“ mit 6000 Exemplaren als das bestverkaufte Buch des Jahres galt, waren es bei „Liljecronas Heimat“ bereits 30.000 verkaufte Bücher: Selma Lagerlöf war DIE schwedische Autorin ihrer Zeit. Die Stummfilme, die nach Vorlage ihrer Werke gedreht wurden, trugen dazu bei, Schweden im frühen 20. Jahrhundert zu einer führenden Filmnation zu machen.

Auch in Sachen Frauenwahlrecht ging es voran. Die Petition für das Frauenwahlrecht verfasste Selma, in einer Rede sagte sie: „Ach, wir Frauen sind keine vollkommenen Wesen, ihr Männer seid aber auch nicht vollkommener als wir.“ Zwar waren die Kämpferinnen nicht so rabiat wie die Sufragetten in England und es dauerte länger, bis sie sich durchsetzen konnten, doch 1921 durften Frauen in Schweden zum ersten Mal wählen, und fünf von ihnen zogen in den Reichstag ein. Im selben Jahr starb Sophie Ekman, 27 Jahre hatten sie und Selma miteinander verbracht. Heute würden wir diese drei Frauen queer nennen, non monogomous, poly oder pan, uns steht eine Bandbreite von Bezeichnungen zur Verfügung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht existierten, und gleichzeitig ist es unerheblich, es braucht kein Label. Die Beziehung, die diese Frauen führten, muss nicht kategorisiert werden. Natürlich wären sie heute in gewisser Hinsicht freier, sie könnten im modernen Stockholm leben oder in London, Berlin, Amsterdam, sie wären Künstlerinnen mit so kurzen Haaren, wie Selma sie 1890 trug, sie wären verbunden durch companionship und sisterhood. Und doch: Es ist unnötig, zu urteilen und Vergleiche zu ziehen, die Lebensentwürfe von Frauen lassen sich nicht aufrechnen, auch nicht quer durch die Jahrhunderte. Sie hatten die Briefe, die sie einander schrieben, und die gemeinsamen Reisen, dazwischen haben sie sich oft monatelang nicht gesehen, wir wissen nicht, wie es sich für sie angefühlt hat. Tatsache ist: Es hat ihnen Freiraum gegeben. Briefe sind ein langsames Kommunikationsmittel, es dauert, sie zu schreiben, es dauert noch länger, bis sie ankommen, und dann das Warten auf Antwort, das Dazwischen. Dass sie erst fünfzig Jahre nach ihrem Tod gelesen werden durften, hat Selma verfügt, weil sie um die Sprengkraft des Inhalts wusste – und Hoffnung hatte, dass sich bis dahin etwas geändert hätte. Diese Hoffnung hat sich erfüllt: Selma Lagerlöf starb am 6. März 1940, vier Jahre später wurde das Gesetz, das ihre Liebe zu einem Verbrechen machte, in Schweden aufgehoben. Und dann war es 1990, als würde Selma ihrer Heimat sanft zuzwinkern: Ihr Werk handelte oft von Außenseitern und von Hindernissen, die der Liebe im Weg standen, auch wenn alle Beteiligten stets hetero waren. Sie galt ihr Leben lang und weit darüber hinaus als nette Märchentante, wurde mit Dutt und hochgeschlossenem Kleid porträtiert – tatsächlich war sie eine stille Revoluzzerin, eine Aufständische im Geheimen, mit großer Entschiedenheit und Kraft.

„Wenn man absolut keine Herrschaft über sich verträgt, dann ist es doch wohl am besten, unverheiratet zu sein, findest du nicht auch?“, schrieb sie 1894 an Sophie, und es ist entscheidend, dass diese Frauen nie bzw. Sophie nach ihrer frühen Witwenschaft nicht mehr geheiratet haben und kinderlos blieben. Sie mussten keine Sorgearbeit leisten, sie waren ungebunden und ja, sie haben sich ihre finanzielle Stabilität allein erarbeitet – aber sie hatten eben, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, die Möglichkeit dazu. Sie schrieben Romane, sie erstritten das Wahlrecht, da waren keine Ehemänner und keine Kinder, die ihre Energie, Zeit und Aufmerksamkeit beansprucht hätten. Dieses Schwimmen gegen den Strom ist alles andere als selbstverständlich: dass Selma sich für diesen Weg entschieden hat, muss sie in einer Gesellschaft, die Ehe und Mutterschaft für Frauen über alles stellte, viel Kraft gekostet haben.

Vor ihrem Tod lebte sie als Gutsherrin mit zu viel Personal, weil sie es nicht übers Herz brachte, jemanden zu entlassen, half deutschen Flüchtenden, spendete ihre goldene Nobelpreis-Medaille, um Finnland im Krieg finanziell beizustehen, und unterstützte einen Pflegesohn, weil er nach Nils Holgersson benannt war. Am wichtigsten blieb ihr immer das Schreiben: 1920 bekam sie Briefe vom Lehrer und Heimatforscher Emil Herlenius über den Pfarrer Carl Christian Esten, der die erstbeste Frau von der Straße ehelichte, und sie verwendete diese reale Geschichte für den Plot von +Charlotte Löwensköld, den zweiten Teil einer Trilogie, der bis heute zu ihren beliebtesten Romanen gehört. Er wurde von Manesse 2022 in einer Neuübersetzung von Paul Berf wieder aufgelegt – ganz im Sinne der Wiederentdeckung „vergessener“ Autorinnen. Zu Selmas 70. Geburtstag 1928 erschien ihr letzter Roman „Anna Svärd“ (+Anna, das Mädchen aus Dalarne), später schrieb sie noch an ihren Memoiren. Sie war eine detailgenaue Chronistin von Landschaften, Tätigkeiten und Traditionen, aber sie war auch mutig: Sie schrieb Gespenstergeschichten, weil sie Spaß daran hatte, sie probierte Neues aus, und sie beherrschte die einzigartige Kunst, in ihren Romanen jedes einzelne Kapitel als abgeschlossene Story auszuarbeiten, während alles zusammen in der Gesamtheit ebenso Sinn ergab. Sie setzte sich kritisch mit Frömmigkeit und religiösem Übereifer auseinander, sie schrieb über narzisstische Männer wie Karl-Artur in „Charlotte Löwenskold“, sie verarbeitete alte Sagen. Ihr Stil wurde als naiv abgetan, folge zu sehr regionalen Themen und mündlichen Erzählungen, hieß es, und es dauerte, bis die Literaturwissenschaft ihre Raffinesse und ihr Talent erkannte. So schließt sich der Kreis, denn selbst wenn Frauen Erfolg hatten und haben als Autorinnen, so wurde und wird ihr Schreiben abgewertet, als harmlos, ungewichtig, unliterarisch dargestellt – sogar dann, wenn sie den Nobelpreis und verblüffende Verkaufserfolge vorweisen können. Selma Lagerlöf ist vorangegangen, mit großen Schritten, und trotzdem ist der Weg immer noch weit.

Mareike Fallwickl hat das Vorwort der Neuausgabe von +Charlotte Löwensköld aus dem Manesse Verlag geschrieben. Darüber hinaus ist sie die Autorin der Romane +Dunkelgrün fast schwarz, +Das Licht ist hier viel heller und +Die Wut, die bleibt.

Weiterführende Bücher über Selma Lagerlöf:

+Selma Lagerlöf: Värmland und die Welt - Eine Biografie von Holger Wolandt

+Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson - Romanbiografie von Charly von Feyerabend

+Selma Lagerlöf. Die Liebe und der Traum vom Fliegen - Romanbiografie von Maria Regina Kaiser

+Selma Lagerlöf - Leben in Bildern von von Dieter Stolz (Herausgeber) und Thomas Steinfeld (Autor)