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anni_anushka

Posted on 20.11.2022

Ein aufwühlender Roman über die Diskriminierung der Sámi Elsa ist Sámi und 9 Jahre alt, als sie den Mord an ihrem Rentier beobachtet. Völlig verängstigt schweigt sie über das, was sie gesehen hat. So wird dieser Vorfall zu den anderen Anzeigen gelegt und von der Polizei ignoriert. Das Rentier gilt ab diesem Zeitpunkt als gestohlen. Jahrelang lebt Elsa in Angst und beobachtet auch bei den erwachsenen Sámi Angst und Frustration, ob der wiederholten Diskriminierungen durch die schwedischen Mitmenschen und die staatlichen Einrichtungen. Als sie älter wird und die Rentierherden immer stärker bedroht sind, findet Elsa den Mut, ihre Stimme zu erheben. Doch damit bringt sie nicht nur die schwedischen Dorfbewohner und -bewohnerinnen gegen sich auf ... Dieses Buch hat mich absolut gefesselt und unfassbar wütend gemacht. Es rückt ein Thema ins Zentrum, dessen wir uns in Zentraleuropa gar nicht so bewusst sind. Wir kennen die Geschichten der First Nations beispielsweise in Kanada aus der Presse. Aber dass auch in Europa indigene Urvölker sehr lange unterdrückt wurden und immer noch werden ist vielen sicherlich nicht bewusst. Eindringlich erzählt die Geschichte vom rauen Leben der Sámi, die vor allem von der Rentierzucht leben. Dass die Herden besonderem Schutz unterliegen und das auch mit Einschränkungen für die anderen Dorfbewohner:innen einhergeht, bringt diese gegen die Rentierherden auf. Auch Regelungen, dass die Sámi für Verluste entschädigt werden, schüren Neid und Missgunst. Die negative Stimmung ist in diesem Buch an vielen Stellen nahezu mit Händen greifbar. Elsas Sprachlosigkeit ist so eingängig beschrieben wie die ohnmächtige Wut der restlichen Familie, dass diese Wut auf die Ungerechtigkeiten, die der Familie durch andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft widerfahren, ansteckend ist. Auch wird deutlich, wie sehr vor allem die jungen Generationen unter der Diskriminierung leiden, Depressionen und Alkoholsucht sind weit verbreitet. Die Untätigkeit der Polizei erzeugt ein tiefgreifendes Gefühl von Hilflosigkeit. Und neben der Gefahr durch die Jagd auf die Rentiere erschwert auch der Klimawandel zunehmend das Leben der Rentierhalter:innen. Dies wird nicht vordergründig und moralisierend behandelt, sondern zeigt sich vor allem in den Sorgen der Alten und den Auswirkungen auf die Tiere selbst. Auch wenn mir das Cover mir sehr gut gefällt, finde ich, dass sowohl Cover als auch Titel mitunter falsche Erwartungen wecken. Die Natur wirkt romantisch, der Titel klingt nach einem Wohlfühlbuch. Doch das ist es wahrlich nicht und es hebt die Stimmung an dunklen Wintertagen eher wenig. Die Grundstimmung ist eher schwermütig und melancholisch. Die Natur- und Landschaftsbeschreibungen sind gut gelungen und schaffen eine Atmosphäre von verschneiter Einöde in einem Dorf auf dem schwedischen Land. Dennoch wären der Originaltitel ("Gestohlen") und das Originalcover, die beide auch für die englischsprachige Ausgabe übernommen wurden, passender gewesen. Dieser Roman widmet sich einem wichtigen Thema und er vermittelt viel über die idigene Kultur der Sámi. Die Autorin pflegt gekonnt die Sitten und Bräuche der Sámi in die Geschichte ein und zeigt auf, dass auch innerhalb der Gemeinschaft Zerrissenheit herrscht zwischen traditionelleren Gruppen und denen, die der Modernität gern Rechnung tragen würden. Ich finde diesen Roman sehr gelungen, sehr empfehlenswert und eine absolute Bereicherung für den eigenen Horizont.

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